Der Quantenmechanik wird ja oft vorgeworfen, dass sie, anders als die klassische Physik, sehr unanschaulich sei. Tatsächlich aber sind auch manche Größen in der klassischen Physik nicht so ohne weiteres anschaulich zu verstehen. In Teil 1 habe ich über “Energie” gesprochen, in Teil 2 über das Prinzip der kleinsten Wirkung. Diesmal soll es um Felder gehen.
Grundlage der klassischen Elektrodynamik sind die vier Maxwell-Gleichungen. Die Maxwell-Gleichungen sind Feldgleichungen, d.h. sie arbeiten mit Größen, die an jedem Punkt des Raumes einen Wert haben. Diese Größen sind das elektrische Feld E und das Magnetfeld B. E und B sind also Funktionen des Ortes: E=E(x), B=B(x). Beide sind vektorielle Größen, d.h. sie sind durch eine Stärke und eine Richtung gekennzeichnet. Zur Veranschaulichung hier das Bild einer elektromagnetischen Welle (aus Wikipedia):
Anschaulich kann man sich also vorstellen, dass an jedem Punkt des Raumes insgesamt sechs Zahlen festgelegt sind, nämlich die drei Komponenten des elektrischen und die drei des magnetischen Feldes. (Tatsächlich reichen vier Zahlen, weil es Zusammenhänge zwischen den beiden Feldern gibt – beispielsweise stehen sie senkrecht aufeinander.) Mit dem Wikipedia-Bild kann man sich das eigentlich ganz gut vorstellen, oder?
Schön wäre es natürlich, wir könnten das elektrische (oder magnetische) Feld auch messen – es soll ja eine richtige, physikalische Größe sein. Da wird die Sache allerdings schon knifflig: Das Feld selbst können wir nicht direkt messen, messen können wir nur seinen Einfluss auf eine elektrische Ladung: Ein Feld der Stärke E übt auf eine Ladung der Stärke q die Kraft F=Eq aus. (Fettdruck kennzeichnet, dass wir es mit Vektoren zu tun haben.) Allerdings ist dabei Vorsicht geboten, denn die Ladung q erzeugt ihrerseits ein elektrisches Feld und kann so das Feld, das wir eigentlich messen wollen, verändern (beispielsweise, wenn eine Metallplatte in der Nähe ist, auf der durch die Ladung q Ladungen bewegt werden). Deshalb lautet die Vorschrift, dass man den Grenzfall einer sehr kleinen Ladung betrachten soll – theoretisch eine saubere Konstruktion, aber für die Anschauung schon etwas schwierig: Um ein elektrisches Feld zu messen, betrachten wir die unendlich kleine Kraft, die es auf eine unendlich kleine Ladung ausübt…
Hinzu kommt, dass Ladungen (in der klassischen Physik) meist nicht wirklich punktförmig sind, sondern eine gewisse Größe haben – wir können also das elektrische Feld nicht genau am Ort x messen, sondern messen nur den Mittelwert des Feldes über den Bereich, wo die Ladung sitzt. Auch hier müssen wir uns wieder vorstellen, dass die Ladung unendlich winzig ist – diesmal räumlich betrachtet.
Hierzu gibt es auch ein schönes Zitat von Wolfgang Pauli, der mit diesem Konzept (allerdings etwas anders gelagerte) Probleme hatte:
Ich will hier nur erwähnen, dass der klassische Feldbegriff durch Abstraktion von den Bedingungen, unter denen das Feld gemessen werden kann, entsteht. Dadurch wird eine Dualität zwischen dem Feld und seinen Quellen eingeführt, die unseres Erachtens noch ungelöste Probleme in sich enthält.
Aber das sind noch nicht alle Probleme, die sich für die Anschauung ergeben. Dazu machen wir die Sache noch etwas einfacher – bei der eingezeichneten Welle zeigt das elektrische Feld immer nur in vertikaler Richtung, und die Welle bewegt sich entlang einer Geraden. Für das elektrische Feld brauchen wir also in diesem Fall nur eine einzige Zahl für jede Position auf der Linie, auf der die Welle liegt.
