Wir befinden uns im Jahr 2011. Die ganze Kosmologengemeinde wird von der Idee der dunklen Energie beherrscht… Die ganze Gemeinde? Nein! Ein von fantasievollen Forschern bevölkertes Forschungsinstitut hat angefangen, der Idee der dunklen Energie Widerstand zu leisten.
Dass das Universum sich ausdehnt, ist ja ein alter Hut (und wird inzwischen schon in Liedtexten verarbeitet). Vor etwa zehn Jahren (1998) hat man allerdings eine überraschende Entdeckung gemacht: Die Ausdehnung des Universums beschleunigt sich anscheinend. Wenn etwas beschleunigt wird, dann braucht man dazu irgendetwas, das für die Beschleunigung sorgt. Aus dieser Überlegung wurde die Idee der “dunklen Energie” geboren. Heute gehört die dunkle Energie quasi zum Standard-Repertoire der Kosmologie. Aber gibt es die dunkle Energie wirklich?
Was dunkle Energie ist, hat natürlich Florian schon mal ausführlich erklärt. Hier noch einmal die Geschichte in Kurzfassung – aber ein Klick auf Florians Erklärung ist sicher auch hilfreich:
Die Astronomen verwenden eine bestimmte Art von Supernova-Explosionen (Supernovae vom Typ Ia), die die Eigenschaft haben, immer genau gleich abzulaufen und deshalb auch immer dieselbe Helligkeit zu haben. Diese Supernovae sind sozusagen “Standardkerzen”. Wären sie alle gleich weit weg, dann würden sie auch alle genau gleich hell aussehen. Genauso wie ein Autoscheinwerfer immer dunkler erscheint, je weiter das Auto weg ist, ist es auch mit den Supernovae. Und da man weiß, wie hell sie tatsächlich sind, kann man aus ihrer scheinbaren Helligkeit ihre Entfernung berechnen.
Zusätzlich kann man auch das Lichtspektrum der Supernovae analysieren. Dank des bekannten Doppler-Effekts verschieben sich die Spektrallinien im Lichtspektrum, je schneller sich die Supernovae von uns entfernen. Weil sich das Universum ausdehnt, verändert sich auch die Wellenlänge des Lichts, während es von der Supernova zu uns unterwegs ist. Das ist die kosmologische Rotverschiebung. (Die ich peinlicherweise mit dem Doppler-Effekt durcheinandergewürfelt habe – schäm – danke an Andreas Müller von den KosmoLogs, der mich unten auf diesen Schnitzer aufmerksam machte.)
Und wenn man nun unterschiedlich helle Supernovae anguckt und ihre Spektren vermisst, dann kann man daraus ableiten, wie schnell sich das Universum ausdehnt – je dunkler eine Supernova, desto weiter ist sie weg und desto früher wurde das Licht ausgesandt, je weiter die Spektrallinien verschoben sind, desto mehr hat sich das Universum ausgedehnt, seit das Licht ausgesandt wurde.
Dieses Bild (hier geklaut) zeigt oben die Supernova-Helligkeit, unten die Abweichung von einer diagonal verlaufenden Geraden im oberen Bild, aufgetragen gegen die Rotverschiebung (und damit letztlich gegen die Geschwindigkeit der Ausdehnung):
Die drei eingezeichneten Kurven (leider nicht so klar zu erkennen) entsprechen unterschiedlichen Modellen – das mit ΩΛ=0 ist das ohne dunkle Energie. Man sieht (na gut, mit bloßen Auge sieht man das nicht wirklich, aber eine statistische Analyse zeigt), dass es nicht zu den Beobachtungen passt. Die Daten lassen sich aber mit der Annahme erklären, dass die Ausdehnung des Universums sich beschleunigt.
Irgendetwas beschleunigt also die Ausdehnung des Universums. Dieses “Etwas” nennt man dunkle Energie. Das klingt zunächst mal weit hergeholt, deshalb suchte man nach weiteren Bestätigungen, dass es so eine dunkle Energie tatsächlich geben könnte. Die fand man bei der Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung. Die Hintergrundstrahlung ist ja gewissermaßen ein messbares Überbleibsel des Urknalls. Messungen von Schwankungen in der Hintergrundstrahlung können deshalb Aufschluss darüber geben, welche Struktur das Universum relativ “kurz” nach dem Urknall (als das Universum begann, durchsichtig zu werden) hatte. Auch diese Messungen lassen sich mit theoretischen Überlegungen nur dann in Einklang bringen, wenn man dunkle Energie annimmt.
(Achtung: Die dunkle Energie bitte nicht mit der dunklen Materie verwechseln, das ist was völlig anderes…)
Auch wenn niemand eine Idee hat, was die dunkle Energie eigentlich sein soll: Es gibt für sie auf jeden Fall gute Argumente. Wenn da jemand ankommt und sagt “alles Quatsch”, dann ist erstmal Vorsicht geboten.
Ein solcher “Jemand” ist David Wiltshire. Nach seinen Ideen wurde hier neulich irgendwo in den Kommentaren gefragt (leider weiß ich nicht mehr wo und von wem, auf jeden Fall danke für den Tipp), und daraufhin neugierig geworden, habe ich ein bisschen über seine Ideen gelesen. Anfangs war ich skeptisch.
