Wer den Titel des Artikels liest, denkt vermutlich, ich bin entweder völlig übergeschnappt oder es handelt sich nur um einen rhetorischen Trick, damit ihr alle hier klickt. Aber nein, ich meine das ganz ernst: Die gute alte Schwerkraft gibt es eigentlich gar nicht; was wir als Schwerkraft wahrnehmen, ist ganz etwas anderes.
Um das einzusehen, machen wir genau da weiter, wo wir im letzten Teil aufgehört haben: Wir suchen Geodäten in der Raumzeit, aber jetzt in der Nähe einer Masse, so dass die Raumzeit gekrümmt ist. Noch mal zur Erinnerung (der letzte Teil ist ja schon ein paar Tage her, weil ich ja ab und an auch mal arbeiten muss…): Eine Geodäte in der Raumzeit ist diejenige Verbindung zwischen zwei Raumzeitpunkten, auf der für ein Objekt die längste Eigenzeit vergeht. Das Beispiel mit dem Raumhelm hat gezeigt, dass das in ungekrümmter Raumzeit eine Verbindung mit konstanter Geschwindigkeit ist.
Der Einfluss der “Schwerkraft”
Also: Gesucht ist die Verbindung zwischen zwei Ereignissen auf der Erdoberfläche, die die größte Eigenzeit besitzt. Das Beispiel mit dem Frühstückstisch und der Tastatur vom letzten Mal hat wieder den Nachteil, dass hier schon zwei Raumdimensionen involviert sind – wenn wir dann noch die Zeit hinzuzeichnen wollen, dann wird es sehr unübersichtlich. Also machen wir es uns einfacher: Tippt euch noch mal auf die Nase, dann eine Sekunde später wieder (jetzt ohne Raumhelm, wir sind ja auf der Erde).
Eine Verbindung, die stationär bei eurer Nase verbleibt, hat logischerweise eine Eigenzeit von einer Sekunde. Jeder Umweg, den ihr geht, hat wie zuvor das Problem, dass dabei die Zeit (wegen der Zeitdilatation) langsamer vergeht. Zunächst könnte man also annehmen, auch hier sei die Geodäte eine Weltlinie mit Geschwindigkeit Null, die die beiden Raumzeitpunkte verbindet.
Überraschenderweise (oder auch nicht, sonst würde ich ja nicht so ein Brimborium drum machen) ist das aber falsch. Um zu verstehen, warum es falsch ist, grabe ich hier noch einmal eine Grafik aus dem ersten Teil aus:
Das war das verpatzte Rendezvous mit eurer besseren Hälfte, ihr erinnert euch hoffentlich. Es klappte nicht, weil die Zeit in unterschiedlicher Höhe unterschiedlich schnell verläuft. (Leider ist auf dem Bild die hohe Schwerkraft oben – hätte ich am Anfang schon geahnt, wie lang diese Serie mal werden wird, hätte ich einen Kartenausschnitt der Südhalbkugel genommen…)
Wir übertragen dieses Bild jetzt auf ein Diagramm, in dem ihr euch zweimal an die Nase (der Riechkolben ist Mike-Krüger-verdächtig, das liegt aber nur an meinen mangelhaften Zeichenkünsten) tippt (diesmal ist die hohe Schwerkraft unten):
Wir suchen jetzt den Weg der längsten Eigenzeit. Mit einem kleinen Umweg in den Bereich mit niedrigerer Schwerkraft können wir die Eigenzeit verlängern, ähnlich wie bei den Geodäten auf der Kugel und der Pseudosphäre. Allerdings darf der Umweg auch nicht zu groß sein, denn dann werden wir durch die Zeitdilatation auf der Umwegstrecke wieder zu stark gebremst. Die Geodäte, die sich tatsächlich einstellt, ist im Raumzeit-Diagramm eine Parabel.
Um die kürzeste Verbindung (also die mit der längsten Eigenzeit) zu bekommen, müsst ihr also erst senkrecht nach oben fliegen (dran denken: Im Diagramm ist die horizontale Richtung ja die Zeit), dabei aber immer langsamer werden, schließlich an einem Punkt stehenbleiben und dann umkehren, wobei ihr wieder schneller werdet. Kommt euch das irgendwie bekannt vor? Schon mal etwas gesehen, das nach oben flog, dabei immer langsamer wurde, bremste, umkehrte und schließlich wieder in eurer Hand landete?
