Die Aufgabe der Physik besteht nach gängiger Auffassung darin, die (unbelebte) Welt zu erklären, also zu erklären, warum etwas geschieht. Die Physik soll die Ursachen der Phänomene der Natur finden. Was genau bedeutet das? Was kann die Physik und was nicht?
Die Frage nach dem “Warum” ist natürlich nicht auf die Physik beschränkt. Auch im Alltag stellen wir “Warum”-Fragen, wenn wir uns für die Ursachen von Phänomenen interessieren: Nehmen wir an, ich stoße gegen den Tisch, und ein Glas kippt um. Warum das Glas umgekippt ist, ist leicht zu erklären: Bevor ich gegen den Tisch stieß, stand es ruhig da und nach allem, was wir über die Welt wissen, tendieren ruhende Gläser dazu, weiter zu ruhen. Das Glas kippte um, als ich gegen den Tisch stieß, so dass mein Gegenstoßen als mögliche Ursache in Betracht gezogen werden muss.
Die zeitliche Koinzidenz zwischen meinem Gegen-den-Tisch-Stoßen und dem Umkippen des Glases allein reicht aber natürlich nicht aus, um das eine als Ursache des anderen zu erkennen: Während ich gegen den Tisch stieß, habe ich vielleicht auch ausgeatmet – könnte also nicht auch das die Ursache des umkippenden Glases sein?
Die Verwechslung von Korrelation (also gleichzeitigem Auftreten zweier Ereignisse) und Kausalität kommt ziemlich häufig vor. Ein absurdes Beispiel ist das Folgende, aus einem Interview mit einem deutschen Politiker in der ZEIT (ist schon einige Jahre her), dessen Namen ich aus Gründen der Diskretion lieber verschweige:
“Die Wichtigkeit der Musikerziehung kann daran ersehen werden, dass eine Untersuchung in London ergab, dass in dem Stadtteil mit der niedrigsten Kriminalitätsrate das höchste Musikangebot vorliegt
Natürlich ist ziemlich offensichtlich, dass es nicht die Musikerziehung ist, die hier eine wichtige Rolle spielt, sondern dass Musikerziehung und geringe Kriminalität eine gemeinsame Ursache haben — in diesem Fall den hohen Lebensstandard in den jeweiligen Stadtteilen. Eine gemeinsame Ursache ist häufig der Grund, warum Korrelation mit Kausalität verwechselt wird, aber nicht unbedingt der einzige.
Kommen wir zurück zum umgestoßenen Glas: Was macht mich so sicher, dass es tatsächlich mein Stoßen gegen den Tisch war, das für das Umfallen des Glases verantwortlich war, und nicht mein Ausatmen (sooo schlecht ist mein Atem hoffentlich nicht…)? Die Antwort ist eigentlich klar: ich weiß, dass Gläser umfallen können, wenn man an ihre Unterlage stößt. Mit anderen Worten: Ich habe eine Theorie, die die Kausalbeziehung herstellt. Auch diese Theorie kann natürlich falsche Vorhersagen machen – vielleicht gab es ja genau in dem Moment, als ich gegen den Tisch stieß, ein Erdbeben, ohne das das Glas nicht umgefallen wäre. Um dies eindeutig festzustellen, brauche ich aber ebenfalls eine Theorie, in diesem Fall eine über Erdbeben.
An diesem Beispiel lässt sich eins erkennen: Um eindeutig zwischen bloßer Korrelation und echter Kausalität unterscheiden zu können, benötigen wir eine Theorie, die den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herstellt. Diese Theorie – und das ist hier entscheidend – geht über die beschriebenen Phänomene hinaus: Dass Gläser oft umfallen, wenn man an ihre Unterlage stößt, hat zum Beispiel etwas mit ihrer Geometrie und der Lage ihres Schwerpunktes zu tun. Diese zugrundeliegende intuitive Theorie haben wir während unserer Kindheit (wenn auch nicht mit diesen Begriffen) entwickelt und wenden sie im Alltag an.
