Bei wissenschaftlichen Revolutionen denkt man (gerade als Physiker) ja meist an das heliozentrische Weltbild, die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik, vielleicht auch an die Evolutionstheorie. Die meisten Revolutionen in der Wissenschaft sind weniger auffällig, krempeln aber auch Wissensgebiete um. Ein Beispiel dafür ist die Kladistik, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man am besten die evolutionären Stammbäume entschlüsselt.

Stammbäume und Kladogramme

Wer – wie ich – schon ein bisschen älter ist und als Kind oder Jugendlicher Dinosaurierbücher liebte, der kennt sicher “klassische” Stammbäume wie zum Beispiel diesen hier (zum Vergrößern klicken):

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(Aus R. Moody, “A Natural history of Dinosaurs”)

Sie zeigen Hypothesen darüber, wie unterschiedliche Dinosaurier (hier die sogenannten Ornithopoden, meist zweibeinige pflanzenfressende Dinosaurier, zu denen der berühmte Iguanodon und die Entenschnabeldinosaurier gehören) miteinander verwandt waren. Aus dem Fabrosaurus entwickelte sich (vermutlich, deshalb gestrichelt gezeichnet) der Camptosaurus, der wiederum ein Vorfahr des Iguanodon war, von dem sich dann die Hadrosaurier abzweigten.

Solche Stammbäume findet man in älteren Büchern über ausgestorbene Tiere ziemlich häufig. Schlägt man dagegen neuere Bücher oder Veröffentlichungen auf, sieht man meist ein etwas anderes Bild:

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Diese Diagramme werden als “Kladogramme” bezeichnet. Gegenüber den klassischen Stammbäumen erkennt man zwei wichtige Unterschiede (mal abgesehen davon, dass hier keine hübschen Bildchen drin sind): Während bei Stammbäumen (ich benutze das Wort ab jetzt ausschließlich für die erste Art von Diagrammen) Namen von Dinosaurierarten direkt auf den Linien stehen können, findet man sie bei Kladogrammen immer nur an den Enden. Iguanodon steht also zwischen Camptosaurus und Ouranosaurus (und den späteren Hadrosauriern), er wird aber nicht ihr direkter Vorfahr dargestellt.
Der zweite Unterschied ist die Zeitachse – Stammbäume haben eine, Kladogramme meist nicht. (Es gibt auch Ausnahmen, die sind aber eher selten, und auch in diesen geht die Zeitachse nicht in die zu Grunde liegende Analyse ein. Nachtrag: Kommentator Rainer weist zurecht darauf hin, dass Kladogramme, die auf molekularbiologischen Untersuchungen beruhen, meist mit einer Zeitachse kalibriert werden.)

“Wie aufregend!”, sagt da vermutlich irgendeine sarkastische Stimme, “die Paläontologen zeichnen ihre Diagramme jetzt ein bisschen anders als früher. Ist das eine Revolution?” “Nein, das ist nicht mal eine Revolte.” (Entschuldigung an Herzog Liancourt…)

Aber hinter dieser scheinbar kleinen Änderung steckt mehr, als man auf den ersten Blick ahnt.

Stammbaumerstellen als Kunst
Um die “klassischen” Stammbäume zu erstellen, ging man früher wie folgt vor: Man betrachtete die Fossilien, die man klassifizieren wollte, und suchte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden. Je ähnlicher sich zwei Tiere waren, desto enger waren sie vermutlich verwandt. Hatte ein Tier ein Merkmal, das bei anderen, älteren Tieren nicht vorhanden war, dann hatte es dieses irgendwann entwickelt – Tiere, die mehrere solcher Merkmale teilten, waren also vermutlich ebenfalls verwandt. Man berücksichtigte zusätzlich auch die Zeit, zu der die Tiere lebten – ein später lebendes Tier mit sehr “primitiven” Merkmalen konnte natürlich kein Vorfahr eines früher lebenden Tieres mit “fortschrittlichen” Merkmalen sein. (Die Anführungsstriche verwende ich hier, weil diese Sprechweise zwar früher üblich war, heute aber wegen ihres implizit wertenden Klangs nicht mehr so gern gesehen ist.)