Ein Ball, den ihr nach oben werft, tut genau das. Er bewegt sich auf einer Geodäte, während des Fliegens ist er kräftefrei (vom Luftwiderstand etc. mal abgesehen), so wie Astronauten beim Parabelflug, wenn sie für die Schwerelosigkeit üben. Ein geworfenen Ball folgt einer Geodäte in der Raumzeit, er fliegt also mit der längst-möglichen Eigenzeit von A nach B.
Falls euch der Mund jetzt nicht vor Staunen offensteht, seid ihr entweder schon ziemlich fit in Sachen Allgemeine Relativitätstheorie, oder ihr habt noch nicht gemerkt, was ich euch da gerade untergejubelt habe: Der Ball, den ihr nach oben werft, folgt einer Geodäte, genauso wie ein ruhender Ball weit weg von jeder “Schwerkraft”. Der Ball fliegt also die “optimale” Verbindung in der Raumzeit zwischen seinem Start- und seinem Ziel-Raumzeitpunkt, diejenige mit der längsten Eigenzeit. (Falls ihr euch fragt, woher der Ball am Anfang schon seinen Zielpunkt kennen soll, das erkläre ich gleich, aber das ist hier nebensächlich). Während der Ball fliegt, ist er kräftefrei. Wenn ihr den Ball fragen würdet “Wie empfindest du denn die Schwerkraft” würde er sagen (wenn Bälle reden könnten) “Schwerkraft? Merk ich nix von.”
“Ja”, sagt jetzt sicher jemand, “das ist wie mit dem alten Witz – fliegen kann ich, nur das Landen macht Probleme. Beim Aufschlagen auf die Erde oder in meiner Hand wird der Ball die Schwerkraft schon bemerken.”
Stimmt aber nicht. Was der Ball bemerkt (wenn Bälle denn auch noch etwas bemerken könnten, aber nachdem er schon reden kann…), ist eben nicht die Schwerkraft, sondern eine andere Kraft: Die Abstoßung der Elektronen in den Atomen des Balls und der Erde (oder der Hand), die den Ball daran hindert, durch die Erde (oder Hand) durchzufallen. Diese Kraft verbietet es ihm, sich weiter auf seiner Geodäte zu bewegen, und das ist es, was als Schwerkraft erscheint. Aber in Wahrheit gibt es gar keine “Schwerkraft” – es gibt nur die Raumzeitkrümmung. Wir gucken uns das gleich noch etwas genauer an, denn man braucht eine Weile, um das zu verdauen.
Qualitativ ist das Bild oben vollkommen in Ordnung, quantitativ aber hat es mit den Verhältnissen auf der Erdoberfläche nicht viel zu tun – so riesig wie im Bild ist die Zeitverschiebung mit der Höhe natürlich nicht, nicht mal auf einem Neutronenstern wäre der Effekt dermaßen stark, dass ein paar Meter einen solchen Effekt hätten (wenn ich gerade richtig gerechnet habe, dann vergeht die Zeit auf der Oberfläche eines typischen Neutronensterns etwa 5% verlangsamt gegenüber der eines weit entfernten Beobachters.) An der Erdoberfläche ist die zeitliche Verschiebung winzig – in einem Meter Höhe vergeht die Zeit um den Faktor 1,000 000 000 000 000 111 (etwa um ein zehn-Billiardstel) schneller – trotzdem reicht der Effekt aus, um diese Bahn zur Geodäte zu machen. Warum diese winzige Abweichung relevant ist, diskutiere ich weiter unten; für alle, die ein bisschen Mathematik mögen, gibt es am Ende des Artikels außerdem eine Beweisskizze.
Nebenbemerkung: Bälle können nicht hellsehen
(Diese Nebenbemerkung könnt ihr getrost überspringen, falls euch die Sache mit dem Ball, der beim Losfliegen schon wissen soll, wann er wo ankommen soll, keine Kopfschmerzen bereitet.)
Ich betrachte hier ja immer Verbindungen zwischen zwei auseinanderliegenden Raumzeitpunkten (beispielsweise jetzt und in einer Sekunde). Jetzt kann natürlich jemand (zu recht) einwenden, dass der Ball beim Losfliegen ja nicht weiß, wann er wo ankommen soll – der hat ja keinen Fahrplan. Das ist auch völlig richtig. Diese Art, die Bahn des Balles eindeutig festzulegen, hat den Vorteil, dass sie sehr schön analog zu unseren Geodäten im zweiten Teil ist, bei denen ich ja auch von Europa nach Japan geflogen bin, also Start und Ziel schon kannte.
