Im ersten Teil dieser Serie haben wir gesehen, dass man eine gekrümmte Fläche mit geeigneten Landkarten beschreiben kann. Hier im zweiten Teil malen wir erstmal Linien, Dreiecke und Kreise in unseren gekrümmten Räumen. Damit können wir dann eine erste Idee bekommen, wie die Sonne den Raum krümmt.
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist (k)eine Gerade
Die Raumkrümmung (beschrieben durch den von Ort zu Ort wechselnden Maßstab) ist auch für ein anderes wichtiges Phänomen verantwortlich: Bestimmt habt ihr euch irgendwann mal darüber gewundert, dass Flugrouten für lange Strecken auf Karten nie gerade aussehen. Fliegt man beispielsweise von Deutschland nach Japan (so wie ich vor zwei Jahren, das war super…), so führt der kürzeste Weg nicht etwa über Kasachstan und die Mongolei, sondern eher über Sibirien:
(Bild gemacht mit dem Programm auf https://www.distancefromto.net/. Ähnlich gut ist auch der Rechner von daftlogic.)
An unserer Karte vom letzten Mal lässt sich das leicht verstehen: Da nach Norden hin die Abstände zwischen den Längengraden immer kleiner werden, führt der kürzeste Weg von West nach Ost nicht genau entlang eines Breitengrades, sondern etwas nach Norden:
Dabei muss ich zwar einen Nord-Süd-Umweg machen, aber in Ost-West-Richtung wird die Strecke reduziert, so dass ich netto etwas gewinne. Wenn ihr euren Globus zur Hand habt, dann könnt ihr das mit einem gespannten Faden ausprobieren, mit dem ihr zwei Punkte verbindet.
Normalerweise nennt man die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ja eine Gerade. Auf der Erdoberfläche ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ein Abschnitt eines Kreisbogens, der genau den Erdumfang hat. Betrachtet man den Globus im dreidimensionalen Raum, so erkennt man, dass der Kreisbogen gekrümmt ist; innerhalb unserer Kartenwelt ist aber dieser Weg (obwohl er nicht genau auf unserem Koordinatengitter verläuft) der kürzeste und damit geradeste Weg, den wir finden können. Auch hier ist es wieder so, dass man alles, was man am Globus sehen kann, auch nur mit der geeigneten Karte herausbekommen kann – die Metrik (also der verzerrte Maßstab der Karte) reicht.
Eine solche Linie, die zwei Punkte auf die kürzest-mögliche Weise verbindet, heißt Geodäte. (Auf der Kugel spricht man manchmal auch von Orthodromen.) Sie ist für alles, was jetzt kommt, extrem wichtig. Also: diesen Begriff merken.
Nachtrag: Dies ist nicht die exakte Definition einer Geodäten – jede kürzeste Verbindung ist eine Geodäte, aber nicht jede Geodäte ist automatisch eine kürzeste Verbindung. Der Weg vom Norpol über den 180sten Längengrad zum Südpol und dann nach Greewich ist eine Geodäte, aber nicht die kürzeste Verbindung (die geht direkt vom Nordpol nach Greenwich). Darauf hat mich gerade “physiker” in den Kommentaren hingewiesen.
Dreiecke
Als nächstes betrachten wir Dreiecke. Dreiecke haben bekanntlich drei Ecken (das legt der Name ja irgendwie nahe), die mit geraden Seiten verbunden werden. Auf unserer gekrümmten Fläche sind diese geraden Seiten jetzt allerdings Geodäten, keine einfachen Geraden. Aber bevor wir uns ein solches Dreieck angucken, hier erstmal ein handelsübliches Dreieck in der Ebene, ganz ohne verzerrte Maßstäbe und Ähnliches:
Eingezeichnet habe ich drei Winkel, a, b und c und ein paar Hilfslinien.
Mit denen beweisen wir jetzt den bekannten Satz “Die Winkelsumme im Dreieck beträgt 180°”. Keine Sorge, wenn ihr keine Beweise mögt, den hier werdet ihr mögen, denn er ist wunderbar einfach. Ihr malt also ein großes Dreieck wie das oben auf den Boden. Dann stellt ihr euch in der Ecke des Winkels a genau auf das Dreieck. Vor euch tragt ihr einen Stock, der genau parallel zur Kante zeigt, die von a nach b führt. Jetzt geht ihr los, dabei achtet ihr darauf, den Stock immer genau parallel zur Kante zu lassen. (Diese Aktion heißt deshalb bei Mathematikerinnen auch “Paralleltransport”.) In der b-Ecke angekommen, dreht ihr euch jetzt, bis der Stock parallel zur Kante b-c liegt. Der Drehwinkel, den ihr braucht, ist dabei 180°-b. (Falls das nicht offensichtlich erscheint, dreht euch erst um 180° zurück, dann um b wieder vorwärts.)
