Wenn ein Bauteil versagt, dann geistert meist das Wort “Werkstoffermüdung” durch die Presse. Aber was soll das sein? Können Werkstoffe müde werden? Sollte man ICE-Radreifen oder Achsen ab und an mal ins Bett legen, damit sie sich richtig ausschlafen können?
Natürlich wird ein Werkstoff nicht einfach “müde”, so wie ein Mensch. Der Begriff stammt daher, dass man bei dieser Versagensart ein Bauteil über lange Zeit belastet und dann scheinbar plötzlich und ohne besonderen Grund Versagen eintritt. Als dieses Phänomen entdeckt wurde, hatte man keine Vorstellung, was hier eigentlich passiert, und verglich den Vorgang deshalb mit der Ermüdung eines Menschen. Heutzutage ist der Begriff bei vielen Ingenieuren in Ungnade gefallen und sie sprechen lieber von “Schwingbrüchen” (warum da was schwingt, sehen wir gleich.). Metallphysiker allerdings verwenden das Wort Ermüdung immer noch gern – Physikern ist es ja bekanntlich absolut schnurz, ob ein Begriff, den sie vereinnahmen, im Alltag eine andere Bedeutung hat (ich sage nur “Wirkung”). Ratet mal, welchen Begriff ich im folgenden nehme…
Die Ermüdung hat eine enorme technische Bedeutung – man schätzt, dass etwa 60% aller technischen Schadensfälle an metallischen Bauteilen auf diese Versagensart zurückzuführen ist. (Genau weiß man das nicht, weil nicht bei jedem Schadensteil gleich eine Schadensanalyse vorgenommen wird, die kann nämlich recht aufwändig sein.)
Wenn ein Werkstoff nach längerer Belastungszeit versagt, kann das verschiedene Ursachen haben. Neben der Ermüdung (die ich dann gleich endlich erkläre) kann es noch Versagen durch Verschleiß geben (der Werkstoff wird durch Reibung abgetragen) oder auch durch Korrosion oder Oxidation (“Rosten”). Bei hohen Temperaturen gibt es auch noch das Kriechen, bei dem sich der Werkstoff unter konstanter Last immer weiter dehnt. Die Versagensarten können auch gemischt auftreten, beispielsweise kann Verschleiß einen Ermüdungsbruch auslösen.
Hallo? Können wir jetzt endlich mal klären, was Ermüdung denn nun ist???
Ja, das tun wir jetzt. Zunächst mal rein phänomenologisch: Ermüdung tritt dann auf, wenn ein Bauteil schwingend (man sagt auch zyklisch) belastet wird. Es wirkt also nicht eine konstante Kraft, sondern die Kraft wird aufgebracht, weggenommen, aufgebracht, weggenommen usw. Stellt euch zum Beispiel ein Fahrradpedal vor: Jedesmal, wenn Ihr zutretet, wird das Pedal belastet, in der zweiten Hälfte seiner Umdrehung ist es nicht belastet.
Diese Art der Belastung ist sehr häufig, weil sich in vielen Bauteilen etwas dreht und deshalb die Last sich ständig ändert. Hier mal ein besonders drastisches Beispiel, eine Turbinenwelle in einer Dampfturbine, deren eine Hälfte sich eines Tages verabschiedete, das Dach durchschlug und einen Kilometer entfernt auf einem Feld wieder aufschlug:
(Quelle: Abinger, Hammer, Leopold, Der Maschinenschaden 61:58-60, 1988)
Ein anderes trauriges Beispiel ist der ICE-Radreifen, der zur Katastrophe von Eschede führte (Bild von Wikipedia):
Von Nils Fretwurst – Eigenes Werk, Gemeinfrei, Link
Damit ein Bauteil durch Ermüdung versagt, muss es im Laufe der Zeit offensichtlich irgendwie “geschwächt” werden. Was tatsächlich passiert ist, dass sich winzig kleine Risse im Bauteil bilden und dann unter der zyklischen Belastung wachsen. Nehmen wir an, wir hätten einen kleinen Anriss irgendwo an der Oberfläche unseres Bauteils (wo der herkommt, sehen wir später). Wenn der Riss unter Zug belastet wird, dann öffnet er sich ein bisschen (wenn die Last so klein ist, dass er das nicht tut, dann gibt es an diesem Riss keine Ermüdung). Direkt an der Rissspitze wird die Spannung im Werkstoff sehr groß (das ist an Rissspitzen immer so, weil dort die Spannung “umgeleitet” wird), so dass sich das Material dort ein bisschen plastisch verformt (in Metallen durch Versetzungsbewegung). Wenn man die Last wieder zurücknimmt, dann schließt sich der Riss, aber er ist ein Stück länger geworden:
In einem Be- und Entlastungsschritt wackelt sich der Riss also ein bisschen weiter. Das kann man auf Bruchflächen auch direkt sehen, wenn man sie sich im Elektronenmikroskop ansieht:
Kommentare (23)