Wenn man sich aber anguckt, wie das Flugzeug tatsächlich fliegt, dann sieht man, dass es natürlich schon beim Losfliegen in die richtige Richtung startet. Und so ist es auch beim Ball: Die Bahn des Balles kann ich auch festlegen, wenn ich seinen Startpunkt und seine Startgeschwindigkeit bestimme. Für eine eindeutige Bahnkurve braucht man immer zwei Angaben – entweder zwei Raumzeitpunkte für die Position des Balles, oder einen Raumzeitpunkt und eine Geschwindigkeit. Das Bild hier veranschaulicht das: Wenn ihr den Startpunkt und die Anfangsgeschwindigkeit festlegt (Geodäte 1), dann ist klar, dass ihr irgendwann durch den dünn markierten grünen Punkt laufen werdet; wenn ihr umgekehrt wisst, dass ihr beim grünen Punkt ankommen werdet (Geodäte 2), dann ist klar, mit welcher Geschwindigkeit ihr loslaufen müsst.
(Mathematisch liegt das daran, dass eine Differentialgleichung 2. Ordnung dahinter steckt, die zwei Randbedingungen braucht.) Insofern braucht einem diese “zukunftsorientierte” Betrachtungsweise kein Kopfzerbrechen zu machen, man kann sie immer umrechnen in einen Anfangspunkt und eine Anfangsgeschwindigkeit.
Ähnliche Formulierungen gibt es in der Physik öfters: Vor langer Zeit habe ich mal etwas über das Prinzip der kleinsten Wirkung geschrieben, auch das Fermatsche Prinzip in der Optik funktioniert so ähnlich.
Das Äquivalenzprinzip oder: Es gibt keine Schwerkraft
Ja, ich sehe es ein: Dass es keine Schwerkraft geben soll, klingt mal wieder absurd – die Schwerkraft ist im Alltag die offensichtlichste Kraft, wir sehen und spüren ständig, dass wir von der Erde angezogen werden.
Um zu verstehen, warum es die Schwerkraft “eigentlich” nicht gibt, sondern nur die Raumzeitkrümmung, brauchen wir mal wieder eine Rakete, weit weg im Weltall ohne jedes Schwerefeld. (Normalerweise würde ich ja eine Perry-Rhodan-Space-Jet nehmen, aber die haben künstliche Schwerefelder, die jetzt etwas stören würden. Stattdessen nehmen wir die Scienceblog-Hausrakete.)
Unsere Rakete schwebt zunächst antriebslos im All. Ihre Geschwindigkeit ist also konstant, und wir können unser Koordinatensystem passend wählen, so dass die Geschwindigkeit gleich Null ist. Die Rakete bleibt an ihrem Ort und folgt damit der Geodäte, die ja eine gerade Linie im Raum-Zeit-Diagramm ist (erinnert euch an die entsprechende Situation mit dem Raumhelm im letzten Teil).
Dann, nach einem Moment, zünden wir die Triebwerke:
Unsere Rakete wird nach oben beschleunigt, die Weltlinie verläuft also gekrümmt. Im Raumschiff spüren wir, wie wir von der Beschleunigung in unsere hoffentlich bequemen Sessel gedrückt werden. Die Beschleunigung schiebt uns von der Geodäte weg, und genau deshalb spüren wir sie (denn auf der Geodäte sind wir ja kräftefrei). Nach einem Moment haben wir eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht. Auch an diesen Raumzeitpunkt können wir wieder eine Geodäte dranzeichnen (die zweite blaue Linie), aber auch hier ist uns kein Glück beschieden: Wir werden wieder von der Geodäte wegbeschleunigt.
Zu jeden Zeitpunkt können wir eine Geodäte an unseren aktuellen Raumzeitpunkt zeichnen, die auch zur aktuellen Geschwindigkeit passt, aber jedesmal werden wir von der Geodäte wegbeschleunigt, und genau das ist es, was wir als Kraft spüren, die uns in die Sessel drückt.
