Vor 25 Jahren entdeckte der Physiker J.J. Simpson bei der Untersuchung von radioaktivem Tritium Hinweise auf ein vollkommen neues und in den Theorien absolut unerwartetes Elementarteilchen, das als 17-keV-Neutrino bekannt wurde. Die Existenz dieses Teilchens blieb umstritten, einige Experimente fanden deutliche Hinweise, andere nicht.
In diesem Eintrag will ich die Geschichte dieses Teilchens erzählen – sie ist nicht nur ein interessantes Stück Physikgeschichte, sondern wirft auch ein interessantes Licht auf die Stärken und Schwächen des Wissenschaftsbetriebs.
Leider ist die Geschichte länger geworden als ich ursprünglich erwartet habe – deshalb zerhacke ich sie der Übersichtlichkeit halber in drei Teile.
Der β-Zerfall
Um zu verstehen, worum es bei dieser Geschichte geht, müssen wir kurz zurück ins Jahr 1930. In den zwanziger Jahren versuchte man, das Verhalten radioaktiver Substanzen besser zu verstehen. Ein Problem stellten dabei radioaktive Atomkerne dar, die Elektronen aussandten (man spricht auch vom β-Zerfall, weil Elektronen auch als β-Teilchen bezeichnet werden). Betrachtete man die Energie der freiwerdenden Elektronen, so war diese nicht immer konstant, sondern schwankte sehr stark. Da ein Atomkern in zwei Teilchen zerfiel, stellte dies ein Problem dar: Wegen der Energie- und Impulserhaltung sollte die Energie des ausgesandten Elektrons immer dieselbe sein.
Die Annahme, dass diese Erhaltungssätze beim β-Zerfall verletzt würden, ging den Physikern dann doch zu weit. Wolfgang Pauli postulierte deshalb 1930, dass beim Zerfall ein weiteres Teilchen ausgesandt wurde, dass elektrisch neutral war und deshalb nicht beobachtet wurde. Er nannte es “Neutron”, doch der Name wurde später in “Neutrino” geändert – als Neutron bezeichnet man jetzt einen der Bausteine des Atomkerns. Jörg hat diese Geschichte auch schon mal erzählt. (Genau genommen ist das hier ausgesandte Teilchen ein Anti-Neutrino, das spielt aber für unsere Geschichte keine Rolle.)
Es dauerte bis 1956 bis das Neutrino experimentell nachgewiesen werden konnte, weil es mit Materie nahezu gar nicht wechselwirkt. Man erkannte bald, dass es noch weitere Neutrinos geben musste – so wie das Neutrino im β-Zerfall mit dem Elektron verbunden war, musste es auch noch ein Myon- und ein Tauon-Neutrino geben, denn diese beiden Teilchen sind dem Elektron sehr ähnlich. Innerhalb des Standardmodells, das in den 60ern und 70ern entwickelt und dann experimentell bestätigt wurde, bilden die drei Neutrinos mit ihren elektronartigen Partnern die Gruppe der sogenannten “Leptonen”. Innerhalb des Standardmodells wird angenommen, dass Neutrinos masselos sind – ähnlich wie Photonen, die ja auch keine Ruhemasse haben, würden sich Neutrinos dann immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.
Mehr über aktuelle Neutrinoforschung findet man übrigens bei Jörg hier und hier und hier und hier und wahrscheinlich noch öfter…
Dass Neutrinos sehr leicht sein müssen, ließ sich experimentell bereits aus dem β-Zerfall ableiten: Die Energie verteil sich ja auf den Atomkern, das Elektron und das Neutrino. Da der Atomkern sehr schwer ist, kann er wegen der Impulserhaltung nur sehr wenig kinetische Energie aufnehmen. Das ist ähnlich wie wenn man einen Gummiball gegen die Wand wirft: Die Wand nimmt den doppelten Impuls des Balls auf, aber er prallt mit fast gleicher Geschwindigkeit zurück, trägt also nahezu die gesamte kinetische Energie noch mit sich.
Beobachtet man nun die Energieverteilung der ausgesandten Elektronen, stellt man fest, dass das Elektron manchmal nahezu die gesamte freiwerdende Energie mitnimmt. Hätte das Neutrino eine nennenswerte Masse, dann würde diese (nach E=mc2) nicht als kinetische Energie zur Verfügung stehen, so dass Elektronen immer nur mit entsprechend weniger Energie ausgesandt werden würden.
