Hinweis: Dieser Artikel erschien am 1. April 2011!
Dass irgendein Fossil angeblich unser gesamtes Weltbild umkrempelt, liest man ja öfter mal. Diesmal aber ist der Medienhype, der sicher bald entstehen wird berechtigt: Ein neuer Fossilienfund legt nahe, dass Primaten und Fledermäuse eng mit den Flugsauriern des Erdmittelalters verwandt sind.
Die enge Verwandtschaft zwischen Primaten und Fledermäusen gilt schon seit längerem als sehr wahrscheinlich. Zusammen mit den Colugos oder Riesengleitern, den Spitzhörnchen und den ausgestorbenen Plesiadapiformen werden sie in der Gruppe der Archonta zusammengefasst.
Aber natürlich sind sie alle Säugetiere und damit eng verwandt mit Mäusen, Katzen und Elefanten. Das dachte man zumindest bisher.
Doch ein neu entdecktes Flugsaurierfossil lässt Zweifel an diesem altvertrauten Bild aufkommen. Um das zu verstehen, müssen wir uns erst einmal angucken, was Säugetiere eigentlich sind.
Drei Merkmale werden meist aufgeführt, um Säugetiere zu charakterisieren: Sie haben Haare, säugen ihre Nachkommen und haben ein spezielles Kiefergelenk. Das Kiefergelenk ist dabei für Paläontologen am interessantesten, weil es natürlich leichter als Fossil erhalten bleibt als Haare oder Milch. Bei Säugetieren besteht es aus einem einzigen Knochen, währen die anderen beiden Knochen, die bei unseren reptilienartigen Vorfahren zum Unterkiefer gehörten, zu Gehörknöchelchen umgewandelt wurden. Das habe ich neulich schon mal erklärt. Und bisher dachte man, dass alles, was ein solches Kiefergelenk besitzt, auch ein Säugetier sein muss.
Dass Flugsaurier ebenfalls behaart waren und damit eins der drei wichtigsten Säugetiermerkmale besitzen, ist seit 1974 mit der Entdeckung des Flugsauriers Sordes pilosus (“behaarte Scheußlichkeit”) bekannt. Doch so mutig, daraus auf eine Verwandtschaft mit den Säugetieren zu schließen, war damals verständlicherweise niemand.
Diesen Mut brachten erst die Entdecker des neuen Fossils auf: John Spiker aus den USA und sein chinesischer Kollege Ba-Tong Ti entdeckten das sensationelle Fossil in den berühmten Lagerstätten von Liaoning, denen man auch die Entdeckung gefiederter Dinosaurier verdankt.
Hier ein Bild des neu entdeckten Flugsauriers:
Auf den ersten Blick erkennt man nicht viel Spektakuläres – ein Flugsaurier eben, wie man an der Form der Flügel mit dem charakteristischen Flugfinger erkennt. Spiker und Ti aber analysierten das Fossil genauer. Dabei fiel ihnen zunächst der Kieferbereich am Schädel ins Auge – den Bereich habe ich oben rot eingekreist:
Ja, ich geb’s zu, ich erkenne auch nicht viel. Aber mit Hilfe von M. Flinkmann, einem Experten für digitale Bildanalyse, gelang es ihnen, diese Rekonstruktion hervorzuzaubern:
Auch wenn der hintere Teil des Schädels fehlt, ist eindeutig ein Kiefergelenk zu erkennen, das dem der Säugetiere ähnelt. Dies zeigt der Vergleich mit dem Schädel eines frühen Säugetiers:
Die Ähnlichkeit ist absolut verblüffend – nur ein paar Proportionen sind verschoben. Das, zusammen mit den Haaren, die man von Flugsauriern ja kennt, ist schon ein spannender Hinweis darauf, dass hier irgendetwas nicht zu unserer üblichen Vorstellung der Verwandtschaftsbeziehungen passt. Aber es könnte sich ja auch um Konvergenz handeln, also eine unabhängige Entwicklung desselben Merkmals. Eine echte Verwandtschaft mit den Fledermäusen wird dadurch allein noch nicht hinreichend belegt.
Doch dann untersuchten die beiden Forscher die Handknochen des neuen Fossils:
Man erkennt, dass die Fingerknochen nicht, wie bei allen anderen Flugsauriern, frei sind, sondern dass sie nach unten geklappt waren und deshalb in die Flughaut eingebettet waren. Diese Umorientierung kam vermutlich durch einen Gendefekt zustande, bei dem das Aktivierungsmuster innerhalb der Hand umgekehrt wurde. Experimentell hat man ähnliche Experimente schon in den 40er Jahren durchgeführt; hier ein neueres Paper zu solchen Defekten.