Wer will, kann das als “Grund” dafür ansehen, dass in der Physik Kraft gleich Masse mal Beschleunigung ist, dass also die zweite Ableitung nach der Zeit eingeht, nicht etwa die erste (mit konstanter Geschwindigkeit könnten wir auf der Geodäte bleiben) und auch nicht die dritte (dann könnten wir uns mit der zweiten Ableitung von der Geodäte entfernen, ohne eine Kraft zu spüren). Man sieht an diesem Argument auch, (siehe auch das Bild unten), warum man in einer infinitesimalen Umgebung eines Raumzeitpunktes immer ein Lorentz-Bezugssystem finden kann – die Abweichung von der Geodäte ist ein Effekt zweiter Ordnung.
Und jetzt zurück aus dem Weltall auf die Erde. Stellt euch einfach auf den Erdboden und bleibt an der Stelle stehen. Eure Weltlinie ist eine horizontale Linie. Die Geodäten aber entsprechen ja genau den Weltlinien, die ein frei fallender Ball verfolgen würde – und der würde mit stetig zunehmender Geschwindigkeit nach unten fallen (das bild ist nicht ganz sauber, denn die Geodäten müssten genau tangential zur horizontalen Linie beginnen, weil die Anfangsgeschwindigkeit des Balls ja Null wäre, das ist mir nicht ganz gelungen):
Wenn ihr die beiden Bilder vergleicht, dann seht ihr, dass sie viel gemeinsam haben: In beiden Fällen bewegt ihr euch von der Geodäte weg. Einmal sind die Raketentriebwerke verantwortlich, das andere Mal die Erdoberfläche, die euch am Fallen hindert. Bei der Rakete spürt ihr dieses “wegbeschleunigen” von der Geodäte als Kraft. Und genau so ist es auch auf der Erde – ihr spürt keine “Schwerkraft”, sondern ihr spürt, wie euch der Boden von eurer Geodäte wegbeschleunigt. Und weil das kontinuierlich so ist, spürt ihr auch eine konstante Kraft, genauso wie in der Rakete.
“Aber die Weltlinie der Rakete ist doch gekrümmt, meine auf der Erde ganz gerade”, könnte jetzt jemand einwenden. Das spielt aber keine Rolle, denn das sind nur Koordinaten, die man ganz willkürlich gewählt hat. Erinnert euch an die Längen- und Breitengrade auf dem Globus – die Breitengrade waren auch keine Geodäten und der Flieger nach Japan folgte ihnen nicht. Genauso wie Breitengrade willkürlich sind, ist es auch ein Koordinatensystem, das annimmt, dass die Erdoberfläche ein guter, weil ruhender Bezugspunkt ist. Sie ruht zwar, aber sie folgt eben nicht der Geodäte, und das ist alles was zählt; Koordinaten sind “Schall und Rauch” und nur ein nützliches Hilfsmittel zum messen und rechnen. (Und Bücher über die ART verwenden für viele Überlegungen sogenannte “koordinatenfreie” Darstellungen, an denen man das direkt sieht.)
Fazit: Eine Raketenbeschleunigung ist nicht von der “Schwerkraft” zu unterscheiden; in beiden Fällen spüren wir eine Kraft, weil wir daran gehindert werden, der kräftefreien Geodäte zu folgen. Das ist das, was man “Äquivalenzprinzip” nennt, Beschleunigung und Schwerkraft sind äquivalent. (Manchmal bezieht man sich auch auf die Massen – in beiden Fällen ist die Kraft ja proportional zur Masse – und sagt “träge und schwere Masse sind äquivalent”.) Ehrlich gesagt finde ich den Namen unglücklich gewählt: Zwei Dinge sind “äquivalent”, wenn sie unterschiedlich, aber gleichwertig sind. Doch das ist hier gar nicht der Fall: Träge und schwere Masse sind dasselbe, ebenso Beschleunigung und “Schwerkraft”.
In typischen Raumkrümmungen, wie wir sie um Planeten herum sehen, gibt es allerdings einen Unterschied zum Fall der Beschleunigung in der Rakete: Da die Raumkrümmung von Ort zu Ort verschieden ist, gibt es Gezeitenkräfte: Was näher an der Masse dran ist, wird stärker angezogen. Solche Gezeitenkräfte gibt es in einer Rakete nicht. Trotzdem kann man Schwerkraft und Beschleunigung als “dasselbe ” betrachten: Zum einen kann man sich (zumindest theoretisch) eine Masse vorstellen, die vollkommen flach ist (wie ein riesiger massiver Teller) – über der wäre das “Schwerefeld” vollkommen homogen. Zum anderen muss man, um Gezeitenkräfte sehen zu können, immer Ereignisse an unterschiedlichen Orten vergleichen; lokal sind aber Beschleunigung und “Schwerkraft” nicht unterscheidbar.