Bei dieser Art der Stammbaumerstellung findet man oft Gruppen, die die Vorfahren sehr vieler späterer Arten waren. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten Thecodonten – eine Gruppe von Reptilien, unter denen man die Vorfahren der Krokodile, Flugsaurier, Dinosaurier und Vögel vermutete, hier als Beispiel Euparkeria (wie üblich von Wikipedia):

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By Nobu Tamura (https://spinops.blogspot.com) – Own work, CC BY 2.5, Link

Die Thecodonten ähnelten einander in vieler Hinsicht, insbesondere verfügten sie über viele gemeinsame Merkmale, die sie ihrerseits von ihren Vorfahren geerbt hatten. Man fasste sie deshalb als eine Gruppe zusammen, aus der sich dann viele andere abzweigten. Die Thecodonten verfügen aber über keine Merkmale, die nur ihnen gemeinsam sind und sind deshalb keine evolutionär einheitliche Gruppe – heutzutage sieht man sie eher als “wastebasket taxon” (Mülleimer-Gruppe) an, also als ein Sammelsurium von nur lose miteinander verwandten Arten.

Unterschiedliche Forscher kamen beim Aufstellen von Stammbäumen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen – ein Merkmal, das der eine für sehr wichtig hielt, fand eine andere vielleicht eher unwichtig und berücksichtigte es deshalb weniger als ihr persönliches Lieblingsmerkmal. Das Erstellen von Stammbäumen auf diese Art war also in gewisser Weise eine Kunst – es gab keine klaren Regeln dafür, und wenn zwei Forscher unterschiedliche Stammbäume aufstellten, war es eigentlich unmöglich zu entscheiden, wer von beiden recht hatte.

Und noch ein weiteres Problem machte den Forscherinnen Kopfzerbrechen: Wenn man eine Art irgendwo auf eine Linie des Stammbaums setzt (wie den Iguanodon im Bild oben), dann impliziert das ja, dass diese Art ein Vorfahr der nachfolgenden Arten ist. So ziemlich alle Tierarten, die man plausibel auf solche Verbindungslinien setzen konnte, hatten aber auch spezielle Merkmale, die weder die vermutlichen Vorfahren, noch ihre Nachkommen hatten, Merkmale, über die diese Art allein verfügte.

Iguanodon hatte beispielsweise nur zwei Fingerglieder am vierten Finger, während sowohl Camptosaurus als auch Ouranosaurus drei hatten. Wäre Iguanodon also ein direkter Nachfahre von Camptosaurus und ein Vorfahre von Ouranosaurus, dann wäre zunächst ein Fingerglied verloren gegangen und hätte sich dann wieder entwickelt. Das ist zwar möglich, macht es aber ein bisschen unwahrscheinlich, dass es tatsächlich diese Art war, die genau auf der Verbindungslinie im Stammbaum lag. Wahrscheinlicher ist, dass es eine noch unbekannte iguanodon-ähnliche Art gab, die noch drei Fingerglieder hatte und aus der sich dann sowohl Iguanodon als auch Ouranosaurus entwickelten. Auf einigen Stammbäumen sieht man deshalb die Arten nicht genau auf den Verbindungslinien sitzen, sondern an kurzen Seitenästen.

Die Evolution ernst nehmen
Die Kladistik versucht, diese Probleme zu lösen und das Erstellen von “Stammbäumen” (genauer gesagt, “Kladogrammen”) auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Nach meinem Verständnis beruht sie letztlich darauf, die Evolution in gewisser Weise ernster zu nehmen, als man es vorher tat. Dazu verwendet man folgende Grundprinzipien:

