Was Wissenschaft ist, darüber diskutieren Wissenschaftler und Philosophen schon ziemlich lange. Aber ich habe jetzt die perfekte
Definition gefunden und werde sie euch nun präsentieren….
Nein. Leider nicht. Aber letztes Jahr habe ich mir (in einem mail-Dialog mit Jörg Friedrich) ein paar Gedanken dazu gemacht, was für mich Wissenschaft ausmacht, die ich (ein bisschen verändert) hier zur Diskussion stellen will. Ob sie in irgendeiner Weise besonders schlau oder originell sind, könnt ihr ja selbst beurteilen.
Wissenschaft zu definieren ist unter anderem deswegen so schwierig, weil mit “Wissenschaft” einerseits die wissenschaftliche Methode, andererseits aber auch das mit dieser Methode erworbene Wissen gemeint ist. Und schließlich gibt es noch das soziokulturelle Phänomen “Wissenschaft”, also den Wissenschaftsbetrieb. Aber was davon macht den “Kern” des Wissenschaftsbegriffs aus?
Den Wissenschaftsbetrieb zur Definition heranzuziehen, halte ich für den falschen Ansatz – danach wäre z.B. ein Galilei oder Newton kein Wissenschaftler, selbst ein im Patentamt allein vor sich hin denkender Einstein war ja nicht wirklich in den Wissenschaftsbetrieb eingebunden. Und ich selbst (o.k., ich bin kein Newton oder Einstein, aber laut Stellenbeschreibung “wissenschaftlicher Mitarbeiter”) habe meine besten Ideen meist beim Joggen oder Duschen. Hinzu kommt noch etwas anderes: Auch auf Konferenzen oder – seltener – in Fachzeitschriften hört oder liest man wissenschaftlichen Blödsinn, also Dinge, die im Kern unwissenschaftlich sind oder zumindest so betrachtet werden sollten.
(Falls sich jemand am hier implizierten Zirkelschluss stört: na klar habe ich schon ein grobes Vorverständnis des Begriffs “Wissenschaft”, bevor ich ihn zu definieren versuche. Das ist bei Alltagsbegriffen ja auch kaum vermeidbar und es geht ja gerade darum, dieses Vorverständnis einigermaßen begrifflich zu fixieren.)
Und auch die Definition über das erworbene Wissen finde ich problematisch – wenn jemand beispielsweise stumpf wissenschaftliche Erkenntnisse auswendig lernt, macht ihn das nicht zum Wissenschaftler. Als Extremfall kann man sich (basierend auf einer Idee von David Deutsch) eine Orakelmaschine vorstellen, die alle Fragen beantworten kann. Diese Maschine einfach zu befragen und die Antworten aufzuschreiben, würde zwar viel Wissen produzieren, wäre aber auch keine “Wissenschaft”.
Also ist Wissenschaft die Anwendung der wissenschaftlichen Methode? Damit kann ich persönlich mich am ehesten anfreunden. Allerdings sehe ich auch da ein Problem: Diese Definition sieht Wissenschaft als eine Tätigkeit an. Das ist ja auch erstmal in Ordnung, aber zur Tätigkeit einer Wissenschaftlerin gehören ja viele unterschiedliche Einzeltätigkeiten – soll man die alle auflisten? Experimentieren, Daten sammeln, beobachten, Argumente aufführen, Dinge berechnen (Joggen und Duschen nicht zu vergessen…) etc. Die Liste wird ziemlich lang.
Und was ist mit jemandem, der Pseudowissenschaft betreibt? Auch ein Astrologe rechnet (oder bedient ein Computerprogramm), auch eine Homöopathin misst und wiegt ab. (Und angeblich duschen auch Nicht-Wissenschaftler manchmal…) Die Tätigkeit eines Menschen heranzuziehen, um daran “Wissenschaftlichkeit” festzumachen, scheint also auch problematisch.
Wenn Wissenschaft aber nicht als Substantiv definiert werden soll (über das vorhandene Wissen) und auch nicht als Verb, als was dann?
Vor langer Zeit (als ich noch Philosophie-Seminare bei Professor Schnädelbach (angeb, angeb) besucht habe) habe ich das Buch “Der Begriff des Geistes” von Gilbert Ryle gelesen. Ryle beschäftigt sich mit dem Begriff “Denken” und schlägt vor, “Denken” nicht als Verb, sondern als Adjektiv zu behandeln – man kann Handlungen “bedacht” ausführen oder auch nicht.
