Der Quantenmechanik wird ja oft vorgeworfen, dass sie, anders als die klassische Physik, sehr unanschaulich sei. Tatsächlich aber sind auch manche Größen in der klassischen Physik nicht so ohne weiteres anschaulich zu verstehen. In Teil 1 habe ich über “Energie” gesprochen. Ein anderes Beispiel ist das “Prinzip der kleinsten Wirkung” in der klassischen Mechanik.
Man versteht das Prinzip der kleinsten Wirkung (leicht vereinfacht) am besten an einem Beispiel: Ich jongliere mit einen Ball, so dass er zur Zeit t=0 in meiner linken Hand ist und ich ihn eine Sekunde darauf in meiner rechten Hand wieder auffangen kann. Um herauszufinden, welchen Weg der Ball genommen hat, sieht man alle denkbaren Wege an, bei denen der Ball bei t=0s in der linken und bei t=1s in der rechten Hand ist – nicht nur die Parabelbahn, die der Ball tatsächlich genommen hat, sondern auch einen Weg, bei der er dreimal um die Deckenlampe kreist, plötzlich beschleunigt, zum Fenster hinaussaust und zur offenen Terassentür wieder hereinkommt. Dabei ist “Weg” so zu verstehen, dass man nicht nur ansieht, wo sich der Ball gerade befindet, sondern auch, wann er sich an welchem Ort befindet.
Technische Randbemerkung: Mathematisch schaut man also alle Funktionen an, die zu jeder Zeit sagen, wo der Ball gerade ist, mit der Einschränkung, dass die Funktionen bei t=0 und t=1 festliegen und keine Sprünge machen, weil der Ball nicht an einem Ort verschwinden und woanders wieder auftauchen kann – es sei denn, Chief O’Brien hat mal wieder die Finger nicht von den Transporterkontrollen genommen…
Für jeden dieser Wege berechnet man eine Größe namens “Wirkung”. Der Weg, den der Ball tatsächlich nimmt, ist derjenige, bei dem die Wirkung am kleinsten ist.
Wie berechnet man nun die Wirkung? Dazu muss man zu jedem Zeitpunkt die Differenz zwischen der kinetischen (also der Bewegungs-) Energie und der Energie im Schwerefeld (oder allgemein der potentiellen Energie) ermitteln und in einen Graph einzeichnen. Wichtig ist hier, dass es die Differenz der beiden Energien ist, nicht ihre Summe – die wäre einfach gleich der Gesamtenergie, das wäre noch etwas anschaulicher (soweit die Energie selbst anschaulich ist…). Diese Größe schreibt man also als Funktion der Zeit auf und nennt das die “Lagrange-Funktion”. Zu jedem Weg gehört also eine Lagrange-Funktion.
Die Wirkung ist dann die Fläche unter der Kurve der Lagrange-Funktion (mathematisch also das Integral). Die Wirkung hat die Einheit Joule-Sekunde, weil sie die Fläche unter einer Kurve ist, bei der eine Energie gegen die Zeit aufgetagen wird. Für alle unendlich vielen Wege, die der Ball nehmen kann, berechnet man also dieses Integral (und weil man meist nicht unendlich viel Zeit hat, braucht man ein spezielles mathematisches Werkzeug namens “Variationsrechnung”, mit dem Physikstudenten irgendwann in den ersten Semestern gequält werden.) und sucht dann dasjenige aus, das am kleinsten ist. Damit hat man den Weg gefunden, den der Ball tatsächlich nimmt.
So lässt sich also der Weg des Balles berechnen. Anschaulich bedeutet die Wirkung damit – äh, mal überlegen… Moment … hmmm, – gar nichts? Es ist einfach nur eine Rechenvorschrift. Noch dazu eine ziemlich seltsame, weil wir, um den Weg des Balles zu berechnen, Anfangs- und Zielpunkt vorgeben müssen, wir müssen also schon wissen, wo der Ball am Ende landen soll, damit wir seinen Weg richtig berechnen können.
Die Physiker des 19. Jahrhunderts hat das nicht weiter gestört. Sie konnten nämlich beweisen, dass das Prinzip der kleinsten Wirkung mathematisch dasselbe aussagt wie die guten alten newtonschen Axiome, die wir alle mal in der Schule lernen mussten, und die sind mit Begriffen wie Kraft und Beschleunigung ja einigermaßen anschaulich.
Hätte man seinerzeit nur das Prinzip der kleinsten Wirkung gekannt, dann hätte man sich vermutlich auch damals schon über seine Interpretation Gedanken gemacht und sich gefragt, ob es nicht eine anschauliche Bedeutung besitzt. So aber hat man es einfach als “mathematischen Trick” angesehen – eine andere, ungewöhnliche, aber manchmal nützliche Umformulierung der Newtonschen Axiome. (Es gibt einige wenige Fälle, wo man mit dem Prinzip der kleinsten Wirkung Probleme tatsächlich schneller lösen kann als mit den anderen Rechentechniken der Mechanik.)
Das Prinzip ist aber auf jeden Fall ein schönes Beispiel dafür, dass es auch in der klassischen Physik Rechenvorschriften und Formalismen gibt, die die Welt korrekt beschreiben, aber keine anschauliche Interpretation haben.
Tatsächlich hat die Geschichte noch eine interessante Wendung, denn das Prinzip der kleinsten Wirkung hat eine direkte Interpretation, wenn man zur Quantenmechanik übergeht, aber dazu schreibe ich ein andermal etwas.
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