Von Einsteins spezieller Relativitätstheorie hat vermutlich jeder hier auf den scienceblogs schon gehört. Aber “doppelt-spezielle Relativität”? Ist das sowas wie die Doppelrahmstufe der Theorie? Einstein hoch zwei? Die doppelt-spezielle Relativitätstheorie (kurz DSR genannt) ist eine relativ neue Idee der Physiker – es gibt sie seit etwa 10 Jahren. Eigentlich ist das erstaunlich, denn die Grundidee der Theorie ist “relativ” simpel.
Warum sollte man an der Speziellen Relativitätstheorie drehen wollen?
Dass es überhaupt nötig sein könnte, die spezielle Relativitätstheorie (SRT) zu modifizieren, hat mich ziemlich überrascht: Anders als die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) ist die SRT extrem gut verstanden, hat weder Probleme mit schwarzen Löchern noch mit der Quantenmechanik. Die Verbindung von Quantenmechanik mit SRT hat zur Quantenelektrodynamik geführt, die das Verhalten von Elektronen, Licht und elektromagnetischen Feldern mit extremer Genauigkeit beschreibt. Andere Quantentheorien, wie die Quantenchromodynamik oder die elektroschwache Theorie, basieren ebenfalls auf der SRT. Die SRT zählt also zu den best-geprüften Theorien überhaupt (auch wenn es nach wie vor “Einstein-Kritiker” gibt.)
Zu Problemen kommt es allerdings, wenn man über den Zusammenhang zwischen Quantenmechanik und Gravitation nachdenkt, die Quantengravitation. Dafür gibt es noch keine gute Theorie, sondern nur einige Ideen. Über eins ist man sich allerdings weitgehend einig: Die Schwerkraft wird quantenmechanisch dann relevant, wenn wir uns bei extrem kurzen Längen befinden, nämlich der so genannten Planck-Länge von 10-35m. (Zum Vergleich: Das ist 20 Größenordnungen kleiner als der Durchmesser des Protons. Das Verhältnis der Planck-Länge zum Proton-Durchmesser entspricht so etwa dem Atomradius im Verhältnis zum zehnfachen Abstand Erde-Mond. Wir reden hier also über wirklich kleine Längen.)
Das liegt einfach daran, dass man diese Länge aus den Naturkonstanten der beteiligten Theorien, also der Lichtgeschwindigkeit c, der Gravitationskonstante G und dem Planckschen Wirkungsquant h bilden kann. (Eine Übersicht über diese Größen findet man sehr schön bei Wikipedia ) Unterhalb der Planck-Länge sollten deshalb quantenmechanische Effekte die Schwerkraft stark beeinflussen, und da Schwerkraft nichts ist als die Krümmung der Raumzeit, ist die Struktur der Raumzeit unterhalb dieser Länge höchstwahrscheinlich nicht mehr mit der vergleichbar, die wir kennen.
Und wo steckt nun das Problem mit der speziellen Relativität? Nach der SRT hängt es ja von der Geschwindigkeit eines Beobachters ab, wie er Längen und Zeiten wahrnimmt – das ist die berühmte Längenkontraktion und Zeitdilatation. Und hier tut sich ein Problem auf. Nehmen wir an, ich beobachte einen kleinen Würfel mit einer Kantenlänge von vielleicht 10 Planck-Längen mit meinem neuen Super-Raumzeit-Mikroskop. Da ich noch deutlich oberhalb der Planck-Länge bin, detektiert mein Mikroskop nicht besonders viel von den Quanteneigenschaften der Raumzeit. Wenn jetzt allerdings Perry Rhodan mit seiner nagelneuen Spacejet mit 99,5% der Lichtgeschwindigkeit über meinen Kopf hinwegbrettert (hoffentlich mit aktiviertem Prallschirm) und mein Experiment beobachtet, dann schrumpft für ihn mein Würfel in einer Richtung auf ein Zehntel seiner Länge zusammen und hat deswegen die Plack-Länge. Er würde also erwarten, dass mein Mikroskop deutliche Quanteneffekte detektiert – wenn er selber so ein Gerät hat, würde er sie selbst messen können. Da es sich um dasselbe Raumzeit-Element hat, das wir beide beobachten, gibt es einen klaren Widerspruch – nur einer von uns kann Recht haben, entweder das Volumen hat Raumzeit-Quanteneffekte oder eben nicht.
