Wann ist eine Theorie “anschaulich”? Ist die klassische Physik anschaulicher als die Quantenmechanik? Was bedeutet “anschaulich” überhaupt?
Ich habe in den letzten Tagen einiges zu unanschaulichen Konzepten in der klassischen Physik geschrieben und dabei mit keinem Wort gesagt, was ich eigentlich unter “anschaulich” verstehe. Hier jetzt ein paar Gedanke dazu – sicher nicht besonders tiefsinnig, aber vielleicht zur Diskussion anregend.
Konzentrieren will ich mich auf die Anschaulichkeit von Theorien und ihren Konzepten (wie z.B. Energie oder Feld) – dass Phänomene anschaulicher sind, wenn sie mit unseren Alltagssinnen erfassbar sind, ist relativ offensichtlich und soll hier nebensächlich sein. Weiterhin möchte ich annehmen, dass es um eine physikalische Theorie geht, die selbst als gesichertes Wissen angenommen werden kann (mit den üblichen Einschränkungen).
Anmerkung: Ich verwende hier “Anschaulichkeit” als eine (vom Individuum abhängige) Eigenschaft einer Theorie und “Anschauung” als das, was bei uns tatsächlich im Geist “vorgeht”, wenn wir etwas “anschaulich” finden – Entschuldigung an alle Philosophen und doppelte Entschuldigung an I. Kant, aber so fiel mir das Schreiben einfach leichter.
Theorien
Eine physikalische Theorie besteht immer aus einem mathematischen Formalismus (z.B. die Maxwellgleichungen) und einer Vorschrift, wie die im Formalismus beschriebenen Größen in der Realität messbar gemacht werden können (allerdings nicht unbedingt alle), wobei Idealisierungen zulässig sind (da wir z.B. Felder nicht in beliebig kleinen Raumvolumina messen können).
Die Theorie ist dann gültig, wenn wir mit ihr die Realität korrekt beschreiben können, d.h. wenn wir mit Hilfe des Formalismus und der Messvorschrift eine Übereinstimmung zwischen Vorhersage und Beobachtung erzielen können.
Heinrich Hertz hat diese Beziehung zwischen Theorie und Realität (in heutzutage leicht angestaubt anmutendem Deutsch, aber sehr treffend) so ausgedrückt:
Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.
Dieses Zitat habe ich seit Jahren gesucht (hatte es nur noch vage im Kopf) und endlich hier gefunden.
Anmerkung: Über dieses relativ einfache Konzept von Theorien könnte man auch lange debattieren, aber da es mir hier um die Anschaulicheit geht, hoffe ich, dass dieses Bild für diesen Post einigermaßen konsensfähig ist.
Wann ist nun eine solche Theorie “anschaulich”? Klar ist sicherlich, dass dies kein objektiver Begriff sein kann. Ob eine Theorie “anschaulich” ist, ist individuell verschieden, und selbst eine einzelne Person kann dieselbe Theorie zunächst unanschaulich und dann anschaulich finden, man kann eine “Anschauung entwickeln”.
Naive Anschaulichkeit
Anschaulich ist eine Theorie auf jeden Fall dann, wenn sich die Entitäten der Theorie so verhalten wie die Gegenstände, die uns alltäglich umgeben. Deshalb spielen Chemiker gern mit Kalottenmodellen und deshalb malen wir Materialwissenschaftler gern Kugeln, wenn wir Atome veranschaulichen wollen (siehe mein Titelbild in der Kopfleiste des Blogs). Wenn wir die Kräfte zwischen Atomen veranschaulichen, dann malen wir kleine Federn zwischen die Atome – das ist absurd (wenn die Kugeln Atome sind, woraus sollen dann die Federn sein), aber es hilft der Anschauung. In der Thermodynamik stellen wir uns Atome auch als gern Kugeln vor, die wie Billardbälle herumsausen und miteinander kollidieren.
Warum sind diese Beschreibungen anschaulich? Sie sind es deshalb, weil wir alle ein gutes Verständnis davon haben, wie sich Billardbälle, Kugeln und Federn verhalten. Wir können ihr Verhalten vorhersagen, ohne dass wir lange nachdenken müssen – wenn zwei Billardkugeln sich treffen, fliegen sie wieder auseinander, wobei sie ihre Geschwindigkeiten ändern.
