Ackerbau und Viehzucht zählen ja unstrittig zu den größten Errungenschaften unserer Zivilisation. Dass auch einige Tiere Landwirtschaft betreiben können, ist ja lange bekannt – bekanntestes Beispiel sind sicher die Blattschneideameisen. Vor kurzem aber wurde entdeckt, dass es eine primitive Form der Landwirtschaft sogar bei einzelligen Organismen gibt – nämlich bei den Schleimpilzen.

Schleimpilze – Einzeller mit Gemeinschaftssinn
Schleimpilze sind – auch wenn der Name eher nicht so toll klingt – faszinierende Lebewesen. Eigentlich sind es Amöben, also kleine Einzeller, die nur einige Tausendstel bis Hundertstel Millimeter groß sind. Die Schleimpilze, um die es hier geht, gehören zur Art Dictyostelium discoideum. Sie ernähren sich von Bakterien.

Solange genügend Nahrung vorhanden ist, leben die Schleimpilze wie andere Amöben als Einzeller, krabbeln mit ihren sogenannten “Scheinfüßchen” herum, futtern Bakterien und teilen sich gelegentlich.

Wird allerdings die Nahrung knapp, dann vollziehen die Amöben eine seltsame Verwandlung. Hunger führt bei ihnen dazu, dass sie ein Molekül namens cAMP bilden – das für sich ist erstmal nichts ungewöhnliches und kommt auch bei vielen Bakterien vor. Die Schleimpilze aber scheiden das cAMP auch in die Umgebung aus.

Dieses cAMP lockt dann andere Amöben an. Das klingt paradox – warum sollten andere Amöben sich davon anlocken lassen, dass eine Amöbe laut schreit “Hier gibt es kein Futter”? Aber die Amöben verfolgen ein Ziel (natürlich nicht bewusst, sondern ein genetisch programmiertes Ziel): Sie wollen sich zusammenschließen.

Je mehr Amöben zusammenkommen, um so mehr cAMP schütten sie aus, bis sich schließlich bis zu 100000 Amöben auf einem Haufen gesammelt haben. Damit ihr das ganze besser verfolgen könnt, hier eine Grafik von Wikipedia (daher habe ich den größten Teil des hier Erzählten):

Dictyosteliu lifecycle-de.svg
Von Dictyosteliu_lifecycle.JPG: MunaB
derivative work: Accountalive (talk) – Dictyosteliu_lifecycle.JPG, CC BY 2.5, Link

Momentan sind unsere Amöben in der “Mound”-Phase. Jetzt beginnen sie sich zu differenzieren – einige von ihnen entwickeln sich zu Stiel- einige zu Sporenzellen. Dabei entsteht schließlich der “Slug”, der tatsächlich schneckenartig umherwandern kann, sich also ein bisschen wie ein vielzelliges Lebewesen verhält.

Mit einigen weiteren Zwischenstadien (“mexican hat”, Kulmination) bildet sich schließlich der Fruchtkörper, der aus einem Stiel und den Sporenzellen (angeordnet zu einem sogenannten “Sorus”) besteht. Die Sporenzellen senden dann Sporen aus, die sich verbreiten können und aus denen unter günstigen Bedingungen neue einzellige Amöben werden, so dass der Zyklus von Neuem beginnt. So sieht so ein Fruchtkörper aus

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(Entnommen aus dem Nature-Paper, Referenz siehe unten)

Das für sich ist ja schon spannend genug – so spannend, dass sowohl die Macher der Serie “The Future is Wild” (in der über die Entwicklung des Lebens in der Zukunft der Erde spekuliert wird) als auch die der Serie “Extraterrestrials” Lebewesen erfunden haben, die auf dieser Basis funktionieren.

Aber die Schleimpilze können noch mehr – sie betätigen sich als Bakterienzüchter. Das Paper dazu wurde vor ein paar Wochen in Nature veröffentlicht.

Schleimpilze als Landwirte

Bakterien sind ja die Nahrung der Schleimpilze. Wenn sich die Amöben also zusammenschließen, um an anderer Stelle ihre Sporen auszustreuen und sich so zu vermehren, dann wäre es natürlich günstig, wenn es dort auch genügend zu mampfen gibt. Bei etwa einem Drittel der untersuchten Schleimpilze (aus zwei verschiedenen Orten der USA) fanden sich in den Fruchtkörpern eingelagerte Bakterien im Sorus zwischen den Sporen:

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(Entnommen aus dem Nature-Paper, Referenz siehe unten)

Links im Bild sieht man Sporen und Bakterien, rechts nur Sporen. Entsprechend wurde die eine Schleimpilzvariante “Farmer” genannt, die andere “Non-Farmer”. Dass die Bakterien tatsächlich als Nahrung dienen können, zeigt sich, wenn man den Inhalt des Sorus auf einen Nährboden ausbringt. Bei den “Farmern” entstehen Bakterienkulturen, bei den “Non-Farmern” nicht:

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Detaillierte Untersuchungen zeigen, dass die “Farmer” die Bakterien tatsächlich gezielt einlagern – nicht etwa zufällig. Amöben, die aus “Farmer”-Sporen stammen, werden selbst auch “Farmer” und lagern ihrerseits Bakterien ein – Nachkommen von “Non-Farmern” tun das nicht.

