In Teilchenbeschleunigern werden Elementarteilchen mit extrem hohen Energien aufeinandergeschossen. Um zu verstehen, was dabei passiert, verwenden Physiker Feynman-Diagramme. Im ersten Teil habe ich erklärt, wie man solche Diagramme berechnet. Jetzt wollen wir uns Ergebnisse ansehen und gucken, ob wir nicht ein “neues” Elementarteilchen finden können. Und keine Sorge, es wird viel weniger mathematisch als im ersten Teil, wer dort ausgestiegen ist, kann hier wieder anfangen.

Wir betrachten wieder die Erzeugung von Myonen und Antimyonen durch die Vernichtung von Elektronen und Positronen. Zur Erinnerung hier nochmal unser Feynman-Diagramm:

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Experimente wie dieses wurden in den 80er Jahren beispielsweise am Speicherring Petra in Hamburg gemacht.

Wie am Ende des ersten Teils interessieren wir uns dafür, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Myonen unter einem bestimmten Winkel θ wegfliegen, wenn Elektron und Positron frontal aufeinanderprallen.

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Die Größe, die man im Experiment misst, nennt man den “Wirkungsquerschnitt”. Den kann man sich anschaulich so vorstellen, dass man das eine der beiden kollidierenden Teilchen als Punkt ansieht und sich dann fragt, welche Querschnittsfläche das andere Teilchen haben müsste, damit sich die beiden Teilchen mit der beobachteten Häufigkeit treffen. Die Einheit für den Wirkungsquerschnitt ist das “barn” – ein barn ist eine Fläche von 10-28m2. (Englisch bedeutet “barn” soviel wie “Scheune” – auch im Deutschen sagt man ja “groß wie ein Scheunentor”. Ja, Physiker haben manchmal einen etwas eigensinnigen Humor.)

Für den Wirkungsquerschnitt haben wir folgende Formel gefunden:
Wirkungsquerschnitt= e4(1+cos2θ) / (256π2E2)
e ist die Elektronenladung, E die Energie der einfliegenden Teilchen.

Der Wirkungsquerschnitt hängt vom Winkel θ ab. Er ist (weil cos90°=0) am kleinsten, wenn die beiden Myonen genau im rechten Winkel wegfliegen, und am größten, wenn sie in Richtung der einfallenden Elektronen und Positronen ausgesandt werden. Die Formel ist außerdem symmetrisch in θ, es werden also genausoviele Myonen nach vorne gestreut wie Antimyonen.

Und was sagt nun das Experiment dazu? Hier ein Bild von Ergebnissen des JADE-Detektors (vom Detektor selbst habe ich leider kein schönes Bild gefunden, der ist wohl zu alt, um in Internet würdig vertreten zu sein):

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Dabei ist auf der horizontalen Achse cosθ aufgetragen, auf der vertikalen Achse der Wirkungsquerschnitt (in Nanobarn) multipliziert mit dem Quadrat der Energie – das erleichtert den Vergleich der Bilder bei verschiedenen Energien. Die Linie (eigentlich sind es zwei Linien, die liegen hier aber sehr dicht zusammen – auf den Unterschied kommen wir gleich) ist die theoretische Vorhersage, die Datenpunkte die Messwerte (mit Fehlerbalken). Man erkennt, dass Messdaten und Kurve ganz gut zusammenpassen, die Streuung der Messdaten ist aber durchaus beträchtlich.

(Falls sich jemand drüber wundert: Einige Messdaten liegen selbst mit Fehlerbalken außerhalb der Kurve. Das ist völlig in Ordnung – laut Statistik kann man erwarten, dass so etwa ein Drittel aller Messwerte die theoretische Kurve nicht innerhalb des Fehlerbalkens trifft.)

Ignoriert man die Abhängigkeit vom Winkel θ und variiert die Energie E der Teilchen, dann sollten mit zunehmender Energie ja immer weniger Myonen produziert werden. Mal schauen, ob das passt:

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Wieder ist die theoretische Vorhersage (QED steht für “Quantenelektrodynamik”, der Name der Theorie, die Elektronen und Photonen beschreibt) gut mit den Daten im Einklang.