Meiner Ansicht nach kann man auch über Wissenschaft ähnlich argumentieren. Man könnte sagen: Wenn jemand eine Handlung so durchführt, dass er dabei versucht, bestimmten Kriterien (die ich gleich diskutiere) zu genügen, dann handelt er wissenschaftlich.
Wissenschaft ist damit direkt an die Intention und Motivation desjenigen geknüpft, der sie betreiben will (oder eben nicht). Das finde ich gleichzeitig als Idee interessant und problematisch. Damit wäre Wissenschaftlichkeit selbst zunächst nicht objektivierbar, was ein bisschen widersprüchlich sein mag. Man könnte natürlich versuchen, die Motive der jeweiligen Person möglichst objektiv (im Sinne der 5 Kriterien oben) zu analysieren, beispielsweise über psychologische Tests oder Ähnliches.1 Ein bisschen dreht man sich dann aber im Kreis: Um zu prüfen, ob Person A wissenschaftlich handelt, müssen wir ihre Handlungen und Motivation möglichst wissenschaftlich untersuchen, beispielsweise von Person B. Damit muss dann wiederum Person B überprüft werden und so weiter.
1Daniel Dennett versucht etwas Ähnliches im Zusammenhang mit der Erforschung des Bewusstseins – er umgeht das Problem der Subjektivität, indem er darauf hinweist, dass man die Selbstreflektionen, Äußerungen und Handlungen von Personen objektiv analysieren kann, auch wenn die Bewusstseinserfahrung selbst subjektiv ist – Stichwort “Heterophenomenology“.
Dieses Problem kommt in meinen Augen aber nicht direkt durch den von mir gewählten Wissenschaftlichkeitsbegriff zu Stande, sondern es wird in jeder Definition von “Wissenschaft” stecken (außer solchen, die sich auf den Wissenschaftsbetrieb konzentrieren, aber die halte ich wie oben gesagt für untauglich): Zum Wissenschaftsbegriff gehört immer die Objektivierbarkeit in irgendeiner Form – und sobald die von Subjekten geprüft wird, wird sie eben immer subjektiv “kontaminiert”. Man kann niemals verlässlich subjektiv entscheiden, ob eine Sache objektiv richtig ist.
Man kann sich meiner Ansicht nach auch nicht mit dem Begriff “Intersubjektivität” rausmogeln – auch Homöopathie oder religiöse Dogmen sind intersubjektiv. Falls jemand einwendet, sie seien doch nicht für jeden nachvollziehbar, sondern nur bei entsprechender “Indoktrination”, dann muss ich leider sagen, dass das Gleiche auch für die Quantenfeldtheorie gilt – die ist ohne die “Indoktrination” eines Physikstudiums auch nicht für jeden nachvollziehbar. (Oh super, den Satz kann man toll quote-minen, ich sehe mich schon von unserem Hausastrologen zitiert…) Zu dem Thema habe ich mir im Dialog “Physik und Geist” ja schon einige Gedanken gemacht.
Mir scheint, dass das ein fundamentales Problem jeder Definition des Begriffs “Wissenschaft” (bzw. “Objektivität”) ist: Ob etwas “Wissenschaft” (oder eine Handlung “wissenschaftlich”) ist oder nicht, sollte objektiv entscheidbar sein – aber um das entscheiden zu können, muss man schon über einen Wissenschaftsbegriff verfügen. “Wissenschaftlichkeit” über eine Motivation zu definieren, löst dieses Problem nicht, macht es aber wesentlich klarer als andere Ansätze. So gesehen kann man sagen “It’s not a bug, it’s a feature”.
Nach meiner Definitionsidee ist Wissenschaftlichkeit also eine Geisteshaltung, bei der man bestimmten Kriterien genügen muss. Und welche Kriterien setze ich nun für “Wissenschaftlichkeit” an? Darüber kann man sicher lange diskutieren. Ich versuche es mal mit diesen hier:
1. Wissenschaft versucht, etwas über die Realität herauszufinden (wobei ich offenlasse, was genau “Realität” sein soll und nur davon ausgehe, dass es konsensfähig ist, dass es irgendeine Form von Realität gibt – selbst die virtuelle Realität in einer “Matrix”-Welt wäre ja in gewisser Weise real.).
2. Die verwendete Methode ist soweit wie möglich objektivierbar und wiederholbar. Wie gut es um die Wiederholbarkeit und Objektivierbarkeit bestellt ist, ist von Disziplin zu Disziplin sicher unterschiedlich, aber innerhalb einer Disziplin wird versucht, so wiederholbar und objektiv wie möglich zu sein. (Wobei, wie oben gesagt, der Begriff der “Objektivität selbst auch schwer zu fassen ist.)
