Physikerinnen1 sind für Außenstehende manchmal schwer zu verstehen. Licht wird beispielsweise je nach Bedarf mal als Lichtstrahl, mal als Welle, mal als Photon beschrieben und mit diesen unterschiedlichen Modellvorstellungen argumentiert, so als hätte mensch die Freiheit, sich das gerade passende Modell vom Modellbuffet auszusuchen. Sollte es nicht ein Modell für alles geben? Wieso dürfen die das?
1Ja, heute mal wieder in weiblicher Form, hatte ich schon ne Weile nicht…
In diesem Text will ich zeigen, dass dieses “Modelldenken” etwas ganz Normales ist, das ihr alle im Alltag genauso betreibt, nur ist es da so selbstverständlich, dass ihr euch das nicht einmal bewusst machen müsst.
Stellt euch vor, ihr wollt euren neuen besten Kumpel besuchen. Er heißt Quexllotzquotquot (ich hoffe, ich schreibe das richtig) und ist Halb-Azteke, weswegen er auch noch nie ein Fahrrad gesehen hat – die Azteken kannten ja bekanntlich kein Rad. (O.k., ich geb’s zu, diese Annahme ist jetzt nicht sooo alltäglich, aber die dient hier auch nur zur Illustration.) Quexllotzquotquot wohnt im Nachbardorf Hintertupfingen. Ihr ruft ihn kurz an (ja, moderne Kommunikationsmittel hat Q. super begriffen) und sagt “Es sind etwa 12 Kilometer, ich bin so in einer halben Stunde da, ich komme mit dem Fahrrad.”
Als ihr in den Keller geht, um das Rad raufzuschleppen, sehr ihr, dass der Bowdenzug für die Gangschaltung gerissen ist – ihr müsst die ganze Strecke im 1. Gang fahren. Das wird natürlich etwas länger dauern, also schickt ihr schnell ne SMS “Komme später, Gangschaltung am Fahrrad geht nicht.”
Dann fahrt ihr fröhlich los. Unterwegs rumpelt ihr leider unvorsichtig gegen einen Kantstein und euer Hinterrad bekommt eine Acht – es schleift mächtig an der Bremse. Zum Glück habt ihr einen Speichenspanner dabei und bekommt die Acht wieder herausgedreht, aber natürlich dauert auch das.
Es dämmert bereits, als ihr kurz vor Hintertupfingen seid. Leider streikt jetzt auch noch der Dynamo, was nicht so schlimm wäre, wenn euch nicht Dorfpolizist Alois Dimpfelmoser begegnen würde, der euch einen ellenlangen Vortrag über die Gefahren des lichtlosen Fahrens hält.
Viel später als erwartet kommt ihr endlich bei Quexllotzquotquot an. Vor Qs Haus gibt es leider keinen Fahrradständer oder etwas ähnliches, also bittet ihr ihn um seinen Kellerschlüssel. Als ihr dann endlich bei Q. in der Wohnung seid, freut ihr euch, einen reich gedeckten Abendbrottisch zu sehen. “Das ist gut, Radfahren macht hungrig” sagt ihr.
Als der größte Hunger gestillt ist, beginnt folgender Dialog
Q: Darf ich dich mal fragen, was genau nun eigentlich ein Fahrrad ist?
Ihr: Naja, ein Verkehrsmittel halt. Geht schneller als der Bus hierher, der fährt ja so selten, ich schaffe so etwa 25km/h damit.
Q: Aha, deswegen sagtest du auch, dass du in einer halben Stunde hier sein würdest. Aber irgendwie stimmte da ja was nicht wegen dieser Gangschaltung.
Ihr: Ja, ohne Gangschaltung ist so ein Fahrrad halt deutlich langsamer, weil mensch kräftiger in die Pedale treten muss.
Q: Aber wenn ich deinen genervten Gesichtsausdruck richtig verstehe, hattest du noch mehr Ärger, oder?
Ihr erklärt kurz die Geschichte mit der Acht und mit dem guten Dimpfelmoser.
Q sieht langsam verwirrt aus. “Und wozu genau brauchtest du nun den Kellerschlüssel?”
Ihr: Naja, so ein Fahrrad ist ja auch ein Wertgegenstand.
Q denkt eine Weile nach. Dann schaut er euch an und sagt:
“Ganz ehrlich, ich glaube, du hast keine Ahnung, was eigentlich ein Fahrrad ist. Erst sagst du, es ist ein Verkehrsmittel, mit dem du etwa 25km/h schaffst. Dann ist da plötzlich dieses Gangschaltungsdings, und du schaffst deutlich weniger, deine Verkehrsmitteltheorie war also falsch.
Und Speichen spielen dann plötzlich auch eine Rolle, wenn es mal nicht vorwärtsgeht, davon hattest du vorher überhaupt nichts gesagt.
Und wenn das Fahrrad kein Licht hat, dann bekommt mensch Ärger mit der Polizei – also ist es dann plötzlich ein Objekt, das den Verkehrsgesetzen genügen muss? Ein Wertgegenstand soll es auch noch sein und wenn ich mir angucke, wieviele Maisfladen du verputzt hast, dann ist es zusätzlich auch noch irgendwie etwas, das hungrig macht. Was denn nun?”
Ihr seht, im Alltag sind unterschiedliche Modelle für dieselbe Sache gang und gäbe. Wenn ich überlege, wie lange ich nach Hintertupfingen brauche, dann denke ich bei meinem Fahrrad nicht an die Mechanik im Tretlager (es sei denn, es ist kaputt), sondern habe ein ganz vereinfachtes “Bring-mich-vonA-nach-B”-Modell. Dieses Modell reicht aber in manchen Situationen nicht aus, und dann denke ich plötzlich doch über die Details des Fahrrads nach.