Wie gut wir tatsächlich darin sind, das Verhalten alltäglicher Objekte vorherzusagen, illustriert vielleicht diese kleine Geschichte:
In einer meiner Vorlesungen frage ich gern die Studis
“Wer von Ihnen kann eine gewöhnliche Differentialgleichung lösen?”
Typischerweise melden sich etwa 10-20%.
“Wer kann das im Kopf?”
Jetzt meldet sich höchstens noch einer
“In weniger als einer halben Sekunde?”
Jetzt ernte ich nur noch verwirrte Blicke. Dann nehme ich ein Stück Kreide, sage zu einem Studi in der ersten Reihe “Fangen Sie mal!” und werfe ihm oder ihr die Kreide zu. Natürlich wird sie gefangen, und ich sage
“Sehen Sie, Sie alle können etwas fangen, also können Sie alle gewöhnliche Differentialgleichungen im Kopf lösen. Sie können das nur nicht bewusst.”
Eine Theorie, in der sich die Entitäten so verhalten wie alltägliche Objekte, ist eben deswegen so anschaulich, weil wir vorhersagen können, was passieren wird, weil uns die Ergebnisse der Theorie nicht überraschen. Wie die kleine Geschichte zeigt, ist das besondere an dieser Art Anschauung, dass wir die Lösung nicht bewusst finden, uns nicht einmal bewusst ist, dass wir überhaupt eine Gleichung lösen.
Obwohl diese Art der Anschauung zu einem großen Teil unbewusst ist, können wir doch mit ihr operieren – beispielsweise können wir das Ergebnis von Experimenten vorhersagen. Auch wer noch nie Billard gespielt hat, wird grob vorhersagen können, was passiert, wenn eine Kugel eine andere zentral oder seitlich trifft, auch ohne dass er formale Regeln dafür formulieren könnte – wer kein Physiker ist, weiß vielleicht nicht einmal, was ein Impuls ist, trotzdem hat er eine gute Vorstellung davon, wie die Impulserhaltung wirkt.
Allerdings stößt diese Anschauung schnell an ihre Grenzen – wer noch nie beim Curling zugesehen hat, wundert sich über die gebogene Bahn des Steins auf dem Eis, wer noch nie ein keltisches Wackelholz (wer’s nicht kennt: Unbedingt dieses Video ansehen!) gesehen hat, ist im ersten Moment verblüfft und sucht nach dem “verborgenen Mechanismus”, der das Holz dazu bringt, sich nur in eine Richtung drehen zu lassen.
Woher kommt diese Anschauung? Wir entwickeln sie als Kinder (deswegen habe ich sie mal “naiv” genannt), wenn wir spielen und lernen, wie sich die Alltagsgegenstände verhalten. Was dabei genau in unseren Köpfen vorgeht, ist zumindest mir nicht so klar. Hier haben wir vermutlich eine Mischung aus neuronalem Netz (die zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie keine innere “Theorie” haben, sondern nur einem Input einen output zuordnen, ohne Nachvollziehbarkeit) und einer intuitiven “Theorie” – z.B. haben wir ein intuitives Verständnis für Massenerhaltung (das sich nach Piaget irgendwann mit etwa 7 Jahren entwickelt).
Begriffliche Anschaulichkeit
Die naive Anschaulichkeit funktioniert für Gegenstände und Phänomene des Alltags. Sie hilft uns auch, wenn wir Phänomene auf Gegenstände des Alltags “abbilden” können, sie sich also analog verhalten, so wie beim Beispiel der Atome als kleine Kugeln. Wie aber gelingt es uns, eine Anschauung für Theorien zu entwickeln, die im Alltag wenig oder keine entsprechenden Phänomene haben, bei denen wir also nicht auf unser “internes neuronales Netz” zurückgreifen können, beispielsweise für die Maxwell-Gleichungen oder die Schrödingergleichung?
