Raumzeit? Wieso eigentlich Raumzeit?
Mal ehrlich, Raum ist Raum und Zeit ist Zeit, oder nicht? Das Konzept einer vierdimensionalen Raumzeit ist auf den ersten Blick absurd: Wenn ich mit der Nase nach Norden stehe, kann ich mich um 90° drehen, dann gucke ich nach Osten. In welche Richtung muss ich mich um wieviel Grad drehen, damit ich nach gestern gucke?
Klingt schon ein bisschen absurd, oder?
Ja, tut es. Und ihr könnt euch drehen, bis euch schwindelig wird, ihr werdet nie mit der Nase in Richtung “gestern” zeigen können. In der gekrümmten Raumzeit gelten etwas andere Spielregeln als in normalen gekrümmten Räumen, vor allem dafür, wie man eigentlich Abstände misst.
Abstände in der Raumzeit
Abstände in der Raumzeit? Wie soll man die eigentlich messen? Ein Abstand im Raum ist die Strecke zwischen zwei Punkten, aber was sind “Raumzeitpunkte” und wie soll man den Abstand zwischen ihnen messen?
Um einen Punkt im Raum festzulegen, müsst ihr ja eindeutig sagen, welchen Punkt ihr meint. Beispielsweise: “Meine Nasenspitze”, “An der Spitze des Hamburger Fernsehturms” oder “In den Feuerspalten des Schicksalsberges”. In der Raumzeit gilt das gleiche – jetzt müsst ihr zusätzlich auch noch die Zeit festlegen, also z.B. “Um 12Uhr mittags auf der Hauptstraße von Hadleyville”.
Allerdings sind Zeitangaben auf einer Uhr natürlich ein bisschen problematisch – ihr wisst schon, da gab es diesen Ärger mit Uhren, die in der Relativitätstheorie unterschiedlich langsam gehen, weswegen ihr im ersten Teil eure bessere Hälfte um 10 Sekunden verpasst hattet. Am besten kennzeichnet man einen Raumzeitpunkt durch ein eindeutig definiertes Ereignis: “Mein Finger tippt auf die A-Taste, um den Anfang dieses Satzes zu schreiben” oder “Mr Darcy sagt ‘In vain I have struggled, it will not do.’ ”
So weit, so gut. Damit können wir jetzt Raumzeitpunkte definieren. Aber was ist der Abstand zwischen zwei Raumzeitpunkten? Wie weit ist es von “Heute morgen als ich am Esstisch vom Brötchen abgebissen habe” nach “Mein Finger tippt im Arbeitszimmer auf die A-Taste”?
Gucken wir uns erstmal die räumliche Entfernung an. Mein Arbeitszimmer ist im ersten Stock, mein Esstisch steht im Erdgeschoss. Um die Entfernung auszurechnen, verwende ich den Satz des Pythagoras:
Die Entfernung s berechne ich mit
s2 = a2 + b2.
a ist die horizontale Entfernung (etwa 3 Meter, schätze ich), b die vertikale (etwa 2,70Meter), also ist s etwa 4 Meter.
Aber was ist die raumzeitliche Entfernung?
Zuerst einmal müssen wir Zeiten und Entfernungen irgendwie vergleichen können, wenn wir eine Raumzeit-Entfernung angeben können wollen, denn in die soll ja sicher die räumliche und die zeitliche Entfernung eingehen. Das ist ziemlich einfach – es gibt sogar zwei Möglichkeiten: Entweder wir multiplizieren die Zeit mit einer Geschwindigkeit, dann wird aus einer Zeit eine Strecke (nämlich die, die wir in der jeweiligen Zeit mit dieser Geschwindigkeit zurückgelegt hätten.) Und welche Geschwindigkeit nimmt man wohl? Na klar, die Lichtgeschwindigkeit c=300000km/s.
Also: Um aus einer Angabe für eine Dauer (zeitlicher Abstand) wie etwa 2 Sekunden einen Wert zu machen, den ich mit einem räumlichen Abstand vergleichen kann, multipliziere ich mit c: 2 Sekunden sind also etwa 600000km. Ihr könnt schon ahnen, dass die räumlichen Abstände hier auf der Erde verglichen damit relativ unerheblich sind.
Man kann auch umgekehrt vorgehen und einen räumlichen Abstand durch die Lichtgeschwindigkeit teilen, um eine Zeit daraus zu machen: aus einem Meter werden dann 0.0000000033 Sekunden (ich hoffe, ich hab mich bei den Nullen nicht verzählt). Ob man Zeiten in Längen oder Längen in Zeiten umrechnet, ist ziemlich unerheblich, man muss sich nur einmal einigen. Ich werde hier meistens wohl die zweite Variante nehmen und Längen in Zeiten umrechnen.