Die Entdeckung
In den 80er Jahren ging man also davon aus, dass Neutrinos keine Masse besitzen. (Heute wissen wir, dass das nicht stimmt, die Masse ist aber sehr klein). Allerdings gab es einige Experimente russischer Wissenschaftler, die auf eine geringe Neutrinomasse hindeuteten. Genauere Experimente waren deshalb interessant.
Eins dieser Experimente führt J.J. Simpson durch. Er speicherte Tritium in einem Halbleiter-Detektor, mit dem er die freiwerdende Energie beim Zerfall genau messen konnte. Damit wollte er sehen, ob am Ende mit der höchsten Energie der Elektronen eine kleine “Lücke” bleiben würde. Wenn Neutrinos (wenn nichts anderes gesagt wird, meine ich im folgenden immer Elektron-Neutrinos) eine Masse haben, dann dürfte kein Elektron die gesamte Energie wegtragen können.
Die Energie, die beim Zerfall von Tritium frei wird, beträgt 18,6keV. Das Elektronenvolt (eV) ist eine beliebte Energieeinheit der Physiker, ein eV entspricht einer Energie von 1,6E-19J. Wegen der Einstein-Relation kann man auch Massen in eV angeben, die Elektronmasse ist etwa 511000eV oder 511keV.
Simpson suchte also im Spektrum der ausgesandten Elektronen, die eine Energie von nahezu 18,6keV hatten, nach Abweichungen von der theoretischen Erwartung. Mit schweren Neutrinos müsste die Kurve knapp unterhalb der Maximalenergie enden. Er fand jedoch nichts. Dafür erlebte er eine Überraschung, als er auf das andere Ende seines Spektrums blickte:
Aufgetragen ist auf der horizontalen Achse die Elektronenenergie, auf der senkrechten Achse die Zahl der Elektronen bei der jeweiligen Energie. Die durchgezogene Linie ist die theoretische Erwartung, die Punkte stellen Messwerte dar. (Bild zum Vergrößern anklicken, dann erkennt man mehr.) Sieht doch eigentlich gut aus, oder? Aber ganz links, so unterhalb von 1,5keV, weicht die theoretische Kurve geringfügig von den Messwerten ab: Es werden zuviele Elektronen mit niedriger Energie ausgesandt!
Wie kann das kommen? Wenn es sich nicht um einen Messfehler handelt, dann ist die plausibelste Erklärung, dass hier ein zusätzlicher Prozess eine Rolle spielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elektron eine bestimmte Energie hat, hängt von der Zahl der Möglichkeiten ab, das Elektron mit dieser Energie auszusenden. Gibt es also zuviele Elektronen mit einer bestimmten Energie, so kann das darauf hindeuten, dass es hier einen zusätzlichen Prozess gibt.
Was für ein Prozess könnte das sein? Er betrifft anscheinend nur Elektronen mit einer Energie von weniger als 1,5keV – also ist es ein Prozess, bei dem eine Energie von mindestens 18,6-1,5=17,1keV verbraucht wird. Die naheliegendste Möglichkeit (mal abgesehen von Messfehlern) ist, dass ein Elementarteilchen ausgesandt wurde, das eine Masse von 17,1keV hat. Dieses ist nicht das normale Neutrino (so schwer konnte es nicht sein), also muss es ein anderes Teilchen sein. Es verhält sich aber wie ein Neutrino (es musste elektrisch neutral sein und mit dem Detektor nicht wechselwirken, sonst wäre die Energie ja irgendwo im Detektor gemessen worden) , also scheint es ein bisher unbekanntes Neutrino zu sein, mit einer Masse von 17,1keV.
Nun ist es natürlich ziemlich gewagt, aus einer so kleinen Abweichung zwischen Theorie und Experiment ein neues Teilchen abzuleiten. Simpson analysierte seine Daten deshalb genauer. Er trug seine Messwerte deshalb so auf, dass sie bei Abwesenheit des neuen Teilchens genau auf einer horizontalen Linie verlaufen würden. Das Ergebnis war eindeutig:
In dieser Auftragung erkennt man deutlich die Abweichung: Unterhalb von 1,5keV werden zuviele Elektronen ausgesandt. Die drei Darstellungen unterscheiden sich in der Art der Auswertung der Daten – diese ist nämlich ziemlich knifflig, wie wir noch sehen werden.