Jetzt lauft ihr von b nach c, wieder mit dem Paralleltransport. Dort dreht ihr euch dann um 180°-c. Und schließlich zurück nach a und wieder gedreht, bis ihr so steht wie am Anfang. Insgesamt habt ihr euch um
(180°-b) + (180°-c) + (180°-a) = 540° – (a+b+c)
gedreht, den auf den Kanten ist ja nichts passiert. Wenn ihr euren Weg nochmal zurückverfolgt, seht ihr, dass ihr euch aber auch genau einmal um euch selbst gedreht habt (ihr habt mit dem Stock einmal in jede Richtung gezeigt.) Einmal rum sind 360°, also
540° – (a+b+c) = 360° woraus folgt a+b+c=180°
War doch gar nicht so schlimm, oder?
Als nächstes spielen wir dasselbe Spiel auf unserer Erdkarte. Hier ein Dreieck:
Auf unserer Karte sehen zwei Seiten des Dreiecks jetzt gekrümmt aus. Das liegt daran, dass wir ja die Eckpunkt mit kürzesten Linien verbinden müssen, also mit Geodäten (denkt an die Flugrouten von oben).
Wieder laufen wir links oben los, mit einem Stock, der in Richtung der grünen Linie zeigt. Während wir zur Ecke rechts oben laufen, achten wir wieder darauf, den Stock die ganze Zeit schön parallel zu unserer Geodäte zu halten, dabei müssen wir ihn aber ständig drehen. An den anderen beiden Ecken spielen wir dasselbe Spiel. Da beim Laufen auf den Geodäten der Stock mitgedreht wird, gilt das Argument oben für die Winkelsumme im Dreieck nicht mehr, das beruhte ja darauf, dass der Stock auf den Kanten nicht gedreht wird.
Die Winkelsumme unseres Dreiecks wird also nicht 180° sein – da wir an der oberen Kante ziemlich stark von einer geraden Linie abweichen, auf der Diagonale aber nur wenig, wird die Winkelsumme größer als 180° sein. Das ist auf einer Kugel immer so – die Abweichung von 180° ist dabei proportional zur Fläche des Dreiecks. (Mein Dreieck hier ist vergleichsweise klein, deswegen ist der Effekt nicht so deutlich.) Wenn ihr nochmal auf den Globus schaut, dann seht ihr, dass ein Dreieck, dass aus zwei Längengraden und einem Stück Äquator besteht, sogar drei rechte Winkel haben kann:
Wenn ihr also nicht wisst, ob ihr in einem Gebiet wohnt, in dem der Raum gekrümmt ist, dann müsst ihr ein großes Dreieck zeichnen und die Winkelsumme messen – wenn sie größer ist als 180°, dann ist der Raum gekrümmt, wenn sie gleich 180° ist, dann nicht. (Kleiner als 180° kann sie auch werden, das diskutieren wir vermutlich im nächsten Teil.) Carl Friedrich Gauß hat das tatsächlich mal mit einem Dreieck versucht, das bei einer Landvermessung gemessen wurde – aber die Raumkrümmung an der Erdoberfläche ist zu klein, als dass er etwas hätte sehen können.
Nachtrag In den Kommentaren wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass man das leicht missverstehen kann: Gauß wollte natürlich nicht die Krümmung der Erdoberfläche messen, sondern wirklich die des Raumes. Er vermaß also die direkte Sichtlinie zwischen drei Punkten (Laut Wikipedia “Gauß habe bei Gelegenheit der Hannoverschen Landesvermessung empirisch nach einer Abweichung der Winkelsumme besonders großer Dreiecke vom Euklidischen Wert von 180° gesucht. Wie etwa bei dem Dreieck, das vom Brocken im Harz, dem Inselsberg im Thüringer Wald und dem Hohen Hagen bei Dransfeld gebildet wird.”)
