Für Anwendungen wichtig ist noch ein zweiter Effekt, die Superelastizität: Dabei liegt die Legierung knapp oberhalb der Umwandlungstemperatur, also in der “quadratischen” Phase und nicht in der “Salmiphase” vor. Wenn man jetzt verformt, dann ist es oberhalb einer bestimmten Spannung energetisch günstiger, Quadrate zu Salmis umzuklappen als den Kristall anders (beispielsweise durch Versetzungen) zu verformen:
Nimmt man die Last weg, so bildet sich sofort wieder die “quadratische” Phase, die Verformung geht also zurück. Damit kann man jetzt sehr große reversible Verformungen erreichen, wie es sie bei Metallen sonst nicht gibt.
Der genaue Wert der Umwandlungstemperatur kann durch die Legierungszusammensetzung bestimmt werden und lässt sich in der Praxis gut einstellen, so dass man je nach Wunsch einen Formgedächtnis- oder einen Superelastizitätseffekt bekommt.
Anwendungen gibt es inzwischen auch einige. Wer genügend Kleingeld hat, kann sich z. B. ein Brillengestell aus einer superelastischen Formgedächtnislegierung gönnen. Das braucht keine Scharniere mit fipselig kleinen Schrauben mehr, die im Zweifel irgendwann rausfallen, sondern kann einfach wegen seiner Superelastizität zusammengeklappt werden (aber nur im Etui, sonst klappt es sich natürlich gleich wieder auf). Ein weiterer Vorteil ist, dass die Brille immer fest auf der Nase sitzt, weil bei der superelastischen Verformung die Spannung konstant bleibt – wenn die Brille also auf einen Nasenbuckel rutscht, dann drückt sie dort nicht unangenehm, und wenn sie vom Buckel wieder runterrutscht, dann ist sie immer noch fest.
Wenn euch die Optikerin erzählt, die Brille sei so verformbar, weil sie aus Titan ist, dann ist das nur die halbe Wahrheit, denn wie schon kurz erwähnt ist die am häufigsten verwendete Formgedächtnislegierung eine Nickel-Titan-Legierung (kurz “Nitinol” genannt, Ni wie Nickel, Ti wie Titan, Nol wie “Naval ordnance Lab”, wo die Legierung entwickelt wurde). Nickel-Titan klingt aber nicht so gut, zum einen, weil ja Titan sowieso der coole Werkstoff mit dem Science-Fiction-Image ist (ich sage nur “Iris des Stargate” oder “Doc Ock”), zum anderen, weil es ja Leute mit Nickel-Allergie gibt. (Soweit ich weiß, löst aber Nickel-Titan als Legierung keine Allergien aus.)
Auch Zahnspangendrähte macht man gern aus diesen Legierungen – wegen der konstanten Spannung muss man die nicht so oft nachjustieren, wenn der Zahl sich ein Stück verschoben hat.
Eine andere Anwendung sind Stents – Gefäßstützen, mit denen z.B. Adern offengehalten werden können, die zu kollabieren drohen (weil die Arterien mit ekliger Plaque zugepappt sind):
Von Frank C. Müller – Eigenes Werk, CC BY-SA 2.5, Link
Macht man diese Stents aus einer superelastischen Legierung, dann kann man sie leicht in einen Katheter stecken, an die richtige Stelle transportieren und dort den Katheter zurückziehen, so dass sich der Stent entfaltet. Den gleichen Trick kann man auch per Formgedächtniseffelt erreichen: Stent bei Kühlschranktemperatur zusammenknüllen, vorschieben und sich dann im warmen Körper auseinanderfalten lassen.
Man kann den Formgedächtniseffekt auch bei der Knochenheilung einsetzen: Eine Klammer wird bei niedriger Temperatur in zwei Löcher im Knochen eingebracht und zieht sich dann nach Erwärmen zusammen, so dass die Knochenstücke zusammengepresst werden und so besser verheilen können.
Auch zum Verbinden von Leitungen eignen sich Formgedächtnislegierungen – abgekühlt stülpt man sie über die zu verbindenden Stücke, nach dem Zusammenziehen halten sie diese fest und sicher zusammen.
Kotflügel wird man aber auf absehbare Zeit nicht aus Nitinol bauen – dafür ist das Material wohl zu teuer und wie gut das Crash-Verhalten ist, weiß ich auch nicht. Also lasst euer Auto besser beulenfrei.
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