Aus meiner eigenen Erfahrung heraus will ich die (zeitunabhängige) Schrödingergleichung herausgreifen. Falls jemand die nicht kennt – keine Panik, ich will nicht über die Gleichung als solche reden, sondern wie man sich prinzipiell eine Anschauung für sie baut. Für das Folgende ist nur wichtig, dass die Schrödingergleichung Elektronen beschreibt, die sich in einem Potential (beispielsweise im Schwerefeld) befinden. Dazu berechnet man mit der Schrödingergleichung eine Funktion, die “Wellenfunktion” heißt.
Sieht man die Schrödingergleichung zum ersten Mal (als Physikstudent irgendwann in einer einführenden Vorlesung über Quantenmechanik) so sieht man zunächst eine Gleichung mit ein Paar Ableitungen drin. Wer nicht gerade mathematisch brillant ist wird vermutlich nicht gleich ahnen können, wie die Lösungen der Gleichung aussehen. Deshalb verwendet man erst einmal den Formalismus. In der Vorlesung oder der Übung rechnet man unterschiedliche Probleme – ein Elektron im leeren Raum, ein Elektron in einem Topf, ein Elektron in einem Wasserstoffatom. Dabei ärgert man sich mit mathematischen Techniken herum, ohne dass hier viel Anschauung im Spiel wäre. Am Ende jeder Rechnung skizziert man die erzielte Lösung (die berechnete Wellenfunktion), und dann kommt die nächste Aufgabe.
Irgendwann beginnt man allerdings, Muster zu erkennen: Die zu berechnende Wellenfunktion oszilliert wie eine Wasserwelle, wenn ihre Energie größer ist als die des Potentials, in dem sie steckt, sie nimmt exponentiell ab, wenn ihre Energie kleiner ist. Man bemerkt, dass gebundene Zustände immer deutlich voneinander getrennte Energiewerte haben, ungebundene Zustände nicht. Je mehr Probleme man löst oder je mehr Lösungen von Problemen man sich anschaut, um so mehr solche Muster erkennt man.
Schließlich ist es dann soweit: Man kann grob vorhersagen, wie ungefähr die Lösung der Gleichung aussehen muss, bevor man sie gelöst hat. Dazu verwendet man die erkannten Muster und die Zusammenhänge zwischen ihnen – man sagt vielleicht: Hier ist das Potential besonders niedrig, also wird die Wellenfunktion hier ein Maximum haben, hier steigt es an, die Funktion wird hier also abfallen, das Potential ist nicht besonders tief und hat nur eine kleine Reichweite, also wird es nur wenige gebundene Zustände geben können usw.
Das ist der Moment, wo man beginnt, die Schrödingergleichung anschaulich zu finden. Eigentlich ist sie doch ganz harmlos und man kann sich oft überlegen, was herauskommt, ohne die Gleichung zu lösen, man versteht (und kann argumentieren) wie Potential und Lösung zusammenhängen.
Anders als bei der naiven Anschauung operieren wir hier noch direkt mit den Begriffen der Theorie – wir denken in Begriffen wie “Potential” und “Energie”, aber wir tun dies, ohne die Gleichung tatsächlich formal zu lösen.
“Intuitive Anschaulichkeit”
Es gibt aber noch eine dritte Stufe der Anschauung. Wer extrem viel mit einer Theorie arbeitet, nachdem er eine begriffliche Anschauung entwickelt hat, der merkt vielleicht eines Tages, dass er gar nicht mehr mit den Begriffen der Theorie operiert. Er schaut ein Problem an und “weiß” intuitiv, wie die Lösung aussehen wird. Ähnlich wie bei der naiven Anschauung ist hier die Anschauung nicht mehr vollkommen bewusst. Wird man gefragt “Warum glaubst du, dass das die Lösung ist”, dann muss man erst einmal nachdenken und sich die Begriffe der Theorie wieder bewusst machen. (Mit der Schrödingergleichung habe ich dieses Stadium nicht erreicht; allerdings mit einigen numerischen Verfahren.)
Das mag wie ein Rückschritt aussehen, tatsächlich aber zeigt zumindest meine Erfahrung, dass man in diesem Stadium eine deutlich höhere Sicherheit hat, tatsächlich richtige Vorhersagen zu machen.
