Wieviele Ameisen gibt es auf der Welt? Wieviele Grashalme in Deutschland? Wieviele Sandkörner auf der Erde? Fragen dieser Art sind Fermi-Probleme, Probleme, bei denen es sehr schwer ist, eine Antwort wirklich zu ermitteln, bei denen man aber durch geschicktes Abschätzen eine ungefähre Antwort herausbekommen kann.
Fermi-Probleme begegnen einem gar nicht so selten (na gut, man muss schon ein bisschen hingucken, um sie zu entdecken): Letzte Woche war ich auf einer Konferenz, und beim üblichen Smalltalk erzählte jemand von einem Freund, der eine 2-Terabyte-Festplatte voll Musik hätte – “mehr, als man im Leben je hören könnte”. Mit am Tisch saß noch ein anderer theoretischer Physiker und wir beide bekamen leuchtende Augen: Stimmt das? Wieviel Musik passt auf so eine Platte? Sekunden später waren wir dabei, Zahlen zu jonglieren, unter den leicht verwunderten Blicken der anderen.
Das Schöne an Fermi-Problemen ist, dass man trotz der großen Zahlen, um die es oft geht, nur wenig Mathematik braucht, um sie zu lösen. Man braucht natürlich ein paar Zahlen, mit denen man anfangen kann. Einer am Tisch wusste, dass etwa 300 Lieder auf einen 1Gigabyte-Speicher passen. Damit kommt man auf 600000 (sechshunderttausend) Lieder auf einer 2Terabyte-Festplatte. Wenn jedes davon 3 Minuten braucht, dann sind so etwa zwei Millionen Minuten. Wie lang sind 2 Millionen Minuten?
Das kann man natürlich ausrechnen (machen wir gleich), aber zum Glück wusste ich auswendig (ja, ich geb’s zu, was Zahlen angeht, bin ich etwas seltsam…), dass das Jahr etwa 30Millionen Sekunden hat. Mit 60 Sekunden in einer Minute hat ein Jahr 500000 Sekunden Minuten (danke, verquer), also sind 2Millionen Minuten etwa vier Jahre, die man non-stop Musik hören könnte. Hört man nur 8 Stunden am Tag (als Hintergrundmusik), dann hat man Musik für 12 Jahre.
Wozu so etwas gut ist? Solche Abschätzungen sind immer nützlich, wenn man sich schnell ein Bild verschaffen will, ob eine komplizierte Überlegung korrekt sein kann oder wenn man gar kein Gefühl hat. Ludmilla hatte neulich eine ähnliche Abschätzung im Zusammenhang mit Planetentransits.
Ich selbst habe neulich vor einem neuen Hochleistungslaser gestanden und wir haben uns gefragt, wie lange der Laser brauchen würde, um die Gehäusewand durchzubrennen, wenn er falsch ausgerichtet würde – eine schnelle Abschätzung (bei der wir die Wärmeleitung in der Wand und Reflexionen vernachlässigt haben) ergab einen Wert von mindestens zwei Sekunden, eine genaue Berechnung nach einer komplizierteren Formel ergab etwa 14 Sekunden – die Größenordnung hat also etwa gepasst.
Wer selbst Abschätzungen dieser Art versuchen will, stößt schnell auf das Problem, dass die Zahlen sehr groß werden. (Wieviele Nullen hat z.B. eine Quadrilliarde?) Deshalb ist es sinnvoll, sich eines Rechentricks zu bedienen, nämlich der Exponentialschreibweise. Zwei Millionen beispielsweise ist eine zwei mit 6 Nullen, man schreibt sie als 2*106 (gesprochen “zwei mal zehn hoch sechs”) oder vereinfacht als 2E6. (So machen es auch viele Taschenrechner.)
Die “2” nennt man oft den “Vorfaktor” (vornehme Leute sagen “Mantisse”), die “6” ist der “Exponent”.
Multipliziert man zwei Zahlen in Exponentialschreibweise, muss man die Mantissen multiplizieren, die Exponenten addieren. Beispielsweise ist 200*3000=600000:
2E2 * 3E3 = (2*3)E(2+3) = 6E5.
Das klappt dann auch super für beliebig große Zahlen: Wenn jeder Mensch einhunderttausend Haare auf dem Kopf hat, wieviele Haare gibt es dann auf der Welt?
Sieben Milliarden Menschen sind 7E9, also
7E9*1E5 = 7E14, also siebenhundert Billionen Haare.
Falls der Vorfaktor größer wird als zehn, verändert man den Exponenten entsprechend:
40*40=1600
4E1 * 4E1 = 16E2 = 1,6E3 (Dank an Frank für den Hinweis auf einen Rechenfehler)
Das Dezimalkomma (oft nimmt man auch einen Dezimalpunkt) sagt, wo die Nullen anfangen müssen, 1,6E2 ist also 1,6 mit zwei Nullen, die hinter der 1 anfangen, da dann noch ne 6 kommt, hänge ich an die nur eine Null an.
Will man zwei Zahlen in Exponentialscheribweise dividieren, so dividiert man die Vorfaktoren und subtrahiert die Exponenten:
6E5 / 3E3 = (6/3) E(5-3) = 2E2.
Eventuell muss man auch dabei den Exponenten anpassen, wenn die Zahl vor dem Komma nicht passt:
200/50 = 4
2E2/5E1 = 0.4E1 = 4E0
4E0 ist eine 4 mit Null Nullen, also eine 4.
Das ist schon alles, was man braucht, um Fermiprobleme zu lösen – letztlich nichts als ein bisschen Addition und Multiplikation für die Vorfaktoren und die Addition von Zahlen.
Jetzt noch wie versprochen die Berechnung, wie lange 2Millionen Minuten sind:
2E6 Minuten sind 2E6/60 Stunden.
200/60 sind etwa 3.3 (3*6 sind 18, also sind 3,3*6=18+1,8=19,8), also
2E6/60= 200E4 /60 = 3,3E4 Stunden. Die durch 24 geteilt:
330/24 sind etwa 14 (240+ 96 = 336), also haben wir
1,4E3 Tage, das sind 1400 Tage. Ein Jahr hat 365 Tage, zwei also 730, 4 also 1460, also sind zwei Millionen Minuten etwa 4 Jahre.
Wem das noch zuviel Gerechne ist (330/24 im Kopf???), der schätzt geschickt so ab:
200/60 sind etwa 3 (und ich merke mir, dass mein Wert etwas zu niedrig ist),
also landen wir bei 3E4 Stunden. Die müssen wir durch 24 teilen – da ich oben aber zu klein mit der Zahl war, teile ich hier nur durch 20 statt 24, das sollte den Fehler kompensieren. Das ergibt 1500 Tage und kann ohne Mühe im Kopf erledigt werden.
Alles, was man jetzt noch braucht, ist ein bisschen Übung, und man kann in Windeseile damit angeben, Zahlen aus dem Hut zu zaubern (oder mitleidig-verwirrte Blicke ernten).
Also: Wieviele Ameisen gibt es? Wieviele Sandkörner oder Grashalme?
Viel Spaß beim Schätzen!
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