Metalle sind fest und gleichzeitig verformbar. Ein einfaches Experiment mit einer Büroklammer zeigt das sehr eindrucksvoll: Es ist leicht, die Büroklammer soweit aufzubiegen, dass man sie an beiden Enden festhalten kann, aber es ist (zumindest mit meiner Muskelkraft) nicht möglich, sie zu zerreissen. Warum ist das so?
Metall bestehen aus Atomen in einer regelmäßigen Anordnung, einem Kristallgitter. Im einfachsten Fall sieht das etwa so aus:
Damit sich die Form eines Metalls dauerhaft ändert, müssen sich Atome so gegeneinander verschieben, dass Atome, die vorher benachbart waren, es hinterher nicht mehr sind. Die Anordnung der Atome muss sich also ändern. Man könnte sich das zum Beispiel so vorstellen:
Lässt sich ein Material dauerhaft verformen (so wie ein Metall oder auch Knetgummi), so nennt man dies eine plastische Verformung. (Das Gegenstück dazu ist die elastische Verformung, die wieder verschwindet, wenn man die äußere Kraft wegnimmt. Die ist beispielsweise bei Gummibändern besonders leicht zu beobachten.)
Berechnet man, wie groß die Kraft zum dauerhaften Verformen, die so genannte Fließgrenze, sein müsste, dann kommt man auf einen Wert, der typischerweise um das Zehnfache über der beobachteten Fließgrenze von Metallen liegt. Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte man dies dadurch zu erklären, dass reale Kristalle niemals ganz perfekt sind und dass die Störstellen (beispielsweise Fremdatome oder unbesetzte Plätze im Kristallgitter) die Fließgrenze herabsetzen.
Man versuchte deshalb, möglichst reine Kristalle herzustellen, und erwartete, dass sich dann die Fließgrenze erhöhen würde. Rätselhafterweise war das Gegenteil der Fall – je reiner der Kristall, desto geringer seine Fließgrenze, desto leichter lässt er sich also verformen.
Die Lösung des Rätsels wurde 1934 entdeckt, und zwar unabhängig und fast gleichzeitig von drei Wissenschaftlern, Egon Orowan, Michael Polanyi und G. I. Taylor.
Metalle verformen sich nicht wie im Bild oben, sondern durch einen anderen Mechanismus. Verantwortlich sind Störstellen im Kristall, die als Versetzungen bezeichnet werden.
Es gibt verschiedene Arten von Versetzungen, die einfachste (auf die wir uns hier beschränken) ist die so genannte Stufenversetzung:
Die roten Kugeln sind die Atome, die gelbe Linie zeigt, wo der Kristall gestört ist, sie hat aber selbst keine physikalische Bedeutung. (Ein Versetzungsbild findet sich übrigens auch oben in der Hier-Wohnen-Drachen-Grafik – ein Grund, warum ich hier mal erkläre, was man da eigentlich sieht.)
Man kann sie sich so vorstellen, als hätte jemand den Kristall von oben bis zur Mitte aufgesägt und eine zusätzliche Lage von Atomen eingeschoben. Weit weg von der Versetzung ist der Kristall vollkommen ungestört, nur um die Versetzung herum ist das Gitter gestört und einige Bindungen sind gedehnt.
Diese gedehnten Bindungen machen es jetzt leichter, den Kristall abzuscheren, also Atome gegeneinander zu bewegen. Das ganze ist analog zum Verlegen eines Teppichs.
Jeder kennt das Problem: Der neue Teppich ist ausgerollt, liegt aber nicht ganz genau so, wie er soll. Durch Herumzergeln an den Ecken bewegt er sich kein Stück. Was tun? Man macht eine kleine Falte in den Teppich und schiebt diese Falte durchs Zimmer in die richtige Richtung:
(Dieses schöne Bild stammt von der Uni Augsburg, wo das, was ich hier erkläre, auch sehr schön erläutert wird, allerdings auf etwas höherem Niveau inklusive Formeln.)