Genauso ist es in der Physik. Nehmen wir Licht als Beispiel. Wenn ich ein Periskop bauen will, dann kann ich die einfache geometrische Optik anwenden: Licht bewegt sich in geraden Linien, an Spiegeln gilt Einfallswinkel=Ausfalswinkel. Für eine einfache Lupe nehme ich noch das Brechungsgesetz hinzu. Dieses ganz einfache Lichtmodell entspricht dem einfachen “von-A-nach-B”-Modell des Fahrrads.
Wenn ich aber genauer hinsehe, dann gibt es Effekte, die dieses einfache Modell nicht erklären kann. An scharfen Kanten oder schmalen Öffnungen gibt es zum Beispiel Beugungseffekte, auf Pfützen mit einem Ölfilm schillern Farben. Diese Effekte kann mein einfaches Lichtmodell mit der geometrischen Optik nicht erfassen, genauso wie mein ganz einfaches Fahrrad-Modell den Effekt der kaputten Gangschaltung nicht erfassen kann. Bei Licht geht mensch deshalb zum Wellenmodell über, mit dem auch diese Beugungseffekte beschrieben werden können. Die geometrische Optik ist also streng genommen eine falsche Theorie – genauso wie eure kleine Fahrradtour gezeigt hat, dass das einfache A-nach-B-Modell streng genommen falsch ist.
Praktisch war es aber trotzdem – und wenn ihr morgen nach Kleinkleckersdorf radeln müsst (und das Fahrrad wieder in Ordnung ist), werden ihr wieder mit dieser Theorie arbeiten, weil sie einfach und bequem ist. Sie ist eine gute Näherung an das “wahre” Verhalten des Fahrrads für Fälle, in denen das Fahrrad einwandfrei funktioniert. Die einfache Fahrrad-Theorie hat einen Gültigkeitsbereich (gilt für heile Fahrräder). Genauso ist es mit der geometrischen Optik: Sie hat auch einen Gültigkeitsbereich, sie gilt für große Systeme mit langen Lichtwegen und hinreichend großen Abständen. Wenn Beugung oder Interferenz auftritt, dann hilft das einfache Modell aber nicht weiter; stattdessen verwendet mensch das Wellenmodell.
Licht kann sich aber auch ganz anders verhalten, nämlich ähnlich wie ein Teilchen. Immer dann, wenn Licht in kleinen Mengen emittiert oder absorbiert wird, dann geschieht dies “portionsweise”. Das sind die sogenannten “Photonen”, die Lichtteilchen. Bei der Lichtabsorption und -emission sind die Welleneigenschaften des Lichts irrelevant. Ähnlich war es auch beim Fahrrad: Als ihr dem guten Dimpfelmoser begegnet seid, da waren die Fahreigenschaften des Rads vollkommen irrelevant – wichtig war nur, dass seine Sicherheitsausstattung nicht dem Gesetz entsprach.
(Kleine Warnung: Nein, diese Analogie kann mensch hier nicht zu weit treiben, weil die beiden Eigenschaften beim Fahrrad nichts miteinander zu tun haben, während Welleneigenschaften und Teilcheneigenschaften sich scheinbar widersprechen.)
Trotzdem ist euer Fahrrad natürlich ein einheitliches, real existierendes Ding, und obwohl es verschiedene Aspekte hat, lassen sich alle diese Aspekte widerspruchsfrei aufzählen. Beim Licht ist es ähnlich, aber tatsächlich einfacher: Wellen- und Teilchenaspekte lassen sich beide aus der Quantenelektrodynamik ableiten. Das wird in der Praxis beispielsweise dann wichtig, wenn mensch sich detailliert über Laserlicht oder die Wechselwirkung von Licht mit Elementarteilchen Gedanken machen will – da erreicht mensch dann die Grenzen auch des Wellen- oder Teilchenmodells. Anders als bei unserem Fahrrad gibt es beim Licht eine einheitliche fundamentale Theorie, die die anderen Aspekte alle beinhaltet; beim Fahrrad brauche ich einerseits die Mechanik, andererseits die Verkehrsgesetze.
Ach ja, das Fahrrad als Sportgerät, das einen hungrig macht, hat auch eine Analogie beim Licht. Hungrig werdet ihrm weil der Körper ja die Energie bereitstellt – eine Wechselwirkung mit der Physiologie. Beim Licht gibt es auch eine Wechselwirkung mit unserer Physiologie – am augenfälligsten beim Farbsehen. Dass und wie wir Farben erkennen, ist eine komplizierte Wechselwirkung zwischen den Eigenschaften des Lichts und denen der lichtabsobierenden Moleküle in der Netzhaut.
Licht kann also auf verschiedene Weisen beschrieben werden, genau wie unser Fahrrad. Welches Modell ich gerade nehme, hängt davon ab, was genau ich herausfinden will – für einfache Fälle reicht die geometrische Optik, im Extremfall muss ich zur Quentenelektrodynamik übergehen. Die Kunst der Physikerinnen besteht gerade darin, genau zu wissen wann welches Modell noch anwendbar ist und wann nicht mehr.
Alle Modelle haben aber ihre Berechtigung, denn um beispielsweise die Reflektion von Licht an den beiden Spiegeln eines Periskops mit der QED zu berechnen, würde mensch vermutlich seeehr lange brauchen – genau wie ihr seeehr lange brauchen würdet, um mit einem detaillierten Fahrradmodell einschließlich Speichen, Tretlager, Gangschaltung etc. zu berechnen, wie lange die Fahrt zu Quexllotzquotquot dauern würde.
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