Auf diese Weise finden die aus den Sporen entstehenden Farmer-Amöben gleich Bakterien als Nahrung vor. Das ist natürlich ein großer Vorteil für sie, was die Frage aufwirft, warum nicht alle Schleimpilze Bakterien züchten, sondern nur einige von ihnen.

Ein kniffliges Optimierungsproblem
Zunächst galt die Frage zu klären, ob die Farmer überhaupt zur selben Art gehören wie die Non-Farmer. DNA-Analysen zeigen, dass das der Fall ist. Die Veranlagung zur “Landwirtschaft” wird anscheinend sexuell ausgebreitet. Obwohl sich diese Amöben meist asexuell vermehren, können zwei von ihnen verschmelzen und sich dann in mehrere Nachkommen teilen, die dann ein gemischtes Erbgut besitzen.

Aber warum breitet sich diese vorteilhafte Eigenschaft dann nicht über alle Schleimpilze dieser Art aus? Die Antwort ist ein Gemeinplatz: Alles im Leben hat seinen Preis.

Es ist zunächst relativ einsichtig, dass die ganze Speicherei von Bakterien nicht viel nützt, wenn der Schleimpilz eine bakterienreiche Umgebung findet – wenn es überall etwas zu essen gibt, braucht man sich nicht erst mit Lunchpaketen abzuschleppen. Es ist aber nicht allein das “Herumschleppen” der Bakterien, das Kosten verursacht. Um überhaupt Bakterien zum Herumschleppen zu haben, dürfen die Schleimpilze diese vorher ja nicht fressen. Tatsächlich zeigte sich im Experiment, dass die Farmer auf bakterienreichen Nährböden weniger Sporen produzieren und somit weniger Nachkommen hervorbringen als die Non-Farmer, denn sie lassen etwa die Hälfte der vorhandenen Bakterien übrig.

Weiterhin zeigte sich, dass sich die Farmer in der “slug”-Phase weniger weit bewegen als die Non-Farmer – die einen legen im Mittel eineinhalb Zentimeter zurück, die anderen drei. Ob dies daran liegt, dass die Farmer tatsächlich unbeweglicher sind, oder ob sie sich die Mühe nicht machen, weil sie ja wissen dass sie sich eigentlich überall ansiedeln können, ist nicht so klar.

Die “Landwirtschaft” der Schleimpilze ist also eine Überlebensstrategie, die Vor- und Nachteile mit sich bringt, die sich anscheinend etwa die Waage halten, so dass beide Eigenschaften parallel existieren können. Faszinierend und unerwartet ist sie aber auf jeden Fall.


Brock DA, Douglas TE, Queller DC, & Strassmann JE (2011). Primitive agriculture in a social amoeba. Nature, 469 (7330), 393-6 PMID: 21248849

Kommentare (16)

  1. #1 rolak
    5. Juni 2011

    Ein neuer Aspekt dieser merkwürdigen Wesen – vor drei Jahren sah ich eine Dokumentation, die hauptsächlich ungläubiges Staunen auslöste.
    Kann auch im Netz gefunden werden…

  2. #2 Theres
    5. Juni 2011

    Sehr fremdartige Lebewesen … und schön, dass jemand über sie berichtet. Die Doku kenne ich ebenfalls und danach sieht man alles, was nur an Pilze erinnert ganz anders.
    Evolution at work, würde ich sagen.

  3. #3 Christian A.
    5. Juni 2011

    Schleimpilze sind wirklich höchst genial! Ich hab glaube ich irgendwann mal das Paper dazu gefunden, wo ein Schleimpilzkonglomerat (ich glaube, entspricht der “mound”-Phase) in eine Schale gesetzt wurden, die dann festgestellt hat wo der Klumpen hinwollte. Die Schale ist dann dahin abgedüst – das war quasi ein motorisierter Schleimpilz 🙂
    Das ist auf jeden Fall eine neue interessante Facette der Schleimpilze.

    Noch kurz zum cAMP: Das findet man glaube ich überall. Ich weiß, dass cAMP in Synapsen von Säugetieren vorkommt und dort Bestandteil der Signalkaskade ist, die zu synaptischer Veränderung führt.

  4. #4 cydonia
    5. Juni 2011

    Da bleibt mir nur noch darauf hinzuweisen, dass man diese faszinierenden Wesen mit etwas Geduld und Glück auch problemlos in unseren Wäldern entdecken und beobachten kann. Mich interessiert immer noch, wie die Kommunikation zwischen den einzelnen “Amöben” genau funktioniert. Vor der Selbstorganisation, die zu Fruchtkörpern und Sporen führt, stehe ich immer wieder absolut fasziniert.
    Weiß jemand, ob der cAMP-Ruf sich auch von “Amöben” gehört wird, die nicht zur engeren Familie gehören(also natürlich gleiche Art, aber eben nicht direkt verwandt und verschwägert)? Da wäre es dann interessant zu wissen, wie das mit der Sporenbildung gentechnisch genau organisiert wird.