Bei Versetzungen in Metallen funktioniert das ganz ähnlich: Versucht man, einen Kristall zu verformen (in einfachsten Fall wie hier dadurch, dass man direkt Atomlagen gegeneinander verschiebt), dann machen es die bereits gedehnten Bindungen um die Versetzungen herum leichter:
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Es muss jeweils nur eine Bindung “umklappen”, damit die Versetzung weiterwandern kann. (Das gilt im zweidimensionalen Bild. In drei Dimensionen müssen natürlich alle Bindungen entlang der Versetzungslinie umklappen.) Genau wie die Falte beim Teppich erleichtert die gedehnte Bindung die Bewegung, außerdem muss nicht die ganze Atomlage auf einmal abscheren, sondern Stück für Stück, so wie auch der Teppich sich nur rund um die Falte bewegt, nicht überall gleichzeitig.
Zunächst mal hat man anscheinend nicht viel erreicht, denn die äußere Form des Kristalls ist rechts unten immer noch dieselbe wie links oben. Wandert die Versetzung aber einmal durch den Kristall hindurch, dann bleibt eine kleine Stufe zurück.
Das kann man an Proben aus Einkristallen sogar direkt sehen:
Hier wurde an einer Stange aus Kupfer gezogen. Man erkennt sehr schön, dass der Kristall sich entlang von schräg liegenden Ebenen verformt hat. Das sind genau die Ebenen, auf denen Versetzungen laufen können. In unserer Büroklammer konnten wir den Effekt beim Verformen nicht sehen, weil sie nicht aus einem Kristall besteht, sondern aus vielen kleinen Bereichen (Körner genannt), die alle unterschiedliche Kristallorientierungen haben.
Und warum sind nun besonders reine Kristalle leichter verformbar? Der Grund ist der, dass auch sie hinreichend viele Versetzungen enthalten, die für die Verformung sorgen. (Metalle ganz ohne Versetzungen gibt es kaum, lediglich so genannte Whisker sind winzige Drähte, die versetzungsfrei sind. Und dann gibt es noch Nanowürfel, über die schreib ich bei Gelegenheit was.) Störungen im Kristall, wie beispielsweise Fremdatome, behindern die Bewegung der Versetzungen. Je reiner man das Metall macht, desto weniger stark werden die Versetzungen behindert und desto leichter ist das Metall zu verformen.
Andersherum bedeutet das: Wer besonders feste Metalle entwickeln will, der muss nach Möglichkeiten suchen, die Versetzungen in ihrer Bewegung zu behindern. Damit beschäftigen sich Materialwissenschaftlerinnen1. Sie bauen beispielsweise zusätzliche Fremdatome in das Material ein (beispielsweise macht Kohlenstoff aus Eisen Stahl), oder fügen kleine Teilchen hinzu (so genannte Ausscheidungen), sie sorgen für möglichst kleine Körner, oder sie behindern Versetzungen durch andere Versetzungen. Deshalb bestehen hochfeste Legierungen oft aus vielen unterschiedlichen Elementen, die alle ihren Beitrag zur Behinderung von Versetzungen leisten.
Bei Keramiken wie Porzellan funktioniert das leider nicht. Sie enthalten zwar auch Versetzungen, aber da die Atombindungen in Keramiken stark gerichtet sind, kann man sie nicht einfach “umklappen” – die Kraft dafür ist so groß, dass das Material vorher schon durch Rissausbreitung versagt, denn Keramiken enthalten immer winzig kleine Risse.
Die gute Verformbarkeit von Metallen ist auch ein wichtiger Grund, warum sie so häufig eingesetzt werden: Zum einen kann man sie durch Schmieden, Walzen, Rollen, Tiefziehen usw. leicht in fast jede gewünschte Form bringen, zum anderen sind sie auch tolerant gegenüber äußeren Kräften – ein Auto aus Metall hat eine Knautschzone, eins aus einer Keramik würde beim Aufprall zersplittern (wie bei Loriots 1500 TM: “Bei Aufprall auf harte Gegenstände zerlegt sich das Fahrzeug in aseptische Einzelteile von Erbsengröße.”).
1 Die weibliche Form schließt natürlich die männliche ein…
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