Die Entropie ist verantwortlich für viele alltägliche Phänomene: Die Elastizität von Gummi, das Schmelzen von Eis oder das Verhalten von Metalllegierungen sind nur ein paar Beispiele. Wie kann eine Größe, die letztlich nur Möglichkeiten abzählt, solche Phänomene bewirken?
Das möchte ich an einem einfachen (aber durchaus wichtigen) Beispiel veranschaulichen: Viele Metalle liegen ja als Legierung vor, bei denen also unterschiedliche Elemente gemischt sind. Dabei gibt es solche Elemente, die sich beliebig mischen lassen (zum Beispiel Gold und Silber) und andere, die sich nicht so gern mischen (zum Beispiel Gold und Nickel). Bei denen stellt man fest, dass sie sich bei niedrigen Temperaturen immer schlechter mischen lassen als bei hohen. Man zeichnet das in sogenannten Phasendiagrammen ein. Hier als Beispiel das Phasendiagramm von Gold und Nickel (Das Diagramm beruht auf einem Bild, das ich hier gefunden habe.):
Was ist hier aufgetragen? Auf der senkrechten Achse steht die Temperatur, auf der waagerechten Achse die Konzentration von Nickel. Ganz links (bei 0%) hat man also reines Gold, ganz rechts (bei 100%) hat man reines Nickel. Wenn man beispielsweise bei 500°C zu Gold mehr und mehr Nickel zulegiert (praktisch würde man das dazu natürlich aufschmelzen, weil es sonst extrem lange dauern würde, bis sich die Atome mischen), dann werden zunächst einzelne Nickelatome im Gold gelöst – sie setzen sich auf Plätze im Kristallgitter, auf denen eigentlich Goldatome sitzen würden, was man sich etwa so vorstellen kann (hier ist ein blaues Nickelatom in einem Gitter aus lauter roten Goldatomen angeordnet):
Wenn man aber immer mehr Nickel zum Gold hinzutut, dann mischt sich das Nickel irgendwann nicht mehr – es bilden sich dann getrennte Bereiche. Einige davon sind goldreich (mit ein bisschen Nickel), einige sind nickelreich (mit ein bisschen Gold). Das ist der blau schraffierte Bereich im Diagramm. Schematisch kann man sich das so vorstellen:
Man spricht hier auch oft von zwei Phasen, die eine besteht vor allem aus Gold, die andere aus Nickel.
Interessant ist nun, dass der blau schraffierte Bereich nach oben hin immer schmaler wird und schließlich bei einer bestimmten Temperatur (etwa 800°C) ganz verschwindet. Bei niedrigen Temperaturen wird er dagegen immer größer, so dass sich die Metalle fast gar nicht mehr ineinander lösen. Und daran ist niemand anders schuld als die Entropie.
Bei sehr niedrigen Temperaturen (wenn die Temperatur gegen den absoluten Nullpunkt geht) befinden sich Systeme im Zustand niedrigster Energie – das folgt direkt aus den Überlegungen aus dem letzten Text zur Entropie. (Wer den nicht gelesen hat, sollte das jetzt vielleicht nachholen, ich warte solange … Alle wieder da? Gut, dann geht’s jetzt weiter.) Da bei niedrigen Temperaturen kein Nickel in Gold gelöst werden kann, können wir daraus folgern, dass es Energie kostet, im Kristallgitter ein Goldatom durch ein Nickelatom zu ersetzen – Goldatome umgeben sich lieber mit ihresgleichen als mit Nickel.
Betrachten wir also ein System aus 20 Gold- und 20 Nickelatomen, dann werden die bei sehr niedrigen Temperaturen schön getrennt vorliegen:
In der Sprache vom letzten Mal haben wir hier einen einzigen Mikrozustand (ein Zustand, in dem die Lage jedes Atoms genau beschrieben ist) zum Makrozustand (ein Zustand, den man makroskopisch von anderen unterscheiden kann) mit niedrigster Energie. (Umordnen der beiden Blöcke als Ganzes und Effekte an der Grenzfläche betrachte ich hier nicht, auch nicht die Schwingung der Atome auf ihren Gitterplätzen, ich konzentriere mich hier nur auf die Anordnung der Atome im Gitter.)
Was passiert nun, wenn wir die Temperatur erhöhen? Die Wahrscheinlichkeit für den energetisch günstigsten Zustand ist immer noch größer als die für die anderen Zustände, aber weil die Wahrscheinlichkeit mit zunehmendem E/kT schnell abnimmt (E war die Energie, T die Temperatur und k die Boltzmann-Konstante), wird der Unterschied in den Wahrscheinlichkeiten kleiner, wenn man T größer macht. Das folgende Bild zeigt die Wahrscheinlichkeiten als Funktion der Temperatur (in absolut willkürlichen Einheiten) für ein System mit sechs unterschiedlichen Mikrozuständen zunehmender Energie (rot ist der Grundzustand, gelb der mit der höchsten Energie):
Bei sehr niedrigen Temperaturen ist alles rot – das System ist immer im Grundzustand mit der niedrigsten Energie. Je höher die Temperatur wird, desto größer wird der Anteil der anderen Mikrozustände, aber kein Mikrozustand wird jemals wahrscheinlicher als der rote Zustand.
