Wer gern Bücher mit biologischen Themen liest, kennt das Problem: Bilder von Skeletten sind oft schwer zu interpretieren. Wie genau waren die Knochen angeordnet? Wie waren sie orientiert? Welche Knochen greifen wie ineinander? Viel einfacher wäre es, man könnte die Skelette in die Hand nehmen und von allen Seiten betrachten. Dafür gibt es das Projekt Digimorph.
Digimorph ist eine digitale Bibliothek zur Morphologie. Hier gibt es jede Menge Informationen und Bilder über zahlreiche Tierarten, vom Dinosaurier bis zum Seeigel. Vor allem aber gibt es Computertomogramme, mit denen man selbst interaktiv spielen kann. Digimorph wird von der University of Texas at Austin betrieben.
In der Digimorph-Bibliothek sind zahlreiche CT-Scans von Knochen, Schädeln und ganzen Skeletten abgelegt, sowohl von lebenden Tieren als auch von Fossilien. Man kann sich Filme ansehen, in denen die Knochen dreidimensional rotieren, aber vor allem kann man das Programm InspeCTor benutzen, um selbst Schnitte durch Knochen zu legen. So sieht das beispielsweise für einen Alligator aus:
(Dank an Timothy Rowe für die Erlaubnis, hier Bilder von digimorph zu zeigen.)
Dabei habe ich die Schnittebene gerade so gelegt, dass man das Kiefergelenk (rot markiert) sehen kann.
Zum Vergleich hier der Schädel eines Wolfs, ebenfalls mit markiertem Kiefergelenk:
Dass ich gerade das Kiefergelenk angeguckt habe, hat natürlich einen Grund: Eine der entscheidenden Entwicklungen der Säugetiere war die Umstrukturierung des Kiefergelenks und des Unterkiefers. Hier ein Bild des National Center for Science Education, das die Entwicklung mit unterschiedlichen Zwischenstadien zeigt (und da sage noch einer, es gebe keine Übergangsfossilien…):
Beim Alligator oben sieht man, dass das Gelenk sehr weit hinten sitzt und der Unterkiefer eher flach ist. Beim Wolf dagegen ist der Unterkiefer wesentlich höher und hat einen Fortsatz nach oben, an dem auch Muskeln ansetzen.
Der Vorteil dieses verschobenen Kiefergelenks liegt im Kräftegleichgewicht: Beim Alligator liegt ein großer Muskel vor dem Kiefergelenk. Zieht er sich zusammen, um vorne kraftvoll zuzubeißen, erfordert das Gleichgewicht von Kräften und Momenten, dass auch am Kiefergelenk große Kräfte wirken:
(Das Bild ist sehr schematischzu verstehen – ich habe die Muskeln nach “Gefühl” eingezeichnet.)
Beim Säugetier dagegen sind die Muskeln komplexer angeordnet: Es gibt den großen Masseter-Muskel, der den Oberkiefer schließt und nach schräg vorn verläuft und den Temporalis-Muskel, der nach hinten zur Schläfe hin zieht. (Es gibt noch ein paar mehr Muskeln, die aber im Moment nicht so wichtig sind.) Die beiden Muskeln laufen in ihren Kraftlinien nahezu direkt am Ende des Kiefers zusammen, da, wo die größte Bisskraft gebraucht wird, wenn der Wolf beispielsweise einen Knochen zerbeißen will:
Man erkennt, dass die drei Kraftlinien sich nahezu genau in einem Punkt treffen – eine große Kraft am Kiefergelenk ist nicht erforderlich.
Diese Kraftumlenkung ermöglichte es den Säugetieren, ihr Kiefergelenk umzustrukturieren – dabei wurden einige Knochen “frei”, die schließlich als Gehörknochen im Innenohr landeten.
Hmm, eigentlich wollte ich doch nur Werbung für digimorph machen. Digimorph ist natürlich nicht primär als Spielzeug für uns Laien gedacht, sondern als wertvolles Hilfsmittel für Wissenschaftler – nicht jede Paläontologin oder jeder Anatom hat einen Schrank voller Knochen und Fossilien, an denen sie oder er mal schnell etwas nachgucken kann. Gerade in der Paläontologie muss viel in der Welt herumgereist werden, um Knochen im Detail zu vermessen und zu vergleichen, damit man die Verwandtschaftsverhältnisse der Tiere erfassen kann.
Mit digimorph spart man sich das Reisen und kann sich Knochen direkt am Computer ansehen. Es geht sogar noch besser: Mit einer Rapid-Prototyping-Maschine kann man sich auch dreidimensionale “Ausdrucke” der gescannten Knochen erstellen und dann direkt in die Hand nehmen.
Wenn digimorph Schule macht, dann können Paläontologinnen also in der Zukunft viele Fossilien in wesentlich kürzerer Zeit studieren; sie müssen sich nicht mehr auf Abbildungen in Fachzeitschriften verlassen oder selbst für jedes Fossil in ein anderes Land reisen, sondern drucken sich die zu vermessenden Knochen einfach aus. Und wenn das Rapid Prototyping in ein paar Jahren auch für Privatpersonen erschwinglich wird, dann kann ich mir noch ein paar mehr dekorative Dino-Knochen-Modelle in mein Wohnzimmer stellen. Bis dahin aber können wir zumindest virtuell am Computer mit Knochen spielen – ich schau mir jetzt jedenfalls noch ein paar Schädel an. (Falls ihr das auch tun wollt: Links in der Orientierungsleiste der digimorph-Seite gibt es die Kategorie “What’s popular”.)
PS: “Hier wohnen Drachen” hat heute übrigens ein Mikro-Jubiläum: Es wird ein halbes Jahr alt. Ein herzliches Dankeschön an alle Leserinnen und Leser und vor allem an alle, die mit Kommentaren dazu beitragen, dass das Bloggen mehr Spaß macht, als ich am Anfang gedacht hätte.
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