Stellt euch vor, Ihr seid irgendwo eingesperrt, um euch herum lauter feste Wände, keine Tür, kein Fenster und keine Ritze nach draußen. Ihr nehmt also kräftig Anlauf und – abrakadabra – findet euch plötzlich außerhalb eures Gefängnisses wieder. Absurd, albern und blödsinniger Science-Fiction-Kram? Nein, nichts als Quantenmechanik.
O.k., auch laut Quantenmechanik ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Trick für euch klappt, ziemlich klein (mathematisch präziser ausgedrückt ziiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeemmmmmmmmmmmlich klein). Aber stellt euch vor, ihr wärt ein Elektron. (Wie was, das könnt ihr euch nicht vorstellen? Andere Scienceblogger erwarten, dass ihr euch vorstellt, ein ganzes Universum zu sein…)
Also, wenn ihr ein Elektron wärt, dann könnte euch das schon passieren. Auch da bräuchtet ihr höchstwahrscheinlich ein paar Versuche, bis ihr durch die Wand kommt, aber als Elektron wär das nicht so schlimm, weil ihr euch ja den Kopf nicht stoßen könnt, wenn ihr bloß ein Elementarteilchen seid.
Dieses Phänomen nennt man den “Tunneleffekt”. Um ihn zu verstehen, erinnert ihr euch am besten nochmal an den zweiten Teil dieser (immer mehr und mehr ausufernden, ich komme mir bald vor wie Tolkien) Serie. Dort hatten wir uns ja Wellenfunktionen im Kastenpotential angesehen. Wir hatten gesehen, dass diese schön wellenförmig aussehen, wenn die Energie des Elektrons hinreichend groß ist, dass die Wellenfunktion aber exponentiell abfällt, wenn die Energie des Elektrons kleiner ist als der Wert des Potentials. Hier zur Erinnerung nochmal das Bild dazu:
Für den echten Tunneleffekt lassen wir jetzt den Kasten außen weg, so dass wir ein Wellenpaket bauen können, das von einer Seite auf unsere Barriere zufliegt. Wir machen die Barriere auch ziemlich schmal, dann erinnert sie eher an eine Gefängnismauer. Die Barriere ist nichts als ein Bereich, in dem das Elektron eine hohe Energie braucht – dort könnten beispielsweise lauter negative elektrische Ladungen sitzen, die das Elektron abstoßen.
Links und rechts der Barriere haben wir dann als Wellenfunktionen unsere inzwischen vertrauten Wellen, aber innerhalb der Barriere muss die Wellenfunktion exponentiell abfallen (Bild von Wikipedia, wobei hier nur der Realteil gezeichnet ist, ich bin anscheinend so ziemlich der einzige auf der Welt, der die hübschen Korkenzieherbilder lieber mag):
Von Felix Kling – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
Links ist die Energie größer als V(x) – im einfachsten Fall können wir annehmen, das V(x) hier Null ist – rechts ebenso. In der Mitte, bei der Barriere, ist die Energie kleiner, deshalb fällt die Funktion hier exponentiell ab.
(Falls sich jemand wundert, dass das Bild unsymmetrisch ist: Es gibt zu jeder Energie zwei solche Wellenfunktionen, eine, die links größer ist und eine, die rechts größer ist.)
Jetzt bauen wir uns wieder ein Wellenpaket, so wie wir das die letzten Male oft gemacht haben, und lassen es von links auf die Barriere zufliegen. Das Wellenpaket besteht ja aus einer Überlagerung von vielen einzelnen Wellen, die so ähnlich aussehen wie die, die ich oben gezeigt habe, und die also innerhalb der Barriere alle exponentiell kleiner werden, aber dort eben nicht Null sind. Deswegen ist es vielleicht gar nicht so verwunderlich, was jetzt passiert (unten im Bild seht ihr eine Uhr mitlaufen, damit ihr wisst, wo das Filmchen anfängt):
(Das schöne Programm, mit dem ich das gemacht habe, kann man hier herunterladen – wer Spaß am Rumspielen hat, sollte es unbedingt ausprobieren..)
Oben im Bild ist hier die Energie der Barriere dargestellt, darunter die Wellenfunktion (genauer gesagt, ihr Realteil), und ganz unten die Aufenthaltswahrscheinlichkeit (das O(x) von neulich)
Trifft die Welle auf die Barriere, so wird sie an ihr reflektiert – dabei wirrt der Realteil der Wellenfunktion ziemlich herum, aber letztlich bewegt sich das Paket nach links. Ein kleiner Teil der Welle wird aber durchgelassen, hier nochmal vergrößert und mit einem Pfeil markiert:
(In der Wahrscheinlichkeitsfunktion sieht man den winzigen Huckel nicht, weil dort ja die Wellenfunktion im Quadrat eingeht.)
Ein anderes schönes Applet, mit dem man das ausprobieren kann, findet ihr hier.