In unserer Gold-Silber-Legierung sieht die Sache allerdings ein bisschen anders aus: Dort gibt es genau einen Mikrozustand für den Grundzustand mit niedrigster Energie. Für den Zustand, wo ein Nickelatom im Gold gelöst ist, gibt es aber 20 Möglichkeiten (weil das Nickelatom auf jedem der 20 Gold-Gitterplätze sitzen kann.). Berücksichtigen wir zusätzlich, dass natürlich dann auch ein Goldatom drüben im Nickelgitter sein muss, dann gibt es dafür nochmal 20 Möglichkeiten. Es gibt also 400 Mikrozustände, bei denen ein Atom der einen Sorte im anderen Gitter gelöst ist.
Oberhalb einer bestimmten Temperatur wird der Makrozustand “Ein Nickelatom im Gold gelöst (und umgekehrt)” wahrscheinlicher als der Makrozustand “Nickel und Gold getrennt”, weil es dazu eben vierhundert Mikrozustände gibt. (Ich habe hier Effekte an der Grenzfläche vernachlässigt, weil es ja nur ums Prinzip geht.) Schematisch sieht das etwa so aus:
Hier habe ich den Fall gezeichnet, dass es 5 Mikrozustände gibt, die alle eine höhere Energie haben als der Grundzustand. Sie sind mit blauen Linien voneinander abgegrenzt, aber alle Bereiche sind gleich (grün) markiert, weil sie alle zum selben Makrozustand gehören. Bei niedrigen Temperaturen dominiert der rote Zustand, oberhalb einer bestimmten Temperatur ist es aber wahrscheinlicher, das System in einem der “grünen” Zustände anzutreffen.
Hier wieder meine neueste Erfindung (o.k., Bei D. Knuth im TeX-Buch geklaut) – wer Formeln nicht so mag, überspringt diese Absätze mit dem Warnschild einfach. Hier betrachten wir das ganze etwas quantitativer: Nehmen wir an, wir haben N Gold- und N Nickel-Atome. Ein Goldatom im Nickel zu haben und ein Nickelatom im Gold kostet eine bestimmte Energie Em (“m” wie “misch”). Die Wahrscheinlichkeit für den Grundzustand (mit E=0) ist p=1/Z (Z ist wieder die Zustandssumme aus dem letzten Teil, die kürzt sich am Ende aber raus). Die Wahrscheinlichkeit für einen der Zustände mit einem gelösten Atom ist
p=exp(-Em/kT) / Z.
Für den Grundzustand gibt es genau eine Möglichkeit. Es gibt aber N2 Möglichkeiten, jeweils ein Atom von der einen Seite auf die andere zu bringen. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit für den Makrozustand mit einem gelösten Atom
pm= N2 exp(-Em/kT) / Z .
Bei welcher Temperatur werden beide gleichwahrscheinlich? (Das ist dann die Temperatur, oberhalb derer wir in einem sehr großen System eine Mischung beobachten werden.) Da ist also
N2 exp(-Em/kT) / Z = 1/Z also (mit ein bisschen Formelei)
T = Em / 2 k ln N.
Wenn die Temperatur zunimmt, wird also irgendwann der Zustand mit einem gelösten Atom wahrscheinlicher. Was ist mit dem Lösen von zwei Atomen? Das zweite Atom zu lösen, kostet nochmal genausoviel Energie (ich vernachlässige Effekte dadurch, dass die beiden Nickelatome sich in der Realität vielleicht nebeneinandersetzen würden und dadurch Energie sparen). Wieviele Möglichkeiten gibt es dafür? Wenn wir zu dem jeweils einen Atom noch ein zweites hinzusetzen, haben wir jetzt nur noch 19 Plätze statt 20, denn einer ist ja schon besetzt. Außerdem halbiert sich die Zahl der Möglichkeiten, weil es ja egal ist, ob ich das erste oder das zweite Atom auf einen bestimmten Platz setze. Es gibt also 20⋅19/2 = 190 Möglichkeiten. (Die müssen wir dann quadrieren, weil wir ja dieselbe Zahl auch auf der Nickelseite haben.) Die Entropie, die ja von der Zahl der Möglichkeiten abhängt, steigt durch das Hinzufügen des zweiten Atoms nicht mehr so stark (das liegt daran, dass in der Formel ein Logarithmus steht – wer das im Detail verstehen will, muss sich an die Warnbereiche heranwagen). Entsprechend muss die Temperatur etwas höher sein, damit wir zwei Atome lösen können als bei einem Atom.
Wir haben jetzt N⋅(N-1)/2 Möglichkeiten. Wir fragen uns jetzt, wann dieser Zustand wahrscheinlicher wird als der mit einem gelösten Atom. (Den mit Null gelösten Atomen ignorieren wir, weil wir davon ausgehen, dass wir bei einer noch höheren Temperatur herauskommen, werden; etwas schlampig, aber am Ende kommt was Vernünftiges raus – das ganz korrekte Ergebnis weicht nur geringfügig ab). Rechnet man genau wie oben, dann ergibt sich
T = Em / 2 k ln ((N-1)/2).