Detaillierte Analysen des Detektors und seiner Leistungsfähigkeit gaben ebenfalls keinen Hinweis darauf, dass hier Messfehler oder Ähnliches im Spiel sein könnten. Also veröffentlichte Simpson seine Ergebnisse im April 1985 in Physical Review Letters, so ziemlich dem angesehensten Physik-Journal, das man finden kann. Das Teilchen wurde als 17-keV-Neutrino bekannt.
Existiert das 17-keV-Neutrino?
Ein neues, vollkommen unerwartetes Elementarteilchen! Wenige Entdeckungen können Teilchenphysiker mehr faszinieren als das. Natürlich versuchten andere Arbeitsgruppen, Simpsons Ergebnisse zu reproduzieren. Innerhalb eines Jahres gab es fünf Veröffentlichungen – alle von ihnen negativ. Keines hatte Evidenz für ein 17-keV-Neutrino finden können. Zusätzlich wurden Zweifel an der Datenanalyse laut: Die theoretische Kurve zu ermitteln, mit der die Daten verglichen werden müssen, ist sehr schwierig. Unterschiedliche theoretische Ansätze zeigten, dass Simpsons Analyse möglicherweise wichtige Effekte nicht berücksichtigte.
Doch auch die negativen Experimente blieben nicht ohne Zweifler, denn auch sie beinhalteten komplizierte theoretische Modelle. Simpson selbst analysierte eines der negativen Experimente auf etwas andere Weise neu und erhielt plötzlich ein deutliches Signal, das für die Existenz des neuen Teilchens sprach.
Hier zunächst das Originalbild aus einer Veröffentlichung von Ohi et al.:
Aufgetragen ist wieder die Elektronenenergie – diesmal war radioaktiver Schwefel verwendet worden, so dass sich die Energiewerte ändern – eine Abweichung müsste bei etwa 150keV auftreten (gestrichelte Linie), wenn es das neue Neutrino wirklich gäbe. Man erkennt, dass es in der Tat keinen Hinweis für ein solches Teilchen gibt.
Als Simpson die Daten neu analysierte, ergab sich plötzlich ein vollkommen anderes Bild:
Wie kann das sein? Wie können dieselben Daten so unterschiedliche Ergebnisse liefern?
Das liegt daran, dass die horizontale Linie, die ja angibt, wieviele Elektronen man theoretisch erwartet, nicht wirklich berechnet werden kann. Man leitet sie aus einem Bereich ab, in dem man keinen ungewöhnlichen Effekt erwartet. Im oberen der beiden Plots wurde der gesamte Bereich zwischen 150keV und der Maximalenergie von 167keV verwendet, um die horizontale Linie festzulegen, d.h. die Linie wird so gelegt, dass sie zu diesen Datenpunkten “passt”.
Simpson argumentierte, dass es besser sei, einen schmaleren Energiebereich zu verwenden, weil bei höheren Energien andere Effekte auftreten könnten (beispielsweise andere Streuungen der Elektronen im Detektor). Deshalb verwendete er nur den Bereich direkt oberhalb von 150keV zum Bestimmen der Kurve. Für beide Vorgehensweisen gab es gute Argumente. Die Lage blieb also unübersichtlich.
Die meisten Physiker ignorierten angesichts der unübersichtlichen Lage und der überwiegend negativen Ergebnisse das neue Teilchen, aber Simpson gab nicht auf.
Wie es weitergeht, erzähle ich im 2. Teil. (Ich entschuldige mich für das Zerhacken – das liegt nicht daran, dass ich hier Millionen Euronen scheffele, wenn Ihr alle auf mehrere Teile klickt. Aber lange Texte zu editieren ist auf unserem scienceblogs-Webinterface ziemlich mühsam…)
Quellen für diesen Artikel und alle Bilder:
F.E. Wietfeldt, E.B. Norman
The 17 keV neutrino
Nuclear Science Division, Lawrence Berkeley National Laboratory, Berkeley, CA 94720, USA
Allan Franklin
The appearance and disappearance of the 17-keV neutrino
Reviews of Modern Physics 67, 1995, S. 457
Allan Franklin
Selectivity and the Production of Experimental Results
Arch. Hist. Exact Sci. 53 (1998) 399-485
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