Diese Umorientierung der Fingerknochen legt nahe, dass sich die Fledermäuse direkt aus den Flugsauriern entwickelt haben. Dies erklärt auch ein weiteres Rätsel der Paläontologie: Das weitgehende Verschwinden der Flugsaurier in der Mitte der Kreidezeit. Bisher ging man davon aus, dass sie von Vögeln aus ihren ökologischen Nischen verdrängt wurden, doch wahrscheinlicher erscheint nun, dass sie stattdessen zu nachtaktiven Tieren wurden – so wie es die Fledermäuse und die Spitzhörnchen ja auch heute noch sind.
Aus diesen nachtaktiven Flugsauriern entwickelten sich dann zunächst die Fledermäuse. Einige Fledermäuse verloren ihre Flugfähigkeit (so wie ja auch viele Vögel) und entwickelten sich schließlich zu den Primaten. Dieses Bild hier vergleicht die Skelette von Flugsauriern, Fledermäusen und Menschen und zeigt, dass die Ähnlichkeit größer ist als man vielleicht denkt:
Weil der neu entdeckte Flugsaurier diese Verwandtschaft mit den Menschen nahelegt, wurde er auf den Namen Homosaurus pitchfuensis getauft – wobei pitch’fu anscheinend ein Ausdruck der Überraschung in einem lokalen Dialekt darstellt. (Das mag jetzt albern klingen, aber der lateinische Artname “inexpectatus” = “unerwartet” kommt in der Biologie häufiger vor; warum also nicht dasselbe in einem Dialekt?)
Natürlich gibt es auch Einwände gegen die neue Theorie: Zum einen legten Flugsaurier Eier, während die meisten Säugetiere lebende Junge zur Welt bringen. Allerdings ist die Fähigkeit, lebende Junge zu gebären, unter den Wirbeltieren weit verbreitet und hat sich mehr als 120 Mal entwickelt – in verschiedenen Eidechsen, Schlangen oder bei den Ichthyosauriern. Auch Plazenta-Strukturen sind nicht auf Säugetiere beschränkt; wer mehr wissen will, kann dem Link oben folgen.
Der zweite naheliegende Einwand ist die Fähigkeit der Säugetiere, ihre Jungen mit Milch zu ernähren. Kann diese Entwicklung auf Konvergenz beruhen? Ti und Spiker haben, in Zusammenarbeit mit dem Genetiker Dr. Henry Wu, eine andere faszinierende Theorie entwickelt: Horizontaler Gentransfer, also die Übertragung von Genen zwischen unterschiedlichen Arten, soll hierfür verantwortlich sein. Eine DNA-Sequenzierung der entsprechenden Gene von Mensch, Fledermaus und Katze soll hierüber in Zukunft eindeutigen Aufschluss geben.
Nach der neuen Theorie sind die Säugetiere also keine evolutionär zusammenhängende Tiergruppe, sondern zerfallen in zwei getrennte Klassen: Alle Säugetiere außer den Archonta (Primaten, Fledermäuse usw) bilden eine Gruppe, die Archonta aber sind zusammen mit den Flugsauriern eine zweite. Für diese neue Tiergruppe (Flugsaurier+Archonta) wurde der schöne Name “Dracotheria” (Drachentiere) vorgeschlagen – der gefällt mir deshalb gut, weil “Theria” eine häufig verwendete Endung für Säugetiergruppen ist (Eutheria, Afrotheria, Laurasiatheria sind nur ein paar Beispiele), während “Draco” direkt an die Flugdrachen des Erdmittelalters erinnert.
Unerwartete Unterstützung erhält die Theorie von ganz anderer Seite: Der Psychologe Dr. Paul Weston vom Baltimore Institute of Psychology sieht in der Entdeckung eine Erklärung für ein Rätsel der Psychologie:
I think this discovery is highly suggestive as an explanation for the frequent dreams of flying that are reported from humans of all cultures. Possibly our pterosaurian ancestry is still represented in this archetype.
[Ich denke, dass diese Entdeckung eine Erklärung für die häufigen Träume vom Fliegen suggeriert, die in allen Kulturen vorkommt. Möglicherweise sind unsere Flugsauriervorfahren in unseren Archetypen immer noch gegenwärtig.]
Wenn ihr also das nächste mal vom Fliegen träumt, verdankt ihr das möglicherweise den verschlungenen Pfaden der Evolution.
Spiker, J. and Ti, B.-T., “A New Liaoning Pterosaur and the Origin of Archonta”, Journal of Vertebrate Paleontology, vol. 52, 2011
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