Um den raumzeitlichen Abstand zwischen zwei Punkten zu messen, geht man jetzt ähnlich (aber nicht genauso) wie bei meinem Arbeitszimmer eben vor. Damit die Bilder erstmal nicht so kompliziert werden, beschränken wir uns auf eine einzige Raumrichtung. Stellt euch also zum Beispiel vor, dass ihr einen Ball werft, aber nur genau senkrecht nach oben. Wir vernachlässigen die Schwerkraft, so dass der Ball mit konstanter Geschwindigkeit fliegt. In einem Raum-Zeit-Diagramm sieht das dann so aus:
Dabei ist die rote Linie die “Weltlinie” des Balles, also die Linie aller Raumzeitpunkte, an denen er sich aufgehalten hat. Die beiden grünen Linien sind Hilfslinien, genau wie eben beim Pythagoras.
Der räumliche Abstand ist also b (beispielsweise 1 Meter), der zeitliche ist a (beispielsweise 1 Sekunde). Man könnte jetzt versucht sein, den Abstand s wie oben zu berechnen:
s2 = a2 + (b/c)2 (falsch!!)
Dabei habe ich den räumlichen Abstand b durch die Lichtgeschwindigkeit geteilt, so dass der Raumzeitabstand s am Ende als Einheit wieder die Zeit hat.
Aber die Klammer oben (die ist extra, damit niemand diesen Artikel überfliegt und sich was falsches merkt) sagt es schon: So geht es nicht. Raum und Zeit sind eben doch nicht ganz dasselbe. Die Formel stimmt fast, aber nicht ganz. Die Ungleichbehandlung von Raum und Zeit schlägt sich in einem unschuldig aussehenden Minus-Zeichen wieder:
s2 = a2 – (b/c)2
Die räumliche Entfernung wird also von der zeitlichen abgezogen, nicht addiert.
Die so berechnete Größe hat eine direkte physikalische Bedeutung: Es ist die Zeit, die im Bezugssystem des Balls vergeht, während er durch die Gegend fliegt. Während für mich also a Sekunden vergehen, vergehen für den Ball etwas weniger – weil c so groß ist, ist der Unterschied aber nicht merklich. Das ist die berühmte Zeitdilatation aus der speziellen Relativitätstheorie. Man nennt die Größe s deshalb auch ganz naheliegend die “Eigenzeit”.
Der Abstand zwischen zwei Raumzeitereignissen ergibt sich also erstmal als die Zeit, die für jemanden vergeht, der vom einen Ereignis zum anderen fliegt. Wenn der Weg im Raumzeitdiagramm nicht gerade ist, dann zerlegt man ihn in lauter kleine und einigermaßen gerade Stückchen, berechnet für jedes Stückchen das s und addiert die alle auf.
Anmerkung: Das klingt jetzt hier alles ziemlich willkürlich – “ach ja, ich brauch grad mal ne Geschwindigkeit, da ziehe ich schnell mal c aus meinem Physikzauberhut, dann drehe ich noch ein Vorzeichen, wie es mit gerade passt und definiere eine Entfernung über eine Eigenzeit”. Zum Teil liegt das natürlich daran, dass ich hier auf mathematische Strenge oder Herleitungen etc. verzichte. Zum Teil ist das aber natürlich auch das Wesen der Physik: Man macht immer erstmal Annahmen, die man aus dem Hut zaubert (“Vielleicht ist ja die Kraft, die einen Apfel anzieht, dieselbe wie die, die den Mond anzieht.”). Ob die Annahmen korrekt sind, überprüft man dann mittels Abgleich mit dem Experiment. Die Relativitätstheorie hat sich da bisher bestens bewährt.
Ich betrachte hier nur zeitartige Abstände, also solche, bei denen es ohne Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit möglich ist, von A nach B zu kommen. Bei raumartigen Abständen dreht man gern das Vorzeichen um – wie generell die Vorzeichenwahl hier ziemlich willkürlich ist, jeder hat seine eigenen Konventionen. Wenn ihr in einem Artikel zur RT lest: Die Metrik ist (+—), dann bedeutet das, dass die Zeitkomponente das positive Vorzeichen bekommt, die drei Raumkomponenten jeweils negatives Vorzeichen, so wie ich es hier mache.