Es ist natürlich schön, wenn man eine existierende Theorie bestätigen kann. Aufregender ist es aber natürlich, etwas neues zu finden. (Ich tue jetzt hier so, als wüssten wir nichts vom sogenannten Standardmodell – historisch war das Modell als Theorie bekannt, bevor man die Experimente machte, die ich hier diskutiere, aber ich will ja nur das Prinzip erklären, wie man mit solchen Experimenten neue Teilchen finden kann und was das mit Feynman-Diagrammen zu tun hat.)

Dazu drehen wir die Energie unseres Teilchenbeschleunigers mal ein bisschen auf. Dann sieht das Ergebnis so aus:

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Wieder ist die gestrichelte Linie die Vorhersage der Theorie (die durchgezogene gucken wir gleich an). Man erkennt, dass Messdaten und Theorie nicht zusammenpassen. Vor allem ist die Streuung jetzt unsymmetrisch: Der Wirkungsquerschnitt ist für cosθ=-0.7 deutlich größer als für cosθ=0.7. Wenn man nochmal oben auf das Streubild mit der Definition von θ schaut, dann heißt das, dass mehr Myonen als Antimyonen in die Richtung fliegen, aus der das Elektron kam.

Irgendetwas muss also hier passieren. Wenn wir nicht gerade einen Messfehler oder so haben, dann muss hier ein anderer Prozess stattfinden, zu dem ein anderes Feynman-Diagramm gehört. Mit einem einzigen Datensatz wie hier kann man natürlich nicht genau vorhersagen, was für ein Prozess das sein muss, aber ich mache mir hier das Leben einfach und postuliere, dass Elektron und Positron noch auf eine andere Weise ein Myon-Antimyon-Paar erzeugen können, nämlich über ein neues Teilchen. (Neue Teilchen werden ja von Physikern gern postuliert, wie ich neulich erzählt habe.)
Das zugehörige Feynman-Diagramm sieht so aus:

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Es ist zum Diagramm oben identisch, nur dass ich hier statt eines Photons ein Z-Boson (um dem Ding gleich den richtigen Namen zu geben) eingetragen habe.

Da man den Effekt des neuen Teilchens nur bei hohen Energien sieht, kann man annehmen, dass es vermutlich eine hohe Masse hat. (Das sehen wir gleich noch genauer.) Um jetzt die Daten mit meiner Z-Boson-Theorie vergleichen zu können, muss ich natürlich diese Masse wissen. Außerdem muss ich noch wissen, wie das Z-Boson aus Elektron/Positron entsteht. (Vornehm sagt man: “wie das Z-Boson an das Elektron koppelt”.) Für das Photon gab es da ja den Term (ieγ&mu) – der muss sicherlich durch etwas anderes ersetzt werden.

Das Z-Boson ist eines der Teilchen, die für die sogenannte schwache Wechselwirkung verantwortlich sind. Wie genau diese Wechselwirkung an die Elektronen koppelt, war lange Zeit ein Rätsel, das aber schließlich (unter anderem von Feynman) gelöst wurde. Man spricht hier von (V-A)-Kopplung (lies: “V-minus-A”). Nur aus den paar Messdaten, die ich hier gezeigt habe, könnte man diese Theorie natürlich nicht herleiten.

Wir können genau wie im ersten Teil die Amplitude für dieses neue Feynman-Diagramm hinschreiben. Wie gesagt will ich auf den neuen Kopplungsterm (der das eγ ersetzt) nicht eingehen. Interessant ist aber auch, was aus dem Photon-Propagator wird. Der hatte ja (nach dem Lösen der Integrale) die Gestalt
gμ/(Ephot2-pphot2)

Unser Z-Boson hat aber eine Masse, und die verändert diesen Ausdruck jetzt (das gμ kommt hier weg wegen der anderen kopplung) so:
1/(EZ2-pZ2-mZ2)

Beim Photon war es ja so, dass der Nenner im Ausdruck oben nicht Null werden konnte, weil (anders als bei realen Photonen) beim virtuellen Photon niemals E=p sein konnte. Das lag an der Energie- und Impulserhaltung: Treffen Elektron und Positron frontal aufeinander, dann ist ihr Impuls Null, ihre Energie aber nicht.

Bei unserem Z-Boson ist das jetzt anders. Treffen Elektron und Positron mit genau der Energie aufeinander, die der Masse des Z-Bosons entspricht, dann kann das Z-Boson einen Impuls von Null haben und die ganze Energie geht in die Masse. Im Propagator oben wird dann der Nenner Null.

Alarm! Wir dividieren durch Null! Unendlichkeiten in der Physik!