  5. #5 Christian
    6. Juni 2011

    Interessanter Text. Danke.

    Putzig ist allerdings der Satzteil:

    “weil sie ja wissen dass sie sich eigentlich überall ansiedeln können”

    Amöben “wissen”. Es zeigt eigentlich, wie ungeeignet Sprache ist, um solche Zusammenhänge zu beschreiben. Man weiß natürlich was gemeint ist, aber ich fühle mich durch die Formulierung trotzdem versucht demnächst ein Interview mit einer Amöbe zu führen. 😉

  6. #6 MartinB
    6. Juni 2011

    @Christian
    Ich habe ja extra bei “verfolgen ein Ziel” einen passenden disclaimer eingebaut – wobei es eine spannende begriffliche Frage ist, ob genetisch gespeicherte Information “Wissen” genannt werden darf.

  7. #7 roel
    6. Juni 2011

    @MartinB “Landwirtschaft bei … Schleimpilzen?” Ich dachte, ich schau mir dass mal kurz an. Hatte nicht gedacht, dass das so spannend wird!

  8. #8 SCHWAR_A
    6. Juni 2011

    @MartinB:

    …wobei es eine spannende begriffliche Frage ist, ob genetisch gespeicherte Information “Wissen” genannt werden darf.

    Ich halte das für evolutionär ‘experimentell’ erworbenes “Wissen”: funktioniert eine Änderung, wodurch auch immer sie passiert, nicht, wird sie nicht (lange) weitergeben. Die DNA ist somit ein “Wissensspeicher” erfolgreicher Experimente zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Art.

  9. #9 Andreas P.
    7. Juni 2011

    ist ja fast noch bemerkenswerter als die Fortpflanzung der Reblaus

  10. #10 Engywuck
    19. Juli 2011

    eigentlich müssten die Schleimpilze nur aneinander haften bleiben und nicht komplett in Fruchtkörper sich umwandeln schon hätten wir ein Wesen, das nur schwer von einem Tier zu unterscheiden ist: spezialisierte Zellen, bewegt sich fort, hat Fortpflanzungsorgane, …

    Ist das eine Variante, wie mehrzellige Lebewesen entstanden sind, eine Neuentwicklung oder waren Schleimpilze “früher” mal mehrzellige Wesen, die sich teilweise “zurückentwickelt” haben (so unschön dieses Wort auch ist)

  11. #11 MartinB
    19. Juli 2011

    @Engywuck
    Schleimpilze sind keine rückentwickelten Mehrzeller.
    Ob man suie als gutes Modell für Mehrzelligkeit nehmen kann, weiß ich nicht, meist zitiert man da eher so Viecher wie Gonium oder Volvox:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Entwicklung_von_Einzellern_zu_Vielzellern

  12. #12 Engywuck
    20. Juli 2011

    Dann sind Schleimpilze also ein “verspäteter Versuch”, echte Vielzelligkeit zu erreichen, aber sozusagen “noch” auf halbem Weg? (verspätet, da Schleimpilze ja Landlebewesen sind und sowol Tiere als auch Pflanzen wohl im Meer entstanden). Wobei mal einzellig, mal vielzellig ja auch Vorteile hat.
    Interessant wäre jetzt mal wieder eine Zeitmaschine, um herauszufinden, wohin sich Schleimpilze entwickeln. Reines Red Queen Race wie bei Haien und Quastenflossern oder Ausdifferenzierung, Veränderung in Aussehen und Verhalten?

  13. #13 MartinB
    20. Juli 2011

    @Engywuck
    In “Future is Wild” entwickeln sich Schleimpilze weiter zu beutemachenden großen Schleimklumpen, die von Ästen runterhängen und fliegende Tiere einfangen.

    Da es Schleimpile aber vermutlich schon ziemlich lange gibt und sie ja recht erfolgreich sind, gibt es zu so einer Entwicklung vermutlich wenig Anlass.

  14. #14 MartinB
    20. Juli 2011

    @Engywuck
    In “Future is Wild” entwickeln sich Schleimpilze weiter zu beutemachenden großen Schleimklumpen, die von Ästen runterhängen und fliegende Tiere einfangen.

    Da es Schleimpile aber vermutlich schon ziemlich lange gibt und sie ja recht erfolgreich sind, gibt es zu so einer Entwicklung vermutlich wenig Anlass.

  15. #15 Engywuck
    20. Juli 2011

    Landlebende Dinosaurier gabs auch lange und sie waren lange erfolgreich. Dennoch sieht man derzeit eher ihre fliegende Abspaltung.
    Von daher…

  16. #16 MartinB
    20. Juli 2011

    @Engywuck
    Na klar – wissen kann man’s nie, das macht ja den Reiz aus. Möglich ist so eine Entwicklung sicher schon – ich halte sie nicht für soo wahrscheinlich (dazu müsste ja eine passende ökologische Nische frei werden).

    Und eigentlich war die Serie ja auch ein verkappter Versuch, zu zeigen, wie cool das Leben auf der Erde jetzt schon ist und welche verrückten Wege die Evolution so gegangen ist.