Diese Überlegung hat eine entscheidende Konsequenz für die Physik: Nehmen wir an, wir hätten eine fundamentale Theorie, die alle Phänomene im Universum prinzipiell vorhersagen kann. Um die Sache konkret zu machen, können wir uns ein einfaches Universum vorstellen, in dem nichts gilt als das Newtonsche Gravitationsgesetz: Zwei Massen ziehen sich an mit einer Kraft, die durch ihren Abstand und ihre Massen bestimmt ist.
Beobachten wir jetzt Massen, die sich in diesem Universum bewegen, so können wir dank unseres Gesetzes diese Bewegung berechnen und vorhersagen. Wir würden vielleicht auch sagen: Masse A ist die Ursache für die Kraft, die Masse B erfährt. Allerdings haben wir für diese Ursache-Wirkungs-Beziehung nur eine Art von Hinweis, nämlich die Korrelation zwischen Masse A und der Kraft auf Masse B. Anders als beim umgestoßenen Weinglas gibt es (in unserem hypothetischen Universum) keine fundamentalere Theorie, aus der wir ableiten könnten, warum denn Masse A auf Masse B eine Kraft ausübt. Diese Frage bleibt offen.
Man könnte einwenden, dass es aber doch in unserem Universum gelungen ist, das Newtonsche Gravitationsgesetz auf ein fundamentaleres Gesetz zurückzuführen und so das “Warum” zu erklären. Das ist richtig, aber dadurch verlagert sich das Problem nur: Verwenden wir die allgemeine Relativitätstheorie, so sagen wir nun, dass Massen den Raum krümmen und dass das letztlich zur Anziehungskraft führt. Doch sofort stellt sich wieder die Frage: Warum ist das so? Warum krümmen Massen den Raum?
Ein anderes Beispiel sind die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik: Die Gleichungen erklären ihre Bestandteile nicht. Sie sagen nicht, warum die räumliche Änderung des Magnetfeldes und die zeitliche Änderung des elektrischen Feldes immer zusammen auftreten. Man kann sie verwenden, um Beobachtungen nachzuvollziehen – wenn ich beispielsweise sehe, dass eine Kompassnadel in der Nähe eines stromdurchflossenen Drahtes sich bewegt, dann kann ich das aus den Maxwellgleichungen heraus verstehen. Umgekehrt kann ich Vorhersagen machen: Wenn mir jemand sagt: Heute Mittag war das Feld so und so und elektrische Ladungen und Ströme waren so und so verteilt, dann kann ich ausrechnen (zumindest im Prinzip) wie das Feld heute abend aussehen muss.
Die Gleichungen sind übrigens auch nicht wirklich “kausal”: Verursacht eine zeitliche Änderung des Magnetfelds eine räumliche Änderung im elektrischen Feld? Oder verursachte umgekehrt die räumliche Änderung im elektrischen Feld eine zeitliche Änderung des Magnetfeldes? Die beiden treten immer zusammen auf – Ursache und Wirkung lassen sich nicht wirklich trennen. Wenn ich natürlich die Änderung des Magnetfeldes weiß, dann kann ich die Rotation des elektrischen Feldes ausrechnen, aber umgekehrt geht es genauso. Was “Ursache” und was “Wirkung” ist, ist also eine Frage dessen, was ich wissen will, die Gleichungen sagen dazu nichts.
Egal wie weit unsere Theorien fortschreiten, die fundamentalste Theorie in der Physik kann niemals kausal erklärend sein, sie kann keine “Warum”-Fragen beantworten. Egal wie sie aussieht, ihr Inhalt wird aus Gleichungen bestehen, die Beziehungen der Art “Wenn A – dann B” herstellen, doch die Ursache für diese Beziehung kann nicht Gegenstand der Theorie selbst sein.
Natürlich kann die Physik komplexe Phänomene auf einfacher zurückführen und so erklären. Die Umlaufbahn der Erde erklären wir mit dem Gravitationsgesetz, das wiederum führen auf die Allg. Relativitätstheorie zurück usw. Aber irgendwann ist mit dem Zurückführen Schluss, wenn wir nicht unendlich viele Theorien aufstellen wollen, irgendwann sind wir mit dem Erklären am Ende.
Letztendlich kann die Physik die Welt also nicht “erklären”, sondern nur beschreiben. Wenn ein Physiker trotzdem von einer “Erklärung” spricht, dann meint er damit genau diese Art der Beschreibung – das Zurückführen auf eine Theorie.
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