Auch hier zeigt sich wieder, dass man den Effekt der Krümmung vollständig beschreiben kann, ohne sich die Kugeloberfläche in der dritten Dimension vorzustellen, rein durch den räumlich veränderlichen Maßstab.
Ein Beispiel dafür ist die berühmte Raumkrümmung in der Nähe der Sonne, die für die Lichtablenkung sorgt. Stellt euch zwei weit entfernte, dicht benachbarte Sterne vor, die genau parallele Lichtstrahlen Richtung Sonnensystem aussenden. Sausen diese haarscharf an der Sonnenoberfläche vorbei, so wird jeder von ihnen um eine Winzigkeit abgelenkt (nämlich um 1.75Bogensekunden), so dass sich die beiden Lichtstrahlen schließlich treffen. Zusammen mit der Verbindungslinie der beiden Sterne ergibt sich also ein Dreieck mit zwei rechten Winkeln und einem sehr spitzen Winkel von 3,5 Bogensekunden, die Winkelsumme im Dreieck ist also geringfügig größer als 180°. (Dabei habe ich etwas geschummelt, denn ich habe noch gar nicht erklärt, dass Lichtstrahlen Geodäten beschreiben – das habe ich hier einfach reingesteckt.)
Parallelen
Die Geometrie der gekrümmten Räume wurde entdeckt, als man versuchte, das berühmte Parallelenaxiom zu verstehen. Zwei Geraden heißen parallel, wenn sie sich niemals schneiden. In der Ebene gibt es zu einer Geraden und einem gegebenen Punkt immer genau eine Parallele, die durch den Punkt geht:
Die Entfernung zwischen den beiden Geraden bleibt dabei immer gleich. Man bekommt die Parallele, indem man eine senkrechte Linie auf die erste Gerade zeichnet, und dann auf die wieder eine Senkrechte, also (im Bild oben) eine 90°-Drehung rechtsherum, dann zum Punkt laufen, dann wieder um 90° linksherum.
Spielen wir dasselbe Spiel auf unserer Karte, sehen wir, dass das anders ist.
Zeichnet auf der ersten Geodäte eine zweite im rechten Winkel, lauft diese (mit Paralleltransport) entlang und zeichnet dann eine zweite Geodäte wieder im rechten Winkel zur ersten. Nun sollten die beiden eigentlich ja parallel sein.
Sind sie aber nicht: Die zwei Geodäten nähern sich immer weiter an und treffen sich schließlich. Das war ja gerade der “Trick” bei dem oben gezeichneten Dreieck mit drei rechten Winkeln: Die Entfernung zwischen den beiden Längengraden verringert sich immer weiter, je weiter wir nach Norden kommen, und am Nordpol treffen sie sich. Auch das lässt sich auf der Karte direkt am wechselnden Maßstab ablesen – je weiter wir nach Norden kommen, desto kleiner wird ja der Abstand zwischen den Längengraden; wenn wir die Karte bis zum Nordpol verlängern, schrumpft der Abstand auf Null und die Längengrade treffen sich.
Wenn sich also zwei anfänglich parallele Geodäten schließlich schneiden, dann bedeutet auch das, dass der Raum, in dem man lebt, gekrümmt ist. Auch hier ist wieder keine “Einbettung” in einen Raum mit höherer Dimension nötig.
In unserem gekrümmten Raum gibt es durch einen Punkt neben einer Geodäten also überhaupt keine Parallele: Alle Geodäten schneiden sich irgendwo, so wie auch die Lichtstrahlen, die an der Sonne gekrümmt wurden.
Aber Vorsicht: Dass sich alle Geodäten immer schneiden gilt nur in einem Raum, der wie eine Kugeloberfläche gekrümmt ist. Unsere Raumzeit ist dagegen ungleichmäßig gekrümmt (und die Krümmung kann auch negativ sein, dann laufen Geodäten auseinander, aber dafür brauche ich noch einen dritten Teil). All diese Komplikationen vertage ich erstmal, um euch lieber zu erklären, warum die Sonne einen zu großen Radius hat.