1. Plesiomorphien können nicht zur Gruppierung dienen
Eine “Plesiomorphie” ist ein Merkmal, das die Vorfahren der gerade untersuchten Tiergruppe auch schon besaßen. Untersuchen wir zum Beispiel die Säugetiere, dann ist das Vorhandensein von 5 Zehen ein plesiomorphes (manchmal sagt man auch “primitives” oder “basales”, wobei “primitiv aber, wie schon erwähnt, nicht so gern gesehen ist) Merkmal. Will man deshalb beispielsweise die Verwandtschaft zwischen einem urtümlichen Säugetier wie Morganucodon, einem Pferd, einer Katze und einem Menschen klären, so ist es nicht hilfreich, den Menschen, die Katze und Morganucodon in eine gemeinsame Gruppe zu stecken, weil sie das basale Merkmal “5 Zehen” teilen. Es ist klar, dass die Pferde irgendwo auf dem Entwicklungsweg vom Morganucodon ihre Zehen verloren haben, aber ob sie das taten, bevor oder nachdem sich die Entwicklungslinie der Menschen oder Katzen abspaltete, lässt sich nicht sagen – beides ist möglich. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verwendeten die Paläontologen häufig Klassifikationen, in denen Tiere aufgrund geteilter basaler Merkmale zusammengefasst wurden, wie beispielsweise die oben erwähnten “Thecodonten”, die in keinem älteren Dinobuch fehlen, aber in neueren höchstens noch als historische Fußnote vorkommen.

(Aber Achtung: Wenn man Kladistik mit dem Computer betreibt, dann werden zur Analyse alle Merkmale verwendet, auch Plesiomorphien. Das sehen wir weiter unten genauer.)

2. Zwischenformen können nie sicher identifiziert werden
Schon Darwin schrieb viel über die Spärlichkeit der Fossilien. Nur ein wirklich winziger Bruchteil aller Tiere wird als Fossil erhalten und auch tatsächlich gefunden. Das macht es unwahrscheinlich, dass man jemals einen genauen Vorfahren einer späteren Tiergruppe finden wird; normalerweise hat jede fossile Art irgendwelche speziellen Merkmale, die weder ihre Vorfahren noch ihre Nachfahren haben (sogenannte “Autapomorphien”, wie die Zahl der Fingerglieder beim Iguanodon). Das war ja auch der Grund, warum einige der klassischen Stammbäume die “Zwischenformen” eben nicht direkt auf die Verbindungslinien setzten. Natürlich kann es tatsächlich mal vorkommen, dass eine Art keine Autapomorphien hat und deswegen wirklich als exakter Vorfahr einer anderen in Frage kommt – man kann das aber natürlich niemals wissen, weil man die Abwesenheit von Autapomorphien schlecht beweisen kann (vielleicht hatte die Art ja rosa Punkte entwickelt). Man sollte deshalb niemals annehmen, dass man tatsächlich einen genauen Vorfahren gefunden hat, weil das letztlich keine wissenschaftlich überprüfbare Aussage ist.

3. Die Evolution ist kein linearer Prozess
Anders als bei naiven Kreationisten mit der berühmten Frage “Wenn der Mensch vom Affen abstammt, wieso gibt es dann heute noch Affen?” (grundsätzlich zu kontern mit der Gegenfrage: “Wenn die Amerikaner von den Engländern abstammen, warum gibt es heute noch Engländer?”) und auch anders als bei den üblichen Bildern der Evolution zum Beispiel des Menschen wie diesem hier:

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(geklaut bei Weitergen)
ist die Evolution kein linearer Prozess.

Arten können sich aufspalten und dann in verschiedene Richtungen weiterentwickeln. Insbesondere kann eine Entwicklungslinie neue Merkmale entwickeln (die heißen dann “Apomorphien”), während eine andere die basalen Plesiomorphien behält. Beispielsweise gibt es heute noch Menschen mit fünf Zehen, obwohl die Pferde mehrere Zehen verloren haben. Auch Schnabeltiere sind ein Beispiel – sie legen Eier wie urtümliche Säugetiere, obwohl die meisten heutigen Säugetiere das nicht tun. (Trotzdem ist es irreführend, Schnabeltiere als “lebende Fossilien” zu bezeichnen – sie haben sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt wie andere Arten auch.)

Für das Aufstellen von Stammbäumen heißt das insbesondere, dass man nicht zu sehr darauf achten sollte, wann die Tiere jeweils gelebt haben. Es kann durchaus sein, dass man eine Art mit einem basalen (plesiomorphen) Merkmal aus einer Zeit kennt, die nach der Entwicklung eines abgeleiteten (“fortschrittlichen”, apomorphen) Merkmals liegt. Ein klassisches Beispiel ist die Entwicklung der Vögel aus den Dinosauriern: Die meisten vogelähnlichen Dinosaurier kennt man aus der Zeit nach dem Archaeopteryx.