3. Die Untersuchung ist ergebnisoffen.
4. Mögliche Lücken und Fehler in der Argumentation werden gesucht, anerkannt und ggf. weitervermittelt.
5. Alternative Erklärungen werden aktiv gesucht und kritisch geprüft.
6. Im Rahmen der Möglichkeiten der jeweiligen Disziplin werden
Vorhersagen getroffen und überprüft.
Obwohl man die Kriterien jeweils an einzelnen Personen oder Tätigkeiten überprüfen sollte (in meinem Fachgebiet habe ich schon jede Menge Arbeiten gelesen, die 3-5 nicht wirklich erfüllen), kann man trotzdem einmal grob schauen, welche Disziplinen diesen Kriterien prinzipiell wie weit genügen können: Physik (für mich natürlich das Musterbeispiel einer Wissenschaft), Biologie, Sozialwissenschaften (zumindest zum Teil) erfüllen die Kriterien, soweit ich es sehe.
Homöopathie verletzt 3-5, vielleicht auch 6, und, solange man sich auf Anekdoten statt systematische Erhebungen verlässt, auch 2. Theologie verletzt 5 (Gott wird vorausgesetzt, atheistische Erklärungen also ausgeschlossen), bei 6 bin ich mir nicht sicher – je nachdem, was genau der Theologe untersucht.
Interessant ist natürlich die Frage, in wie weit Philosophie eine Wissenschaft ist. Sie hat eventuell Probleme mit 2 und 6, ist aber in meinen Augen ein Grenzfall. Ehrlich gesagt weiß ich auch gefühlsmäßig nicht, ob Philosophie eine Wissenschaft ist. Obwohl ich die Bücher von Dennett schon ziemlich wissenschaftlich argumentiert finde, insofern würde ich Philosophie als Wissenschaft zumindest in einigen Fällen akzeptieren.
Schriftsteller oder Dichter, die ja auch etwas Fundamentales über das Menschsein sagen, verletzen 2 und 6, betreiben also keine Wissenschaft.
Noch interessanter finde ich aber, dass nach diesen Kriterien auch Dinge wissenschaftlich sein können, die man normalerweise nicht so einstuft: Sporttrainer beispielsweise können all diese Kriterien vielleicht erfüllen – wenn der Trainer ein neues Programm probiert, weil er die Trefffähigkeit seiner Torschützen steigert, und diese dann in der nächsten Saison mehr Tore schießen, ist das erstmal ein Experiment. Wenn das bei anderen Mannschaften auch klappt, ist das aber ja vielleicht auch schon Sportwissenschaft – die Grenzen sind vermutlich fließend.
Auch das Reparieren eines Motorrads kann demnach wissenschaftlich sein (wie auch ausführlich in einem meiner Lieblingsbücher “Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten” beschrieben). Ebenso das Lesen von Tierfährten, das Carl Sagan als Beispiel für “wissenschaftliches” Denken in “vorwissenschaftlichen” Kulturen herangezogen hat. Viele Alltagstätigkeiten können wissenschaftlich sein, in dem Sinne, dass sie den hier aufgeführten Kriterien entsprechen.
Und diese Meinung ist gar nicht so neu (und damit vermutlich auch nicht besonders originell). Einstein hat gesagt
Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags
Und von Thomas Huxley stammt der Satz:
Science is organized common sense where many a beautiful theory was killed by an ugly fact.
(Wissenschaft ist organisierter gesunder Menschenverstand, wo manch eine wunderschöne Theorie durch ein hässliches Fakt gemordet wurde.)
Insofern ist die Idee, dass “Wissenschaftlichkeit” etwas Alltägliches ist, gar nicht so überraschend – und da man den “gesunden Menschenverstand” (common sense) auch im Alltag in ganz verschiedenen Bereichen einsetzen kann, darf dasselbe dann auch für Wissenschaftlichkeit gelten.
Aber keine Sorge – ich glaube nicht, dass damit das letzte Wort gesprochen ist. Immerhin versuchen sich die Wissenschaftstheoretiker seit Ewigkeiten an einer Definition, da werd ich nicht in einer Stunde den Stein der Weisen hingeschrieben haben. Und als kritische Anmerkung sollte man auch den Satz von Richard Feynman nicht vergessen:
Philosophy of science is as useful to scientists as ornithology is to birds.
(Die Philosophie der Wissenschaft ist für Wissenschaftler so nützlich wie die Ornithologie für Vögel.)
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