Beim Lesen des ersten papers wurde ich noch skeptischer. Der Untertitel “Einstein’s unfinished revolution” lässt ja Arges befürchten – “Ich bin der neue Einstein”, oder wie? Der Abstract beginnt mit den Worten “I argue that Einstein overlooked an important aspect of the relativity of time” (‘Ich behaupte, dass Einstein einen wichtigen Aspekt der Relativität der Zeit übersehen hat’). Äh – na klar. An einem Mangel an Selbstbewusstsein scheint der Autor nicht zu leiden.
Aber immerhin – seine paper wurden in Fachzeitschriften veröffentlicht, auf Konferenzen vorgetragen und sogar bei nature fand ich eine kurze Erwähnung. Völlig abstrus sollte die Idee also nicht sein. Also, schauen wir doch mal, was Wiltshire für eine Idee hat.
Und die Grundidee seiner Hypothese ist bestechend einfach: Wir wissen, dass das Universum nicht homogen ist. Galaxienhaufen sind im Universum nicht gleichmäßig verteilt, sondern liegen entlang von “Wänden”, mit verhältnismäßig leeren “Blasen” dazwischen. (Unsere Galaxis sitzt auch in so einer Wand.) Dieses Bild hier zeigt eine Simulation der Struktur des Universums, die Struktur, von der ich hier rede, sieht man am besten auf dem mittleren Bild:
(Entnommen aus dem paper “Simulating the joint evolution of quasars, galaxies and their large-scale distribution”.)
Innerhalb der “Wände” ist die Massendichte natürlich viel höher als dazwischen. Und hier sieht Wiltshire ein entscheidendes Problem herkömmlicher kosmologischer Modelle. Die nehmen nämlich an, dass die Materie im Universum gleichmäßig verteilt ist.
Wiltshire aber sieht das anders: In den Gebieten mit hoher Materiedichte ist auch die Raumzeit anders gekrümmt als in den Gebieten dazwischen. Das sorgt dafür, dass in diesen Bereichen die Ausdehnung des Universums langsamer abläuft. Denn nach der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) dehnt sich das Universum ja nicht einfach überall mit derselben Geschwindigkeit – je mehr Materie da ist, desto langsamer dehnt sich der Raum aus.
Herkömmliche Modelle des Universums berechnen den Einfluss der Materie, indem sie sie gleichmäßig als eine Art “Staub” im Universum verteilen. Dann ist das Universum homogen und seine Ausdehnung auch. Kurz nach dem Urknall war das noch richtig. Aber dann bildeten sich die oben gezeigten Strukturen heraus – die Ausdehnung des Universums wurde ungleichmäßig. Und die ungleichmäßige Ausdehnung hat noch eine weitere Konsequenz: Berechnet man die mittlere Materiedichte, so nimmt diese natürlich mit der Ausdehnung des Universums mit der Zeit ab – es entsteht ja “neuer Raum”, aber keine neue Materie. In einem Modell mit ungleichmäßiger Ausdehnung sieht die Abnahme der Dichte aber anders aus, weil sich die Leerräume eben besonders schnell ausdehnen.
Noch ein weiterer Effekt kommt hinzu: Nach der ART kann die Raumzeitkrümmung, die ja Energie enthält, selbst auch als Quelle weiterer Raumzeitkrümmung dienen. (Hallo Niels et al: Ja, ich bin inzwischen sicher, dass das so ist.) Allerdings ergibt sich in der ART das Problem, dass man die Energie nicht ohne weiteres lokalisieren kann, weil sie eben in der Raumzeitkrümmung steckt, also über einen bestimmten Raumbereich “verschmiert” ist. Dies erhöht die Raumzeitkrümmung in den materiereichen Gebieten weiter.
Um aus dieser Idee echte Physik zu machen und die Konsequenzen abschätzen zu können, muss man das Modell natürlich quantitativ formulieren. Das ist ziemlich knifflig, und zwar genau wegen der ungleichmäßigen Ausdehnung. In einem Modell mit homogener Ausdehnung des Universums kann ich ohne Probleme einen “aktuellen” Zustand des Universums definieren – die Ausdehnung ist überall dieselbe, also ist die aktuelle Ausdehnungsgeschwindigkeit gleichzeitig ein Maß für die Zeit. In Wiltshires Modell ist das aber nicht so einfach.
Um dieses Problem zu lösen, greift er ziemlich tief in die mathematische Trickkiste (und geht damit “etwas” über meinen Horizont hinaus). Er definiert spezielle Bezugsflächen an den “Rändern” der materiereichen Gebiete, die den schönen Namen “finite infinity” (endliche Unendlichkeit) bekommen, weil sie das mathematische Äquivalent zu einer unendlichen Entfernung von einer isolierten Masse in einer ansonsten flachen Raumzeit darstellen. Diese “Ränder” verbinden die Leerräume und die materiereichen Räume.