Damit ihr nicht in totale Verwirrung geratet wegen der unhandlichen Begriffe (Henning, der Erfinder der Kladistik, hatte anscheinend eine Vorliebe für solche Begriffe. Er hat die Methode übrigens ursprünglich zur Klassifikation von Insekten entwickelt, aber ich erkläre sie lieber an Dinos), hier noch mal eine kleine Übersicht:

Plesiomorphie: Ursprüngliches, basales Merkmal, dass bereits bei den Vorfahren der betrachteten Art vorhanden war. Beispiel: Fünf Zehen beim Menschen. Man spricht von einer
Symplesiomorphie, wenn mehrere Tiergruppen dasselbe Merkmal von ihren Vorfahren bekommen haben, so wie Mensch und Katze ihre fünf Zehen.
Apomorphie Abgeleitetes, weiter entwickeltes Merkmal, das bei den Vorfahren nicht vorhanden war. Man unterscheidet dabei
Autapomorphie Abgeleitetes Merkmal, über das nur die gerade betrachtete Art verfügt, beispielsweise die reduzierte Zahl der Zehenglieder beim Iguanodon. Autapomorphien sind zum Ableiten von Stammbäumen nutzlos, wie wir oben am Beispiel der Pferde gesehen haben.
SynapomorphieAbgeleitetes Merkmal, das mehrere Tierarten gemeinsam haben. Beispielsweise ist die Fähigkeit zum Sehen mit drei Grundfarben eine Synapomorphie der Primaten. Synapomorphien sind entscheidend, um Abstammungslinien zu rekonstruieren.

Wie man ein Kladogramm liest
An die Stelle der “klassischen” Stammbäume treten jetzt also Kladogramme wie das oben oder dieses hier:

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Es zeigt direkt an, wie eng die jeweiligen Arten miteinander verwandt sind, hier die “primitiveren” Sauropodomorphen, also die Vorfahren der berühmten “Langhalsdinos”. (Mehr über dieses Kladogramm könnt ihr hier nachlesen.) Der engste Verwandte von Plateosaurus ist also Riojasaurus, diesen beiden steht der Coloradisaurus am nächsten, usw. Wichtig beim Lesen ist, dass die Reihenfolge der Einträge irrelevant ist, solange man an der Baumstruktur selbst nichts ändert – man kann das Kladogramm an jedem Verzweigungspunkt herumdrehen, ohne dass sich etwas ändert, und also beispielsweise Riojasaurus nach oben schreiben. Hier eine alternative Darstellung desselben Kladogramms:

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Oft sortiert man die Arten so, dass “urtümliche” Arten tendenziell unten stehen und “fortschrittlichere” Arten, die sich also besonders stark von den “urtümlichen” unterscheiden, sehr weit oben. So wurde es auch hier in der oberen Variante gemacht – Saturnalia ist ein sehr urtümlicher Dinosaurier, Camarasaurus ein vergleichsweise fortgeschrittener. Durch diese Konvention kann man sich aber leicht in die Irre führen lassen, denn was gerade “urtümlich” und was “fortschrittlich” ist, ist letztlich keine wissenschaftliche Frage, sondern eher eine des jeweiligen Forschungskontextes. Beispielsweise sind – das hatten wir ja oben schon gesehen – Pferde fortschrittlicher als Menschen, was die Zahl ihrer Zehen angeht; Menschen dagegen sind in anderen Merkmalen weiter von den ersten Säugetieren entfernt als Pferde. Und wenn sich aus Plateosaurus-Verwandten eine andere Dino-Linie entwickelt hätte, dann würden wir vielleicht das Kladogramm so rotieren, dass die ganz oben stehen.

Wir erstellen ein Kladogramm
Und wie baut man nun so ein Kladogramm zusammen?

Zunächst muss man sich entscheiden, welche Tiergruppe man untersuchen will. Theoretisch könnte man natürlich alle Tiere gleichzeitig bearbeiten, aber angesichts von einigen Millionen Arten ist das vielleicht etwas mühsam. Also beschränkt man sich auf eine bestimmte Gruppe – möglichst eine, bei der man sich auch auskennt und Zugriff auf die entsprechenden Fossilien (oder Daten darüber) hat.