Wie viel der Wellenfunktion an der Barriere reflektiert und wieviel durchgelassen wird, hängt von der Höhe der Barriere und der Breite des Wellenpakets ab. Letztes Mal hatten wir ja gesehen, dass ein räumlich enges Wellenpaket eine breite Impulsverteilung hat und umgekehrt. Da Energie und Impuls zusammenhänge, entspricht eine breite Impulsverteilung einer breiten Energieverteilung. Je breiter die Energieverteilung ist, desto größer ist der Anteil von Wellen mit einer Energie höher als die Barriere und desto leichter ist das Tunneln. (Wenn natürlich der Großteil der beteiligten Wellen Energien hat, die größer sind als die der Barriere, kann man irgendwann nicht mehr von “Tunneln” sprechen.) Eine genaue Berechnung der Wahrscheinlichkeiten zum Durchtunneln oder Nicht-Durchtunneln findet man in jedem besseren Quantenmechanikbuch oder auch bei Wikipedia, aber das übersteigt unser mathematisches Niveau ein wenig.
Der Tunneleffekt hat viele praktische Auswirkungen. Beispielsweise können α-Teilchen eigentlich nicht aus Atomkernen entkommen, weil sie in einem angeregten Zustand eine Energie haben, die der Energie Außen entspricht, dass sie aber eine hohe Barriere überwinden müssen. [Hier war mal ein Bild, aber aus Copyrightgründen musste ich es leider entfernen.] Die kommt dadurch zu Stande, dass die Teilchen innerhalb des Kerns zwar eine hohe Anziehungskraft spüren (deshalb ist das Innere des Kerns wie ein Kastenpotential), knapp außerhalb des Kerns aber eine hohe elektrische Abstoßung (weil die Protonen innerhalb des Kerns ja alle positiv geladen sind und sich deshalb abstoßen). Knapp außerhalb des Kerns kann unser α-Teilchen also eigentlich nicht sein, dank Tunneleffekt kann es diese Barriere aber überwinden. Je nach Höhe der Barriere und Lage der Energieniveaus innen ist das Tunneln mehr oder weniger unwahrscheinlich, deshalb braucht das α-Teilchen mehr oder weniger viele “Tunnelversuche”, bis es endlich den Weg nach draußen findet. Und das ist der Grund, warum radioaktive Elemente so extrem unterschiedliche Halbwertszeiten haben – ist die Barriere vergleichsweise flach, kommen die Teilchen leicht nach Außen, ist sie hoch, ist ein Durchdringen der Barriere sehr unwahrscheinlich.
Kleine Nebenbemerkung: Ich hatte ja neulich schon darauf hingewiesen, dass die Schrödingergleichung bis auf das i aussieht wie eine Wärmeleitungsgleichung und dass es deshalb Analogien zur Thermodynamik gibt. Die gibt es hier auch: In der Thermodynamik können Teilchen Energie durch thermische Fluktuationen bekommen und damit Hindernisse überwinden, für die ihre Energie eigentlich nicht ausreicht. Der Kehrwert der Temperatur entspricht dabei genau unserem ħ. Gerade in der Materialwissenschaft ist diese thermische Aktivierung ziemlich wichtig (wieder ein Thema für meine Themenliste, wenn die thermische Aktivierung zu schwach ist, dann können nämlich auch mal Schiffe zerbrechen…)
Aber wieder zurück zur Quantenmechanik. Bisher haben wir unsere Wellenfunktion ja immer so interpretiert, dass wir gesagt haben, O(x,t)=Ψ*(x,t)Ψ(x,t) ist die relative Häufigkeit, mit der wir ein Teilchen zur Zeit t am Ort x finden, wenn wir sehr viele Teilchen betrachten, die alle dieselbe Wellenfunktion haben. Nehmen wir also lauter Elektronen und schießen sie auf lauter Barrieren, so werden einige per Tunneleffekt durchkommen, andere dagegen werden reflektiert. Wenn wir Detektoren weit weg von der Barriere aufstellen, dann kommen einige Elektronen beim Detektor hinter der Barriere an, andere beim Detektor vor der Barriere, weil die Wellenfunktion sich ja sozusagen “aufspaltet”.
So weit, so gut. Aber was tut denn nun die Wellenfunktion eines einzigen Elektrons? Bevor ich das Elektron in einem der Detektoren messe, ist die Wellenfunktion aufgespalten. Aber ich messe ja nicht ein halbes Elektron hier und ein halbes dort – Elektronen kann man nicht in Stücke schneiden. Was passiert also mit dem Teil der Wellenfunktion weit hinter der Barriere, wenn ich das Elektron hier im Detektor auf dieser Seite messe? Dort auf der anderen Seite ist dann doch die Wahrscheinlichkeit Null, denn ich weiß ja, dass das Elektron hier ist, also muss Ψ(x,t) ganz woanders verschwinden. Wie steckt diese Veränderung der Wellenfunktion in der Schrödingergleichung?
Gar nicht. Obwohl die Schrödingergleichung die zeitliche Veränderung von Wellenfunktionen korrekt beschreibt, bricht sie vollkommen zusammen, wenn wir unser Elektron messen. Das ist das berühmte Messproblem der Quantenmechanik und ist mir natürlich einen eigenen Teil wert.
Gesamte Serie zur Schrödingergleichung:
Teil I: die Gleichung
Teil II: Warum die Energie quantisiert ist
Teil III: Jetzt wird’s komplex
Teil IV: Alles im Kasten
Teil V: Alles zu seiner Zeit
Teil VI: Alles unscharf?
Teil VII: Mit dem Kopf durch die Wand
Das Ende der Schrödingergleichung
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