Noch eine Randbemerkung: Das unschuldig aussehende kleine Minuszeichen ist übrigens auch dafür verantwortlich, dass ihr euch eben nicht um irgendeinen Winkel drehen könnt, und dann plötzlich in Richtung “gestern” guckt (was immer das heißen soll). Schauen wir noch einmal auf eine normale Drehung im Raum: Nennen wir die Nord-Süd-Richtung die x-Richtung, die Ost-West-Richtung die y-Richtung. Wir setzen den Nullpunkt unseres Koordinatensystems an eure Nasenwurzel.
Am Anfang schaut ihr nach Norden, euer Nasenspitze hat also einen x-Wert ungleich Null, einen y-Wert gleich Null. Jetzt dreht ihr euch nach Osten, dann ist der y-Wert ungleich Null, der x-Wert gleich Null. Beim Drehen ändert sich aber die Länge eurer Nase (hoffentlich) nicht, das heißt vorher und hinterher ist das s2 aus unserer Formel oben kleiner als Null (eben wegen des Minuszeichens).
Wenn Eure Nase “nach gestern” zeigen würde, dann “läge” aber die Nasenspitze zu einem anderen Zeitpunkt als eure Nasenwurzel, jetzt wäre s2 also größer als Null. Ihr müsstet also beim Drehen das Vorzeichen von s2 ändern – das geht aber mathematisch nicht, weil der räumliche Abstand ja quadriert wird und deshalb sein Vorzeichen nicht ändern kann. (Mathematisch könnt ihr das allerdings hintricksen, nämlich mit einem imaginären Drehwinkel, aber wenn sich einer um einen imaginären Drehwinkel drehen kann, dann sollte er sich schnell bei der Eiskunstlauf-WM anmelden, das gibt bestimmt ne Goldmedaille).
Geodäten
Zurück zum Abstand: Der Abstand zwischen zwei Raumzeitpunkten ist also die Zeit, die für jemanden vergeht, der von A nach B fliegt? Aber auf welchem Weg? Und mit welcher Geschwindigkeit?
Bei räumlichen Abständen würden wir so argumentieren: Der Abstand zwischen zwei Orten A und B (Frühstückstisch und Computertastatur) ist der Weg, den man zurücklegen muss, um von A nach B zu kommen – aber natürlich nicht irgendein Weg, sondern der kürzeste Weg (auch wenn der durch die Decke geht). In der Raumzeit ist das ähnlich, aber weil am räumlichen Teil in der Formel oben ein Minuszeichen steht, nehmen wir den längsten Weg, nicht den kürzesten. Also:
Der Abstand zweier Raumzeitpunkte A und B ist gegeben durch den Weg mit der maximale Eigenzeit, die für einen Beobachter vergehen kann, der sich von A nach B bewegt.
Weil das so wichtig ist, habe ich es extra groß gedruckt.
“Halt Stopp!” denkt jetzt bestimmt irgendwer. “Das ist doch Blödsinn. Dann nehme ich halt einen Weg, der ewig lange dauert, dann kriege ich auch eine lange Eigenzeit.”
Aber so geht es nicht, ihr müsst ja von A nach B kommen, und beides sind Raumzeitpunkte. Eure Abfahrtszeit und eure Ankunftszeit stehen also schon fest – erst mal ein 1000-Jahre-Trip rund um Alpha Centauri ist also nicht drin.
Damit haben wir jetzt definiert, was der Abstand zwischen zwei Raumzeitpunkten ist. Die Geodäte war ja (bei räumlichen Problemen) der Weg mit dem kürzesten Abstand. In der Raumzeit ist jetzt die Geodäte der Weg mit der längsten Eigenzeit. (Falls ihr euch an die Geodäte nicht mehr erinnert, schaut nochmal in Teil 2.)
Vermutlich klingt das extrem abstrakt und abgehoben, wenn man es zum ersten Mal liest. Damit ihr ein Gefühl für die Sache bekommt, schauen wir das noch einmal für einen konkreten Fall an:
Stellt euch vor, ihr schwebt völlig frei im Weltall, weitab jeglicher Schwerefelder oder sonstiger Kräfte. Ihr tippt euch mit dem Finger einmal auf den Raumhelm (Ereignis A), wartet dann eine Sekunde, dann tippt ihr wieder auf den raumhelm (Ereignis B). Wie groß ist der raumzeitliche Abstand, was ist also die Verbindung zwischen A und B mit der längsten Eigenzeit?
Damit das Ganze hier etwas physikalischer aussieht und man leichter den Überblick behält, nenne ich jetzt den direkten zeitlichen Abstand zwischen A und B nicht mehr, wie oben, a, sondern dt, räumliche Abstände heißen entsprechend dx (und müssen durch c geteilt werden, damit eine Zeit heraus kommt). Wir vergleichen zwei Wege von A nach B, den direkten (in rot) und einen “Umweg” (in blau):
Man sieht schon, dass der Umweg einen kleineren Wert von s haben wird, denn ich muss ja die “Umwegstrecke” dx2 abziehen. Es ergibt sich also ein kleinerer Wert der Eigenzeit.