Diese Temperatur ist höher als die von eben (der Nenner ist kleiner) – entsprechend der anschaulichen Erwartung, dass das Wegfallen zusätzlicher Möglichkeiten den Entropiegewin verringert und die benötigte Temperatur erhöht.
Wir können auch direkt mit der Entropie argumentieren: Für den Grundzustand ist S=k lnΩ = 0 (da es nur eine Möglichkeit gibt, Ω war ja die Zahl der Mikrozustände). Für den Zustand mit einem gelösten Atom ist
S=k ln N2= 2 k ln N.
Dies ist dann auch der Entropiegewinn.
Bei zwei gelösten Atomen haben wir
S=k ln (N (N-1) /2)2= 2 k ln N + 2 k ln (N-1) – k ln2.
Der Entropiegewinn gegenüber dem Zustand mit einem gelösten Atom ist nur noch 2 k ln (N-1) – ln2, also etwas kleiner. Da die Energie aber um denselben Betrag steigt, ist klar, dass die Temperatur etwas höher liegen muss.
Vergleicht man diese Formeln mit der Temperaturberechnung oben, dann sieht man, dass da gerade die Entropie im Nenner steht und die Energie im Zähler. Das ist kein Zufall, sondern hängt mit der berühmten Freien Energie zusammen. Dazu schreibe ich sicherlich demnächst noch etwas mehr.
Insgesamt sehen wir also, dass die Entropie der Mischung mit zunehmender Anzahl gelöster Atome zwar steigt, aber langsamer, als sie es müsste, um die zunehmende Energie zu kompensieren. Erhöhen wir die Temperatur, so lösen sich zunehmend mehr Atome – erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, dann steht ein Mischkristall vor der Tür, denn oberhalb einer bestimmten Temperatur mischen sich die beiden Atomsorten völlig frei. (Viele Legierungen schmelzen allerdings, bevor das passiert.)
Man kann dies auch technisch ausnutzen, um beispielsweise Legierungen fester zu machen. Wenn wir eine Gold-Nickel-Legierung verfestigen wollen, dann können wir soviel Nickel zufügen, dass das Nickel bei Raumtemperatur (wo wir die Legierung einsetzen wollen) sich nicht mehr vollständig mit dem Gold mischt. Wir erwärmen die Legierung, bis wir im Mischbereich sind und lassen sie dort eine Weile (das heißt ganz anschaulich “Lösungsglühen” – man glüht, bis sich alles löst.). Die Nickelatome lösen sich wegen des Entropiegewinns im Gold; weil die Temperatur hoch ist, können sie sich (per Diffusion) auch relativ frei durchs Gitter bewegen.
Kühlt man jetzt schlagartig auf Raumtemperatur ab, so sind die Nickelatome im Goldgitter gelöst, obwohl sie lieber von Nickelatomen umgeben wären. Sie können aber nicht einfach Nickel-Bereiche bilden, weil sie sich dazu durchs Gitter bewegen müssten, was bei niedrigen Temperaturen sehr lange dauert. Jetzt erwärmt man die Legierung ein bisschen, gerade so viel, dass die Nickelatome ein bisschen Beweglichkeit gewinnen. (Das nennt man “Auslagern”.) Die Nickelatome finden sich zusammen – weil die Bewegung durch das Gitter aber immer noch langsam ist, bilden sich viele kleine Nickelteilchen, die man auch Ausscheidungen nennt. Wieder zurück auf Raumtemperatur abgekühlt und unsere Legierung ist fertig. Die kleinen Ausscheidungen, die nur wenige Nanometer groß sind, behindern nämlich jetzt die Bewegung von Versetzungen, die ja für die Verformbarkeit zuständig sind. Damit wird die Legierung verfestigt.
Nickel-Gold ist nicht gerade die technisch relevanteste Legierung, aber viele Aluminium-Legierungen werden mit diesem Mechanismus verfestigt, ebenso Nickellegierungen.
Das Schmelzen von Eis beruht, wie oben erwähnt, auch auf der Entropie: Bei niedrigen Temperaturen liegt Wasser in einem Kristallverbund vor. Der hat eine niedrigere Energie als flüssiges Wasser, aber natürlich gibt es viel weniger Möglichkeiten, die Wassermoleküle in einem Kristall anzuordnen als sie im flüssigen Zustand irgendwie herumsausen zu lassen. Oberhalb einer bestimmten Temperatur gewinnt deshalb die Entropie und das Eis schmilzt.
Ich hoffe, dieses ausführliche Beispiel hat das Wirken der Entropie noch etwas anschaulicher gemacht. In der Praxis zählt man meistens keine Mikrozustände ab, sondern behilft sich mit rein makroskopischen Größen wie beispielsweise der sogenannten “Freien Energie”. Wie die funktioniert, ist eine andere Geschichte und soll ein andernmal erzählt werden…
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