Keine Panik: Damit der Nenner exakt Null wird, müssten die Impulse und Energien von Elektron und Positron unendlich genau zur Z-Masse passen. Das ist (schon wegen der Unschärferelation) beliebig unwahrscheinlich. Trotzdem wird der Nenner natürlich sehr klein, wenn wir mit der Energie in die Nähe der Z-Masse kommen. Entsprechend müsste die Wahrscheinlichkeit, ein Myon-Antomyon-Paar mit Hilfe des Z-Bosons zu erzeugen, sehr groß werden.

Das passende Experiment dazu konnte man bei Petra nicht machen, wohl aber am LEP am CERN in Genf. Hier das Ergebnis (geklaut an der TU München):

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Man sieht den extremen Anstieg bei einer Energie von etwa 91GeV, der Z-Masse. Damit haben wir tatsächlich ein neues Teilchen gefunden. Links sieht man übrigens auch die Petra-Daten, die ich oben gezeigt habe.

Kommen wir noch einmal zu den Bildern oben zurück, wo der Wirkungsquerschnitt gegen den Winkel aufgetragen war: Die durchgezogene Kurve dort entspricht genau der Vorhersage der Theorie, wenn man die Möglichkeit eines Z-Bosons berücksichtigt. Je dichter die Energie an die Z-Masse herankommt, desto größer wird der Effekt, weil der Z-Boson-Propagator immer größere Werte annimmt.

Damit man das richtige Ergebnis bekommt, ist aber große Vorsicht geboten: Man darf nicht den Fehler machen, einfach den Wirkungsquerschnitt für den Photonaustausch zu berechnen, dann den für den Z-Austausch und dann beide zu addieren. Die Regeln für Feynman-Diagramme sagen ja, dass wir erst die Amplituden für alle Möglichkeiten addieren, wie ein Prozess stattfinden kann, und erst danach quadrieren.

Wenn man das tut, dann ergibt sich (entsprechend der binomischen Formel (a+b)2=a2+2ab+b2) ein Mischterm, der auch als Interferenzterm bezeichnet wird. Die beiden Möglichkeiten Photon und Z-Boson beeinflussen sich gegenseitig, so als könne das virtuelle Teilchen sich nicht so recht entscheiden, ob es nun ein Photon oder ein Z-Boson sein will. Solche Effekte gibt es nur in der Quantenmechanik, nicht in der klassischen Physik. Berücksichtigt man den Effekt nicht, dann bekommt man ein Ergebnis, das nicht zu den Daten passt.

Macht man aber alles richtig, dann ergibt sich die durchgezogene Linie oben im Bild, und Daten und Theorie passen zusammen.

Ich hoffe, ihr habt einen kleinen Einblick bekommen, wie Elementarteilchenphysik funktioniert. Viele Dinge habe ich weggelassen, insbesondere das komplizierte Kapitel der “Renormierung” – man kann nämlich relativ leicht Feynman-Diagramme zeichnen, bei denen tatsächlich rechnerisch unendlich für die Amplitude herauskommt. Nur durch mathematische “Trickserei” kann man diese Unendlichkeiten erfolgreich unter den Teppich kehren. (Es muss ja auch einen Grund haben, dass Physiker 5 oder 6 Semester studieren, bevor sie das erste Mal ein Feynman-Diagramm berechnen dürfen.)


Auch diesmal war meine Hauptquelle das Buch von Schmüser, aus dem auch die Experiment-Bilder stammen:
Peter Schmüser, “Feynman-Graphen und Eichtheorien für Experimentalphysiker”

Kommentare (2)

  1. #1 rolak
    10. Oktober 2010

    Versprechen eingelöst und Lesezeichen gesetzt. In dieser mittlerweile fast 2.5MiB großen Liste müßte ich auch mal wieder etwas Baumpflege betreiben…

    btw: Bezugnehmend auf ⇒dieses Temporalphänomen erkläre ich diesen post für 20min zu spät – 10^5 wäre wirklich ein toller Entstehungszeitpunkt gewesen, vielleicht klappts ja nächstes oder übernächstes Jahr 😉

  2. #2 maxfoxim
    11. Oktober 2010

    “Es muss ja auch einen Grund haben, dass Physiker 5 oder 6 Semester studieren, bevor sie das erste Mal ein Feynman-Diagramm berechnen dürfen.”

    na dann freu ich mich mal auf dieses oder nächstes Semester 😉