Eine 20000 Kilometer lange Abkürzung?
Erinnert ihr euch noch an das Beispiel vom letzten Mal? Morgens beiße ich vom Brötchen ab, sechs Stunden später tippe ich ein “A”. Was ist die Geodäte, die diese beiden Raumzeitpunkte auf der Erde verbindet? (Ohne Raumkrümmung wäre es ja eine Weltlinie mit konstanter Geschwindigkeit von 0.66m/Stunde, wie wir gesehen hatten.)
Das können wir nach dem eben gesagten leicht beantworten: Wie muss ein Ball fliegen, damit er nach sechs Stunden ein paar Meter neben seinem Startpunkt landet (wobei man aber die Erdrotation berücksichtigen muss), aber zwischendurch die ganze Zeit im “freien Fall” ist? Geht das überhaupt?
Ja, es geht: Ihr müsst den Ball mit einer ziemlich hohen Geschwindigkeit von der Erde wegschießen, und zwar so, dass er sich (wenn ich richtig gerechnet habe, habe die Keplergesetze benutzt) etwa 10000 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt, dort nach drei Stunden umkehrt und wieder auf die Erde zurückfällt. (Ihr müsst die Bahn dabei so berechnen, dass er trotz Erdrotation wieder am richtigen Punkt ankommt.)
Nebenbemerkung für Spitzfindige: Genauer gesagt, gibt es noch eine zweite Geodäte, allerdings nur theoretisch: Ich könnte auch (mit passender Startgeschwindigkeit) auf das Zentrum der Erde zufallen und dann wieder zurückfliegen, allerdings nur, wenn die Erde einen hinreichend langen “Tunnel” hätte (und sich nicht drehen würde). Auch ein Weg mit mehreren Oszillationen ist sicher denkbar, das wäre ein dritte Lösung. Aber das nur am Rande.
Kann es wirklich sein, dass die Masse der Erde den Raum so stark krümmt, dass aus einer vier Meter langen Geodäte eine etwa 20000 Kilometer lange wird? Die Erde ist ja nun wahrlich keine Hoch-“Schwerkraft”-Umgebung (das wäre beispielsweise ein Neutronenstern) – warum ist der Effekt also so riesig?
Die Antwort ist einfach: Die Geodäte ist ja gar nicht vier Meter lang – sie hat ja eine Länge in der Raumzeit. Erinnert euch an die Formel
s2= dt2 – (dx/c)2.
(Die gilt hier nur näherungsweise, weil sich die Geschwindigkeit ja ständig ändert, eigentlich müsste man die Formel aufintegrieren, aber um eine grobe Idee zu bekommen, mache ich mir das Leben hier einfach.)
Ähnlich wie beim letzten Mal teilen wir die Geodäte in zwei Teile, einen nach oben, einen nach unten. Unser dt beträgt also (pro Hälfte) etwa drei Stunden, unser dx etwa 10000 Kilometer. Teilt man das dx durch c, so werden daraus 33Mikrosekunden Millisekunden – hier hatte ich mich verrechnet oder vertippt. (Damit niemand verwirrt ist: Das ist nicht die Verlängerung der Eigenzeit auf der Strecke, sondern lediglich die Umrechnung der Strecke in Zeitkoordinaten.) Oder andersherum gerechnet: 3 Stunden entsprechen einer Strecke von 3 Lichstunden, also 3 Billionen Kilometer. Und verglichen damit fallen 10000 Kilometer eben nicht so stark ins Gewicht.
Hier noch einmal veranschaulicht: Oben so, wie wir uns die Sache vorstellen, unten (immer noch nicht maßstabsgetreu) so, wie die Verhältnisse tatsächlich sind, wenn man Strecken korrekt in Zeiten umrechnet:
ACHTUNG: Unten im Bild muss es 33Millisekunden heißen, nicht 33 µs!
Eigentlich hätte ich unten natürlich auch den Maßstab für die Erde anpassen müssen, aber dann hätte man nix mehr erkannt.