Die meisten Physiker, die sich mit der Quantengravitation beschäftigen, nehmen, soweit ich weiß, an, dass auf dieser Längenskala die SRT ihre Gültigkeit verliert. Dies ist allerdings nicht zwingend notwendig. Stattdessen kann man die SRT modifizieren.
Die Grundidee der Doppel-Speziellen Relativitätstheorie
Schauen wir uns einmal die Grundannahmen der SRT an. Davon gibt es nur zwei:
1. Die Gesetze der Physik sind für alle Beobachter, die sich mit konstanter Geschwindigkeit zueinander bewegen, dieselben.
2. Die Lichtgeschwindigkeit ist für all diese Beobachter konstant.
Aus diesen beiden Annahmen kann man dann die Längenkontraktion und Zeitdilatation herleiten (und es gibt gefühlte 100000 populärwissenschaftliche Bücher, in denen das erklärt wird, deshalb spare ich mir das hier.)
Nach dem kleinen Experiment mit dem Würfel oben ist jetzt ja eigentlich klar, was man tun muss: Man baut eine dritte Annahme ein:
3. Die Planck-Länge ist für alle Beobachter dieselbe.
Aber leider funktioniert das so nicht, denn wenn wir aus 1. und 2. die Längenkontraktion herleiten können, dann können wir nicht noch einfach eine Länge hinzupacken, die sich plötzlich nicht kontrahiert, “das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal – das geht nun wirklich nicht!”
Irgendwie müssen wir uns rausmogeln, so dass wir sowohl die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit behalten können (denn die ist experimentell extrem gut abgesichert), aber trotzdem die Planck-Länge für alle Beobachter gleich haben können (vornehm sagt man, sie soll “invariant” sein). Bis vor etwa 10 Jahren dachte wohl niemand, dass das geht, aber Giovanni Amelino-Camelia fand einen einfachen, aber wirkungsvollen Trick: Vielleicht ist die Lichtgeschwindigkeit gar nicht wirklich konstant, sondern hängt von der Wellenlänge des Lichts ab.
“Halt!”, ruft jeder Astronom, “das kann nicht sein. Denn dann müssten wir ja zum Beispiel von einer Supernova-Explosion, die in vielen Millionen Lichtjahren Entfernung stattfindet, erst das rote und dann das blaue Licht sehen (oder umgekehrt). Tun wir aber nicht, das Licht kommt immer schön gleichzeitig hier an.”
Aber jetzt kommt ins Spiel, dass die Planck-Länge so unglaublich klein ist. Wir modifizieren die 2. Annahme der SRT wie folgt:
2′. Die Lichtgeschwindigkeit ist für alle Beobachter dieselbe, solange die Wellenlänge des Lichts groß ist gegen die Planck-Länge. (Mathematisch sauberer gesagt: Die Lichtgeschwindigkeit ist im Grenzfall Wellenlänge/Planck-Länge gegen unendlich für alle Beobachter dieselbe.)
Mit den Annahmen 2′ und 3 haben wir jetzt zwei Größen, die für alle Beobachter gleich sind, nämlich die Planck-Länge und die Lichtgeschwindigkeit für sehr lange Wellenlängen. Deshalb ist unsere neue Relativitätstheorie “doppelt-speziell”.
Klappt das wirklich?
Jetzt heißt es “nur noch”, diese Axiome sinnvoll durchzurechnen und zu sehen, ob dabei nicht doch noch innere Widersprüche auftreten oder ob sie Vorhersagen machen, die im Widerspruch zum Experiment stehen.
Als erstes müssen wir das Argument des Astronomen oben untersuchen: Wie hängt denn nun die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich von der Wellenlänge ab? Dies ist in der Theorie nicht eindeutig festgelegt, so dass es nicht wirklich eine einzige DSR gibt, sondern einen ganzen Haufen von DSRs, die sich in den Details dieser Abhängigkeit unterscheiden.
Im Prinzip ist aber klar, dass die Abhängigkeit mit dem Verhältnis der Wellenlänge des Lichts zur Planck-Länge zu tun haben muss, also hat die Gleichung die Form
v=c(1- Lp / λ)
Dabei ist c die Lichtgeschwindigkeit bei unendlich großer Wellenlänge, Lp die Planck-Länge und λ die Wellenlänge des Lichts. Etwaige Vorfaktoren (wie 2 π oder ähnliches), die sich aus den Details einer genauen Theorie ergeben können, ignorieren wir einfach.
