Drüben beim Wissenschaftsfeuilleton wurde vor ein paar Tagen über die “Enträtselung des Flohsprungs” nachgedacht. Der Feuilletonist interessiert sich weniger für die Details des Forschungsergebnisses, sondern echauffiert sich über die Aussage, das Sprungwunder sei “enträtselt”.
Was die Forscher tatsächlich herausgefunden haben, ist ziemlich spannend und wird mir demnächst einen eigenen Eintrag wert sein. (Eigentlich wollte ich den gerade schreiben, aber erst einmal muss ich diese Gedanken hier loswerden.) Dies sind die Ideen von Herrn Fischer:
Denn mir es ein Rätsel, welches Rätsel jetzt gelöst worden ist. Stellt sich uns nicht mindestens ein neues, nämlich zum Beispiel das Rätsel, wieso uns jemand diese Beschreibung als Enträtselung verkaufen kann. Das Springwunder ist geblieben. Wissen das die Wissenschafter wirklich nicht?
Was mich an dieser Äußerung besonders stört, ist die Gleichsetzung der Worte “Wunder” und “Rätsel”. “Das Sprungwunder ist geblieben” sagt Herr Fischer, und deshalb könne die Erkenntnis keine “Enträtselung” sein. So, als könne man vom Flohsprung nicht mehr fasziniert sein, sich über ihn nicht mehr wundern oder ihn nicht mehr bewundern, wenn man ihn erst einmal verstanden hat.
Für mich ist das eine im Kern anti-wissenschaftliche Einstellung: Wer tatsächlich glaubt, dass etwas an Faszination verliert, weil man es versteht, der wird jeden Erkenntnisgewinn der Wissenschaft beweinen, denn für ihn verliert die Welt mit jeder Erkenntnis an Faszination.
In meinen Augen könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein. Gut, wir wissen jetzt, wie genau sich der Floh vom Boden abstößt und können dies in einem mechanischen Modell nachrechnen. Ist der Sprung dadurch weniger beeindruckend geworden? Ist die Vorstellung, dass der Floh mit mehr als dem Hundertfachen der Erdbeschleunigung in die Luft katapultiert wird, nicht selbst unglaublich faszinierend? Ist er nicht ein erstaunlicher Beleg für die Macht der Evolution, die Lebewesen in fantastischer Weise optimiert? Neue Fragen tun sich auf, genauso faszinierend: Ist die Konstruktion des Flohbeins für das Springen optimiert? Welche Anpassungen braucht der Floh, um die immense Beschleunigung auszuhalten? Wie hat sich der Flohsprung entwickelt? Gab es Urflöhe, die schon Blut gesaugt haben, aber noch nicht so gut springen konnten? Oder war zuerst das Springen da, dann das Blutsaugen?
Jedes Rätsel, das von der Wissenschaft gelöst wird, erhöht die Faszination der Welt auf zwei Weisen: Zum einen führt die Antwort zu neuen Fragen, zu neuen Rätseln. Staunend vor einem Rätsel stehen zu bleiben, ist vielleicht für eine Weile befriedigend, aber irgendwann wird das Rätsel – obwohl ungelöst – vertraut, alltäglich, langweilig. Der Versuch, das Rätsel zu lösen, zu entschlüsseln, weitere, neue Rätsel dahinter zu finden, kann die Faszination wieder erwecken:
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten! (H. Hesse, Stufen)
Zum anderen aber zeigt uns die Lösung des Rätsels etwas anderes, ebenso Faszinierendes: Die Einheit der Welt. Der Flohsprung kann mit den Mitteln der Physik verstanden werden. Allein das ist eine Erkenntnis, die vor einigen Hundert Jahren den Menschen vermutlich erstaunlich erschienen wäre – es gibt keine besondere “Lebenskraft”, die den Floh befähigt, etwas außergewöhnliches zu tun, sondern er bewegt sich innerhalb derselben Naturgesetze, die wir durch das Herumspielen mit Federn, Kugeln und schiefen Ebenen entdeckt haben.
Diese Einheit der Welt zeigt sich für mich nirgends eindrucksvoller als am Ursprung der Materie: Mit Ausnahme der Wasserstoffatome sind alle Atome, aus denen wir bestehen, in Sternen entstanden und bei einer Sternexplosion freigeworden. Wir Menschen bestehen aus Sternenstaub. Lasst euch diesen Gedanken genießerisch auf der geistigen Zunge zergehen: Fast jedes Atom (außer den Wasserstoffatomen) in eurem Körper entstand im Inneren eines Sterns! Ist das nicht unglaublich? Läuft euch bei diesem Gedanken kein Schauer über den Rücken? Wäre es nicht traurig, einfach vor dem Rätsel “Woher kommen die Atome” stehen zu bleiben? Das “Rätsel”, woher die Atome kommen, ist gelöst, aber die Faszination ist – zumindest für mich – gestiegen.
(Dank an Daniel für den Hinweis, dass der Anteil der Wasserstoffatome in Körper größer ist als ich naiv annahm: Wasserstoff macht etwa 10 Gewichtsprozent und etwa 60 Atomprozent aus. An der Faszination ändert das nichts…)
Richard Feynman hat diesen Gedanken – verbannt in eine Fußnote seiner Lectures – so ausgedrückt
Poets say science takes away from the beauty of the stars – mere globs of gas atoms. I too can see the stars on a desert night, and feel them. But do I see less or more? The vastness of the heavens stretches my imagination – stuck on this carousel my little eye can catch one – million – year – old light. A vast pattern – of which I am a part… What is the pattern, or the meaning, or the why? It does not do harm to the mystery to know a little about it. For far more marvelous is the truth than any artists of the past imagined it. Why do the poets of the present not speak of it? What men are poets who can speak of Jupiter if he were a man, but if he is an immense spinning sphere of methane and ammonia must be silent?
[Dichter sagen, dass die Wissenschaft die Schönheit der Sterne mindert – bloße Haufen von Gasatomen. Auch ich kann die Sterne in einer Wüstennacht sehen und sie spüren. Aber sehe ich weniger oder mehr? Die riesige Ausdehnung des Himmels fordert meine Vorstellungskraft – während ich auf diesem Karussell sitze, kann mein kleines Auge Licht sehen, das eine Million Jahre alt ist. Ein riesiges Muster, von dem ich ein teil bin… Was ist das Muster, oder seine Bedeutung, oder das Warum? Es schadet dem Geheimnis nicht, ein wenig darüber zu wissen. Denn die Wahrheit ist viel wundersamer als alle Künstler sie sich je ausgemalt haben. Warum sprechen die Dichter der Gegenwart nicht darüber? Was für Menschen sind Dichter, wenn sie über Jupiter sprechen können, wenn er ein Mann wäre, aber wenn er eine gigantische Kugel aus Methan und Ammoniak ist, dann müssen sie schweigen? (Grottige Übersetzung von mir.)]
Die Faszination der Welt wird nicht kleiner, sondern größer, wenn wir sie verstehen. Und das Faszinierendste an der Welt ist, das wir sie verstehen können.
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