Kreise
Als nächstes zeichnen wir einen Kreis. Wir suchen uns einen zentralen Punkt und gehen von dort aus jeweils etwa 3000km in unterschiedliche Richtungen (und zwar auf dem kürzesten Weg, also auf Geodäten) – einen Radius habe ich grün eingezeichnet. Das Gebilde, das da am Ende herauskommt, sieht auf der Karte nicht sehr kreisförmig aus (zumal ich auch ein bisschen schlampig beim Zeichnen war):
Eine Überraschung erlebt man, wenn man den Umfang des Kreises berechnet, indem man die Kreislinie abschreitet: In der Schule habt ihr alle mal gelernt, dass der Kreisumfang 2πr beträgt, das wären also etwa 18850km. Tatsächlich ist der Umfang unseres Kreises ist wegen des verzerrten Maßstabs kleiner als das. Auf der Zeichnung lässt sich das nur mit Mühe ausmessen (obwohl es stimmt, jedenfalls, wenn man den Kreis ganz sauber zeichnet), aber auf dem Bild des Globus sieht man sofort, warum ein Kreis auf einer Kugel einen zu kleinen Umfang hat:
Der “eigentliche” Radius des gezeichneten Kreises ist ja eine gerade Linie, die zur Erdachse hin zeigt, der Radius auf der Oberfläche, der ja am Nordpol starten muss, ist länger als das.
Ein Kreis auf einer gekrümmten Fläche hat also für einen gegebenen Radius einen zu kleinen Umfang. Das merkt man übrigens auch am Beispiel mit der Mandarinenschale aus dem ersten Teil: Drückt man die obere Hälfte der Mandarinenschale (die eine Halbkugel ist, also von einem Kreis begrenzt wird) flach, dann reißt sie ein – es ist sozusagen nicht genug Umfang für den Radius da.
Und auch dieses Phänomen kann man in der echten Raumzeit beobachten. Stellt euch vor, ihr nehmt euer super-hitzebeständigen Raumschiff, aktiviert den stärksten Hochenergie-Überladungs-Schirm, den ihr auf dem Raumschiffmarkt kriegen könnt (aber nicht mit republikanischen Credits bezahlen, die sind ja wertlos) und fliegt von der Sonnenoberfläche bis zum Zentrum der Sonne auf der grünen Linie im Bild unten. Dabei messt ihr den Radius R aus, und zwar auf ein paar Meter genau. Anschließend düst ihr einmal um den Sonnenäquator herum, aber genau an der Oberfläche, um den Umfang U zu messen (also auf der roten Linie).
Nach normaler “flacher” Mathematik, müsste R=U/(2π) sein, richtig? Stimmt aber nicht, R ist größer als das, und zwar etwa um 500 Meter1. (Zugegeben, bei knapp 700000km Sonnenradius ist das weniger als ein Millionstel, aber immerhin.) Die Sonne krümmt also den Raum.
1Falls es jemand genau wissen will: Bei einer Kugel mit Masse M ist der Überschussradius näherungsweise gegeben durch GM/(3c2), dabei ist G die Gravitationskonstante. Diese Formel stammt aus den Feynman Lectures, Vol. II. Sie ist stark vereinfacht, wer die Rechnung nachvollziehen will, findet sie hier.
Wenn ihr versucht, euch das mit den Bildern oben vorzustellen, dann ist Vorsicht geboten: Ihr dürft natürlich auf keinen Fall das Bild mit dem Globus und dem Kreis um den Nordpol angucken und euch vorstellen, dass ihr einfach statt der Erdkugel die Sonnenkugel nehmt – nicht vergessen, der Raum um die Erdoberfläche herum hat keine wirkliche Bedeutung, er dient nur zur Veranschaulichung. Der eingezeichnete rote Kreis entspricht dem Sonnenäquator, die grüne Linie entspricht dem direkten Flug auf dem kürzesten Weg vom Sonnenäquator ins Zentrum der Sonne. Im Zweifelsfall schaut lieber auf das Bild mit der Karte.
Im letzten Teil hatten wir ja an der langsamer gehenden Uhr gesehen, dass die Raumzeit gekrümmt ist. In diesem Teil haben wir jetzt angefangen, auch den Raum selbst zu krümmen. Allerdings habe ich bisher nur eine Art der Krümmung diskutiert, die analog zur Kugeloberfläche ist. Es gibt aber auch negative Krümmungen. Die erkläre ich demnächst.
Hier ein Überblick über die ganze Serie:
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil I: Spielereien mit Landkarten
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil II: Warum der Sonnenradius “zu groß” ist
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil III Negative Krümmung und ein Tipp zum Pizza-Essen
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil IV: Raumzeit – was ist das eigentlich?
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil V Warum es keine Schwerkraft gibt
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