Gerade habe ich DIE ZEIT von letzter Woche gelesen. Im Wissensteil gab es ein Interview mit dem Pädagogen Roland Reichenbach. Wieder einmal werden die guten alten Klischees von der ach so schwierigen Mathematik und Naturwissenschaft bedient, und zwar mit absoluter Selbstverständlichkeit und anscheinend ohne dass die Beteiligten es auch nur merken.
Reichenbacher erklärt, dass für die Autorität von Lehrern auch ein gutes Fachwissen notwendig ist:
Wer gut turnen oder zeichnen kann, wer eine Sprache nahezu perfekt beherrscht oder umfassende literarische Kenntnisse besitzt, von dem lässt man sich in der Regel etwas sagen…
Hier geht’s schon mal los – turnen, zeichnen, Sprachen sprechen, Literatur verstehen, damit kann man Leute beeindrucken. Auffallend, was in dieser Liste an Fähigkeiten fehlt, oder?
Kurz darauf sagt der Interviewer Martin Spiewak:
Nun ist das Begeisterungspotential eines Mathematiklehrers allerdings auch begrenzt…
Logisch, für Mathe kann an halt niemanden begeistern, nicht wahr?
Immerhin – hier antwortet Reichenbacher einigermaßen vernünftig, dass ein engagierter Lehrer auch Schülern, die sich nicht für Mathe interessieren, Autorität und Interesse vermitteln kann.
Aber wer damit hofft, Reichenbacher würde dem Klischee der schwer vermittelbaren Naturwissenschaften nicht anhängen, wird etwas später eines besseren belehrt:
Warum etwa sollte sich ein Schüler aus eigenem Antrieb für die Binomischen Formeln interessieren, für den Ablativus absolutus oder den Zitronensäurezyklus?
Na klar – Naturwissenschaften und Mathematik gehören in eine Reihe mit einer grammatischen Konstruktion einer “toten” Sprache, klar, dass man sich dafür nicht interessiert. Naturwissenschaftlich interessierten Schülern wird damit suggeriert, sie seien nicht “normal” – ich fand zu Schulzeiten den Zitronensäurezyklus wesentlich spannender als die Goldene Bulle, Frau Jenny Treibel oder die Gesetze zur Apartheid.
Und zu guter Letzt:
Sozial privilegierten Schülern … fällt es in der Regel leichter, so zu tun, als ob sie die Autorität des Lehrers anerkennen würden…. Sie…tun so, als ob sie Physik interessieren würde, auch wenn das nicht der Fall ist.
Wer sich also nicht für Naturwissenschaft und Mathe interessiert, der soll sich mal keine Sorgen machen, das ist ja auch ganz normal und das geht ja jedem so. Tut einfach so als ob.
Das waren übrigens alle Sätze aus diesem Interview, die sich auf spezifische Inhalte oder Fächer beziehen. Hier die Statistik:
Positiv erwähnt: je einmal Sport, Kunst, Sprachen und Literatur.
Negativ erwähnt: Mathematik zweimal, Physik, Biologie und Latein je einmal.
51 Jahre nach C.P. Snow wird zumindest in der ZEIT die Trennung der zwei Kulturen nach wie vor aufrechterhalten.
In der gleichen Ausgabe beklagt sich übrigens anderswo ein ZEIT-Autor über den Mangel an Fachkräften in Deutschland. Aber da besteht bestimmt gar kein Zusammenhang.
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