Für sichtbares Licht ist die Wellenlänge im Bereich von etwa 400-800 Nanometern, es ergibt sich also (bei 500nm) so etwa
v= c 0.999 999 999 999 999 999 999 999 999 997
wobei ich hoffe, dass ich mich mit den Neunen nicht verzählt habe.
Davon merken wir sicherlich nie etwas. Allerdings kann man ausrechnen, dass auch kleine Abweichungen der Geschwindigkeit bedeutend werden können, wenn sie über astronomisch lange Zeiträume wirken. Bei Gamma-Strahlen-Blitzen, die die Erde aus Milliarden Lichtjahren Entfernung treffen, müssten tatsächlich die höher-energetischen Photonen etwa eine Hunderstel Sekunde früher auf der Erde ankommen als die nieder-energetischen. Da die Blitze selbst nur wenige Tausendstel Sekunde dauern, könnte man diesen Unterschied mit hinreichend feinen Detektoren tatsächlich bemerken. Am Fermi-Gamma-Strahlen-Teleskop versucht man, diesen Effekt zu finden.
Quelle: NASA/Goddard Space Flight Center Conceptual Image Lab
Er wäre kein eindeutiger Beweis für die Gültigkeit der DSR, da auch andere Theorien eine Wellenlängenabhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit vorhersagen, aber jede Abweichung von der handelsüblichen speziellen Relativitätstheorie wäre natürlich eine Sensation.
Was folgt sonst noch aus der DSR?
Das hängt teilweise davon ab, welche Spielart man betrachtet. Wie oben schon erwähnt, ist ja die genaue Abhängigkeit der Lichtgeschwindigkeit von der Wellenlänge nicht festgelegt. Es gibt auch Spielarten, in denen unsere Annahme 3, dass es eine für alle identische Planck-Länge gibt, durch ähnliche Annahmen, wie zum Beispiel eine für alle gleiche Planck-Masse ersetzt wird.
Für ein einfaches “Spielzeug”-Modell der DSR ergeben sich beispielsweise Konsequenzen nicht nur für Licht, sondern auch für massive Teilchen:
In der gewöhnlichen SRT gilt folgender Zusammenhang zwischen Energie E, Ruhemasse m und Impuls p eines Teilchens:
E2 = c4 m2 + c2 p2
Für p=0 ergibt sich daraus das bekannte E=mc2, für kleine Impulse (also für Geschwindigkeiten klein gegen die Lichtgeschwindigkeit) bekommt man E=mc2 + p2/2m, also die bekannte Formel für die kinetische Energie.
Diese Beziehung wird jetzt modifiziert. Auch hier gibt es wieder verschiedene Varianten, die übersichtlichste habe ich in einer sehr schönen Präsentation zum Thema gefunden
E2 = c4 m2 (1 – E/Ep)2 + c2 p2
Dabei ist jetzt Ep die Planck-Energie mit einem Wert von 1,95 109 Joule.
Mit etwas Rechnerei bekommt man aus dieser Formel heraus, dass die Energie eines Teilchens nie größer werden kann als die Planck-Energie Ep.
Theoretische Physiker bekommen jetzt vermutlich Herzklopfen vor Aufregung – wenn nämlich die Energie eines Teilchens einen Grenzwert nicht überschreiten kann, dann entfällt damit das hässliche Problem der Renormierung: Vereinigt man SRT und Quantenmechanik zur Quantenelektrodynamik oder anderen Quantentheorien, so ergeben sich ständig irgendwelche Größen als Unendlich. Zwar kann man diese Unendlichkeiten trickreich unter den Teppich kehren (das nennt man “Renormierung”) und doch sinnvolle Ergebnisse errechnen, aber mathematisch sauber ist das nicht. Sind aber Teilchenenergien nach oben begrenzt, dann fallen die Unendlichkeiten womöglich weg und die Theorien werden mathematisch einwandfrei. Bisher ist, soweit ich weiß, noch nicht wirklich sauber gezeigt worden, dass dies wirklich klappt, aber die Möglichkeit ist auf jeden Fall spannend.
Wer kein theoretischer Physiker ist und deshalb vielleicht eher an Gegenstände der realen Welt denkt, der dürfte aber spätestens jetzt seinen Kopf schütteln – die Energie eines Teilchens kann nie größer werden als die Planck-Energie? 109J klingt ja eine ganze Menge, aber es gibt ja auch ganz schön große Objekte auf der Welt – ein fahrender ICE hat garantiert eine höhere kinetische Energie als 109J, von Objekten wie Monden oder Sonnen ganz zu schweigen.