Mit dem Konzept der “finite infinity” lässt sich auch das Problem der nicht lokalisierten Gravitationsenergie – wenn ich es richtig verstehe – lösen, indem über die materiereichen Gebiete gemittelt wird. Ehe ich jetzt hier aber dank meines gesunden Halbwissens völligen Unsinn schreibe, verweise ich lieber auf die Veröffentlichungen… Schauen wir uns lieber an, was aus Wiltshire Ideen folgt.
Insgesamt ergibt sich als eine wichtige Konsequenz, dass die Zeit wegen der höheren Raumzeitkrümmung in den materiereichen Gebieten deutlich anders verläuft als in den Leerräumen: Während bei uns (nach Wiltshires Modell) das Universum erst etwa 14,7 Milliarden Jahre alt ist (etwa 1 Milliarde Jahre mehr als nach den üblichen homogenen Modellen), würde es für jemanden, der die ganze Zeit in einem der Leerräume gesessen hat, mit mehr als 18 Milliarden Jahren deutlich älter erscheinen. Weil die Zeit auch auf großen Längenskalen an verschiedenen Punkten des Universums unterschiedlich schnell verläuft, spricht Wiltshire von eine “Timescape”-Modell. (In Analogie zu “landscape”-“Landschaft” also etwa “Zeitschaft”, klingt im Deutschen aber ziemlich dämlich.) Und genau diese ungleichmäßige Ausdehnung ist der Grund für die scheinbare Beschleunigung der weit entfernten Galaxien. Denn der Abstand zwischen Supernova und uns ändert sich im Wiltshire-Modell anders als in homogenen Modellen, und damit ändert sich auch die Beziehung zwischen Rotverschiebung und Helligkeit.
Das Timescape-Universum ist also etwas komplizierter als nach den üblichen Modellen. Dafür kommt es ohne dunkle Energie aus. Ob das Modell etwas taugt oder nicht, können aber nur Beobachtungsdaten zeigen.
Wie gut schneidet das Modell im Vergleich zur “dunklen Energie” ab? Wiltshire hat verschiedene Beobachtungsdaten zu erklären versucht. Die oben gezeigten Daten der Supernovae lassen sich tatsächlich im Modell nachrechnen, ohne dass man eine “dunkle Energie” benötigt. Dieses Bild (analog zum unteren Teilbild der Supernova-Daten, die ich oben gezeigt habe) zeigt die Supernova-Daten und als durchgezogene Linie die Vorhersage von Wiltshires Modell (mit angepassten Parametern):
Der Beschleunigungseffekt ist also nur ein Scheineffekt, tatsächlich verläuft (im Modell) die Ausdehnung des Universums in allen Bereichen gebremst – wenn auch in den Leerräumen weniger gebremst als in den materiereichen Gebieten. Auch die Beobachtungsdaten der Kosmischen Hintergrundstrahlung können im Modell anscheinend korrekt wiedergegeben werden – hierfür habe ich allerdings keine besonders übersichtliche Grafik finden können, auf der man das sofort sieht.
Wiltshire argumentiert sogar, dass er mit seinem Modell einige Probleme herkömmlicher Modelle lösen kann, beispielsweise die sogenannte Lithium-Anomalie (das gemessene Verhältnis der beiden Lithium-Isotope Li-6 und Li-7 entspricht nicht den Vorhersagen der üblichen kosmologischen Modelle) – im Wiltshire-Modell ist etwas mehr Zeit seit dem Urknall vergangen und die auf die Zeit kurz nach dem Urknall zurückgerechnete Materiedichte hat etwas andere Werte, so dass sich andere Verhältnisse für die damals stattgefundenen Kernprozesse ergeben.
Insgesamt könnte Wiltshires Modell also eine ernstzunehmende Alternative zur “dunklen Energie” sein. Das Modell ist konzeptionell einfach (mathematisch allerdings nicht, ächz) und auch von daher attraktiv. Seine Vorhersagen sind nicht identisch, passen aber zu den bisherigen Messdaten und können vielleicht sogar einige Werte besser erklären. Welches der beiden Modelle richtig ist, wird die Zukunft zeigen, wenn bessere Messdaten vorliegen. Vielleicht wird die “dunkle Energie” bald ebenso verschwinden wie es vor 100 Jahren der Äther tat – eine Idee, die eine Zeit lang ein gutes Modell war, sich letztlich aber nicht bewährt hat.
Wiltshire hat eine Menge Veröffentlichungen geschrieben. Diese hier scheint mir die verständlichste (was aber nur relativ zu sehen ist):
WILTSHIRE, D. (2009). FROM TIME TO TIMESCAPE — EINSTEIN’S UNFINISHED REVOLUTION International Journal of Modern Physics D, 18 (14) DOI: 10.1142/S0218271809016193
Auf seiner Homepage findet man weitere Veröffentlichungen und Links auf ein paar populärwissenschaftliche Artikel (die auf ähnlichem Niveau sind wie meiner hier). Es gibt auch ein FAQ zu seinen Ideen, das allerdings auch nicht ganz leicht zu lesen ist.
Auch Andreas Müller von den Kosmologs hat schon über Wiltshires Ideen gebloggt.
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