Die drei Stadien sind ein bisschen wie beim Sprachenlernen – in seiner Muttersprache bewegt man sich sicher, auch ohne bewusstes Verständnis der Grammatik, eine Fremdsprache lernt man zunächst teilweise formal über Regeln etc, aber irgendwann denkt man automatisch in der fremden Sprache und ist sich der Regeln nicht mehr bewusst und hat sie vielleicht sogar “vergessen”.
Ein Definitionsversuch
Was sagt das nun über Anschaulichkeit?
Ich habe versucht zu zeigen, dass es unterschiedliche Arten der Anschaulichkeit bzw. der Anschauung gibt. Sie alle haben etwas gemeinsam, das sich auch in folgendem Zitat von Dirac wiederfindet:
I consider that I understand an equation when I can predict the properties of its solutions, without actually solving it.”
[Ich denke, dass ich eine Gleichung verstehe, wenn ich die Eigenschaften ihrer Lösungen vorhersagen kann, ohne die Gleichung wirklich zu lösen.]
Wie das funktioniert, habe ich allerdings bisher noch im Dunkeln gelassen. Schauen wir noch einmal auf das Zitat von Hertz: “von solcher Art, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände.” Unsere Theorie ist ein Abbild der Realität, und zwar in der Physik ein mathematisches Abbild.
Haben wir eine Anschauung für die Theorie entwickelt, dann verfügen wir über ein weiteres System (nämlich das unserer Anschauung), das ebenfalls durch die Theorie beschrieben wird. Nehmen wir als Beispiel nochmal das einfache Gas-Modell: Das reale Objekt “Atom” wird in der Theorie (nicht perfekt) durch das Konzept “Massenpunkt mit Kraftgesetz” beschrieben. Das Konzept “Massenpunkt mit Kraftgesetz” beschreibt aber auch (ebenfalls nicht perfekt) das Objekt “kleine herumflitzende Kugel” in unsere Anschauung. Je mehr Entsprechungen zu den Elementen der Theorie es in unserer Anschauung gibt, desto besser ist das anschauliche Modell.
Dieses Bildchen veranschaulicht (!) vielleicht die Idee:
So wie die Theorie selbst nie eine vollständige Beschreibung der Realität ist (weil sie immer Idealisierungen enthält), so ist die Theorie auch nie eine vollständige Beschreibung unserer Anschauung. Entsprechend kann unsere Anschauung mit der Theorie manchmal auch nicht übereinstimmen, so wie oben beim Beispiel mit dem Wackelholz. Vielleicht können wir uns einige Aspekte der Theorie gut veranschaulichen, andere dagegen nicht. So ist es beispielsweise meiner Ansicht nach mit dem Energiebegriff – das Fließen von Energie und Energieumwandlungen sind anschaulich, weil sie analog zum Fließen eines Materials sind, aber was die Energie selbst ist, ist nicht so anschaulich, sie hat keine direkte anschauliche Entsprechung.
Unsere Anschauung hat dabei die Eigenschaft, dass wir mit den Objekten der Anschauung leichter (nämlich auf einer nicht-formalen Ebene) operieren können als mit denen der Theorie, sonst hätten wir ja nichts gewonnen. Wir verwenden die Anschauung beispielsweise, um Lösungen vorherzusagen, Lösungsstrategien zu entwickeln und zu überprüfen, ob wir beim Rechnen keinen Mist gebaut haben. Da die Theorie aber keine perfekte mathematische Beschreibung der Anschauung ist, müssen wir natürlich immer darauf gefasst sein, dass die Anschauung sich irrt. Trotzdem wäre es ohne jede Anschauung angesichts der unglaublichen Vielzahl von Formalismen und Begriffen vermutlich völlig unmöglich, überhaupt Physik zu betreiben.
Zum Abschluss dieses endlos langen Textes möchte ich versuchen, das Ganze auf einen Punkt zu bringen mit folgendem
Definitionsversuch
Man verfügt über eine Anschauung einer Theorie, wenn man über ein geistiges Modell verfügt, das man – bewusst oder unbewusst – so manipulieren kann, dass sich damit das Ergebnis formaler Ableitungen innerhalb der Theorie vorhersagen lässt.
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