Das lässt sich auch direkt physikalisch begründen, denn wir müssen ja mit einer bestimmten Geschwindigkeit hin- und zurückfliegen. Laut spezieller RT läuft dann die Zeit langsamer – letztlich haben wir hier genau das berühmte “Zwillingsparadoxon”. (Und an der Grafik sieht man auch sofort, warum es kein Paradoxon ist: Die beiden Wege sind nicht gleichwertig, denn der eine hat einen Knick, der andere nicht.)1 Wer einen Umweg fliegt, braucht dazu eine höhere Geschwindigkeit (denn er soll ja gleichzeitig am Ziel ankommen). Die höhere Geschwindigkeit führt zu einer Zeitdilatation, also zu einer kleineren Eigenzeit.
1Falls irgendwer sich bemüßigt fühlt, hier zu kommentieren, dass das Zwillingsparadoxon natürlich Blödsinn ist und die spezielle Relativitätstheorie sowieso nicht stimmt etc. – lasst es einfach, das gehört hier nicht her.
Für alle, die es lieber etwas genauer mögen, hier die Rechnung:
Der Abstand auf dem direkten Weg ist einfach: da ist dx gleich Null, also
s2 = dt2 also s = 1 Sekunde.
Den Abstand auf dem blauen Umweg berechnen wir in zwei Schritten, erst die erste Diagonale, dann die zweite.
Für die erste Diagonale gilt
s12 = (dt/2)2 – (dx/c)2
Jetzt nutzen wir einen kleinen Trick: da wir mit konstanter Geschwindigkeit v fliegen (die Linie ist ja gerade) ist dx=v (dt/2) (Weg= Geschwindigkeit mal Zeit).
Damit bekommen wir
s12 = (dt/2)2 (1- (v/c)2)
Für den Rückweg s2 gilt die gleiche Formel.
Insgesamt ergibt sich (die Wurzel geht über die Klammer – ach wär LaTeX schön…)
s = dt √(1-(v/c)2)
Wer sich da auskennt, hat den berühmten Faktor √(1-(v/c)2) aus der SRT sicher erkannt.
Im freien Weltall ist die Geodäte zwischen zwei Raumzeitpunkten, die zum selben Raumpunkt gehören, also einfach das stille Abwarten am Ort.
Aber wieso eigentlich “der selbe Raumpunkt”? Wie soll man das denn feststellen, ob ein Raumpunkt zu zwei verschiedenen Zeiten derselbe ist? Das kann man tatsächlich nicht – man kann an Raumpunkte ja keine Reißzwecken dranheften. Richtig bleibt aber natürlich, dass der “gerade” Weg im Raumzeitdiagramm der beste (der mit der längsten Eigenzeit) ist. Für beliebige Raumzeitpunkte ist das also der Weg, der die beiden mit konstanter Geschwindigkeit verbindet.
Und jetzt können wir endlich die Frage vom Anfang beantworten: Wie groß ist der Abstand zwischen “Heute morgen vom Brötchen abgebissen” und “Jetzt die Taste A getippt”? Der kürzeste Weg führt geradewegs mit konstanter Geschwindigkeit vom Frühstückstisch zur Tastatur – die Geschwindigkeit ist allerdings mit etwa 4 Metern in 6 Stunden ziemlich langsam. Die Eigenzeit, die dabei vergeht, ist eine Winzigkeit kleiner als 6 Stunden (wenn ich mich nicht verrechnet habe, um 30 Attosekunden), so dass die Abweichung von den 6 Stunden sehr klein ist.
So weit, so gut. Aber leider habe ich gerade etwas vergessen: Der Abstand würde diesen Wert haben, wenn mein Haus schwerelos im Weltall schweben würde. Denn das Schwerefeld der Erde krümmt die Raumzeit, und dadurch wird ein anderer Weg tatsächlich noch kürzer.
Welcher das ist? Das klären wir in Teil V der wundersam ausufernden Reihe über die Raumkrümmung…
Hier ein Überblick über die ganze Serie:
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil I: Spielereien mit Landkarten
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil II: Warum der Sonnenradius “zu groß” ist
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil III Negative Krümmung und ein Tipp zum Pizza-Essen
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil IV: Raumzeit – was ist das eigentlich?
Wie man die Raumzeit krümmt. Teil V Warum es keine Schwerkraft gibt
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