Aber was heißt eigentlich “nur”? In der klassischen Physik ist der Raum auf jeden Fall kontinuierlich, d.h. es gibt unendlich viele Raumpunkte zwischen zwei gegebenen Punkte. An jedem dieser unendlich (mathematisch sogar überabzählbar unendlich) vielen Punkte muss der Wert des Feldes festgelegt sein. Theoretisch ist beispielsweise die Wellenlänge nicht nach unten begrenzt, und eine Welle könnte unglaublich dicht “gepackt” sein wie in diesem Bild:
Der Feldwert selbst ist dabei eine reelle Zahl – also eine Zahl, die unendlich viele, sich (bis auf die Ausnahme rationaler Zahlen) nicht wiederholende Ziffern als Nachkommastellen hat. Ganz schön viele Unendlichkeiten…
Und betrachtet man den zeitlichen Verlauf, so wird die Sache nicht einfacher. Die Maxwell-Gleichungen sagen, dass eine Änderung des elektrischen Feldes ein Magnetfeld erzeugt (und umgekehrt). Die Änderung des elektrischen Feldes wird dabei als Ableitung formuliert – um sie zu berechnen, muss man also sehen, wie sich in einem unendlich kurzen Zeitraum das Feld ändert – das tut es natürlich dann auch unendlich wenig, sozusagen “ganz hinten” in der unendlichen Ziffernfolge.
Betrachtet man die Prozesse der Natur als informationsverarbeitende Prozesse (das ist ja heutzutage ganz “in”), kann einem schon ein wenig schwindlig werden: An unendlich vielen Raumpunkten muss zu jedem von unendlich vielen, dicht sitzenden Zeitpunkten die unendlich kleine Änderung einer Zahl mit unendlich vielen Ziffern berechnet werden, um herauszufinden, was einen unendlich kurzen Moment danach passiert. Da braucht die Natur wohl einen Intel-Infinity-Core-Prozessor, oder besser gleich unendlich viele…
Für die Physik selbst ist das natürlich kein Problem – mit den mathematischen Mitteln der Integral- und Differentialrechnung lassen sich all diese Unendlichkeiten (sogar einigermaßen bequem) in den Griff bekommen und man erhält sinnvolle Ergebnisse, die exzellent mit der Realität übereinstimmen. Die Maxwell-Gleichungen sind also (innerhalb der Grenzen der klassischen Physik) eine hervorragende Beschreibung der Natur.
Aber zwei Dinge können einem doch Kopfzerbrechen bereiten:
1. Besonders anschaulich ist das nicht wirklich. Durch hinreichend langes Studium der Mathematik gewöhnt man sich zwar an das Hantieren mit diesen Unendlichkeiten und bekommt auch ein gutes Gefühl dafür, wie sich Felder verhalten müssen, doch meist beschränkt man sich auf Fälle, in denen die Felder einigermaßen “glatt” sind. Man stellt sich vielleicht – wie im Bild der Welle oben – den Raum mit lauter kleinen Pfeilen angefüllt vor und behält im Hinterkopf, dass diese Pfeile eigentlich unendlich dicht liegen. Für die üblichen Anwendungsfälle reicht das, weil das elektromagnetische Feld meist einigermaßen “glatt” ist, und insofern kann man für diese Fälle auch eine ziemlich gute Anschauung entwickeln – wenn Interesse besteht, kann ich gern mal eine “anschauliche” Übersetzung der Maxwell-Gleichungen posten. Im allgemeinen Fall eines extrem stark oszillierenden Feldes (in der klassischen Physik könnte die Wellenlänge ja beliebig klein werden), wird das aber schwierig.
2. Es mag einen schon ein gewisses Unbehagen beschleichen bei dem Gedanken an all diese Unendlichkeiten in einem beliebig keinen Raum. In einigen Quanten-Theorien der Raumzeit besteht der Raum nur noch aus endlich vielen Punkten (die aber so dicht sitzen, dass wir davon nichts merken), doch auch hier muss an jedem dieser Punkte immer noch eine reelle Zahl mit all ihrer Unendlichkeit “gespeichert” werden. Kann die Natur wirklich so viele Unendlichkeiten beinhalten? Tatsächlich gibt es Ideen, dass die Natur nicht durch unendlich viele reelle Zahlen beschrieben werden darf, sondern nur durch abzählbar viele. Die meisten Physiker halten das sicher für Unsinn (besonders attraktiv finde ich die Idee auch nicht), aber ein wenig seltsam ist das alles schon…
Nachbemerkung Ich lasse im Moment noch offen, was genau ich unter “anschaulich” verstehe – wie die Diskussionen zum ersten Teil zeigen, hat da jeder seine eigenen Vorstellungen. ich hoffe, dass die Unanschaulichkeit der gebrachten Beispiele halbwegs konsensfähig ist. Ideen, was “Anschauung” eigentlich sein könnte, folgen demnächst.
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