Dieses kleine Problemchen wurde unter dem Namen “soccerball problem” (Fussball-Problem, weil es in manchen Varianten der Theorie schon bei Fussbällen auftritt, nicht erst bei ICEs) bekannt und sorgte zumindest bei einigen Theoretikern für Kopfzerbrechen. Es konnte jedoch zum Glück gezeigt werden, dass man die Theorie so manipulieren kann, dass die Energiegrenze pro Planck-Würfel gilt. Ein Elementarteilchen, das in einem Planck-Würfel sitzt, kann keine Energie größer als Ep haben, aber wenn mehrere Teilchen in einem Würfel mit doppelter Planck-Kantenlänge sitzen, dann dürfen sie zusammen die doppelte Energie haben, usw. Dieses Problem lässt sich also wohl lösen.
Ein anderer interessanter Aspekt der DSR ist der, dass sie anscheinend mathematisch aus einigen Modellen der Quantengravitation abgeleitet werden kann; jedenfalls in Spielzeug-Modellen, in denen der Raum nur zwei Dimensionen hat. Ich muss allerdings zugeben, dass ich diesen Teil der Veröffentlichungen nicht wirklich verstanden habe – da wimmelt es von κ-Hopf-Poincare-Algebren, deSitter-Räumen und Casimir-Operatoren, das mir ein wenig seltsam im Kopf wurde.
Und nun?
Insgesamt kann man sagen, dass die Idee der DSR auf jeden Fall spannend ist. Offen ist noch, ob man eine komplette Quantentheorie in diesem Rahmen überhaupt durchgängig konsistent formulieren kann und wie genau diese dann aussehen wird. Momentan ist das Ganze, meinem Eindruck nach, eher ein Randgebiet der theoretischen Physik – google scholar gibt einem auf die Suche nach “doubly special relativity ” nur 590 Treffer, davon 308 nach 2005 (im Vergleich zu 17300 Treffern für “string theory” und 2470 für “loop quantum gravity”, ebenfalls jeweils nach 2005).
Falls allerdings das Fermi-Teleskop tatsächlich herausfindet, dass die Lichtgeschwindigkeit wellenlängenabhängig ist, dann wird es auf diesem Gebiet sicher ziemlich rund gehen. Ich fand das Thema vor allem deshalb spannend, weil es eine einfache Grundidee hat (was wird aus der Planck-Länge bei Längenkontraktion?) und weil ich noch nie zuvor etwas davon gehört hatte.
PS:
Am Namen Doppelt-Spezielle Relativitätstheorie sieht man übrigens, dass es Physiker mit der sauberen Unterscheidung der Begriffe “Hypothese” und “Theorie” selbst nicht so genau nehmen – die DSR ist keine Theorie im strengen Sinne, denn sie ist noch in keiner Weise experimentell geprüft – der Name ist einfach entstanden, indem man ein “doppelt” vor SRT gehängt hat. Aber wir Physiker sind ja dafür bekannt, dass wir mit Worten eher schlampig umgehen (“Wirkung”, “Farben” und “Geschmäcker” von Quarks etc.), pingelig werden wir immer erst, wenn’s um Formeln und um die Zusammenhänge zwischen den Begriffen geht. Darüber könnte man auch mal was schreiben…
Auf die DSR aufmerksam geworden bin ich durch Lee Smolins Buch “Die Zukunft der Physik”, in dem er die Theorie kurz vorstellt, an der er auch selbst mitgearbeitet hat.
Die wichtigsten Quellen, die ich benutzt habe, waren – neben Smolins Buch –
Giovanni AMELINO-CAMELIA
Relativity in space-times with short-distance structure governed by an observer-independent (Planckian) length scale
arXiv:gr-qc/0012051v2
DOUBLY-SPECIAL RELATIVITY: FIRST RESULTS AND KEY OPEN PROBLEMS
GIOVANNI AMELINO-CAMELIA
arXiv:gr-qc/0210063v1
Physics of Deformed Special Relativity: Relativity Principle revisited
Florian Girelli, Etera R. Livine
arXiv:gr-qc/0412079v1
Doubly-Special Relativity: Facts, Myths and Some Key Open Issues
Giovanni AMELINO-CAMELIA1
arXiv:gr-qc/1003.3942v1
Nachtrag:
Jörg hat über die ersten Ergebnisse der Gammastrahl-Messungen von Fermi
schon letztes Jahr gebloggt, aber die Sensitivität reicht wohl noch nicht ganz aus, um die DSR auszuschließen.
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