Also: Schwer”kraft” gibt es nicht. Massen krümmen die Raumzeit, und weil sie das tun, nehmen Geodäten eine recht komplizierte Form an. Teilchen bewegen sich auf ihrer Geodäte, wenn sie kräftefrei sind. Beschleunigt man sie von der Geodäte weg, so “spüren” sie eine Trägheitskraft – auf der Erdoberfläche bezeichnen wir die als “Schwerkraft”.
Jetzt müssen wir nur noch ein besseres Gefühl dafür bekommen, wie genau die Raumzeit um eine Masse wie die Erde verzerrt ist – das wird dann natürlich (ihr habt’s geahnt) der nächste Teil.
Für alle mathematisch interessierten hier die versprochene Herleitung, die zeigt, dass die maximale Eigenzeit im Erd-“Schwerefeld” äquivalent zum Prinzip der kleinsten Wirkung ist (kombiniert aus den Feynman Lectures – Feynman hat mal wieder ein paar Schritte weggelassen, wie er das gern tut – und dem berühmten Misner Thorne Wheeler “Gravitation”):
Wir betrachten ein infinitesimales Raumzeitelement ds. Dafür gilt
ds = √(dt2 – dx2)
(ich setze kurzfristig c=1, das c baue ich am Ende wieder passend ein)
Bei konstanter Geschwindigkeit v (die können wir für ein infinitesimales Stück natürlich annehmen) ist dx=vdt, also
ds = √(dt2 – v2 dt2)
Die Größe von dt hängt von der Höhe ab, die gravitative Zeitdilatation ist auf der Erdoberfläche (1+gh) (diese Formel lasse ich jetzt einfach vom Himmel fallen, kann man aber relativ schnell aus der Schwarzschild-Metrik herleiten), das heißt, in Höhe h geht die Zeit um diesen Faktor schneller (nicht vergessen, da fehlt ein 1/c2). Vergeht auf meiner Bezugshöhe also die Zeit dt’, dann ist dt=dt'(1+gh). Eingesetzt ergibt sich also
ds = √(dt’2(1+gh)2 – v2 dt’2(1+gh)2)
=dt’ (1+gh) √(1- v2)
Hier sieht man schon, wie der Einfluss der Gravitation (große h sind günstig) und der der Zeitdilatation aus der SRT (große v sind ungünstig) entgegenwirken – die Funktion hat irgendwo ein Maximum (v und h hängen ja zusammen), das rechne ich aber gar nicht aus. Ich nähere die Wurzel
ds=dt’ (1+gh) (1- v2/2)
Jetzt kommen die c’s wieder rein, damit man besser sieht, welche Terme klein sind:
ds=dt’ (1+gh/c2) (1- v2/ 2c2)
Ausmultiplizieren ergibt
ds = dt’ (1 + gh/c2 – v2/ 2c2 – gh v2/ 2c4)
Der letzte Term hat ein c4 im Nenner, er ist also klein und darf wegfallen.
ds soll maximal werden. Betrachte ich ein längeres Stück Weltlinie, muss ich über ds integrieren
∫ ds = ∫ dt’ (1 + gh/c2 – v2/ 2c2) = max
Der erste Term im Integral ist einfach die Zeit auf Bezugshöhe, die ist immer gleich und tut nichts zur Sache. Bleibt also
∫ dt’ (gh/c2 – v2/ 2c2) = max
Multiplizieren mit c2 macht die Sache übersichtlicher:
∫ dt’ (gh – v2/ 2) = max
Wenn die Differenz in der Klammer maximal wird, dann ist ihr Negatives minimal, ich drehe also das Vorzeichen um, außerdem multipliziere ich mit der Masse des Teilchens, das ich betrachte
∫ dt’ (mv2/ 2 – mgh) = min
Der erste Term in der Klammer ist die kinetische Energie, der zweite die potentielle Energie. Die Differenz zwischen beiden ist die Wirkung, und die soll minimal werden – das ist genau das Prinzip der kleinsten Wirkung aus der Mechanik. Maximieren der Eigenzeit und minimieren der Wirkung sind also für diesen Fall identisch.
Hier ein Überblick über die ganze Serie:
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil I: Spielereien mit Landkarten
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil II: Warum der Sonnenradius “zu groß” ist
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil III Negative Krümmung und ein Tipp zum Pizza-Essen
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil IV: Raumzeit – was ist das eigentlich?
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil V Warum es keine Schwerkraft gibt
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