Nehmen wir also an, ich hätte euch mit meiner Begeisterung für den Plateosaurus angesteckt (als Physiker darf ich ja auch mal etwas weit hergeholte Annahmen machen), und wir wollten ein Kladogramm für die urtümlichen Sauropoden machen (die man oft als “Prosauropoden” bezeichnet – aber ob das zulässig ist, müssen wir noch diskutieren).

Als erstes überlegen wir also, welche Arten zu dieser Gruppe dazugehören – wie beispielsweise Plateosaurus, Riojasaurus usw.

Als zweites brauchen wir eine “Outgroup” (Im Deutschen Außengruppe – Dank an Rainer) – das ist eine (oder mehrere) fossile Art, die sehr gut bekannt ist und von der wir schon im Vorfeld sicher sind, dass sie den untersuchten Arten nahe verwandt ist, aber definitiv weiter unten am Kladogramm angesiedelt sein muss – so wie das oben im Beispielkladogramm zu sehen ist. In der gezeigten Analyse der “Prosauropoden” gehörten dazu Coelophysis (ein anderer meiner Lieblingsdinos), Eoraptor, Herrerasaurus und noch ein paar andere. Diese Outgroup dient sozusagen als Verankerung für die Analyse – die Art, die mit ihren Merkmalen am dichtesten an der Outgroup dran ist, ist mit ihr vermutlich am engsten verwandt und somit “basal”. Im Beispiel hier ist das Saturnalia.

Und jetzt beginnt die Arbeit: Man erstellt eine Liste mit Merkmalen, die bei den einzelnen Arten relevant erscheinen, die also zwischen ihnen variieren. Im gezeigten Cladogramm hier hat diese Liste 292 Merkmale – beispielsweise
Merkmal 1) Schädellänge mehr als halb so groß wie der Oberschenkel (0); weniger als halb so groß (1)
oder
Merkmal 236) Kleiner Trochanter (ein Muskelansatzpunkt) am Oberschenkel gut ausgeprägt (0) oder abwesend oder stark reduziert (1)

Diese Merkmale werden jetzt für alle untersuchten Arten (im Beispiel 38) untersucht – macht also schlappe 292*38=11096 Einzelmerkmale. Plateosaurus bekommt beispielsweise bei Merkmal 1) eine 1, weil der Schädel eben kürzer als die halbe Oberschenkellänge ist usw. Wenn man ein Merkmal nicht kennt – weil zum Beispiel ein Knochen nicht fossil erhalten ist, bekommt der Wert ein Fragezeichen “?”. Am Ende landet man dann für jede Art bei einer Liste, die etwa so aussieht:
Riojasaurus
1011??1??0001111100111?011??0?00?1010?0000100000001100??100? 10101?0???10110010001110??10000100010001001100001100?10100000 10010010000001?1010001?10000?????001010111{01}0011101100000111 111??111011101100111?0?01001111010101200001010000101010100100 11011001101001001?0001??0000011111010110001000?10??

Wer genau aufgepasst hat, hat ein Merkmal mit dem Wert “2” gefunden – manchmal hat ein Merkmal mehrere mögliche Zustände, beispielsweise
144) Verhältnis von Rückenwirbellänge zu -höhe: > 1(0); 1-0.7 (1), <0.7 (2)

(Falls jemand fragt, was die geschweiften Klammern bedeuten – da bin ich leider überfragt. Falls jemand Bescheid weiß, bin ich wie immer für einen Kommentar dankbar.)

Diese riesige Matrix füttert man in einen Computer ein (wobei man sich möglichst nicht vertippen sollte). Der Computer verwendet jetzt ein Optimierungsverfahren, um die Arten so in einem Kladogramm anzuordnen, dass man möglichst wenige Veränderungen (sozusagen Evolutionsschritte) benötigt. Beispielsweise haben Riojasaurus und Plateosaurus bei den Merkmalen 1-4 die Werte 1011; Coloradisaurus dagegen hat ?001. Das Fragezeichen werten wir nicht, aber bei Merkmal Nummer 3 hat sich hier etwas geändert, das zählt dann als ein Evolutionsschritt. Massospondylus und Adeopapposaurus haben beide 1010, Lufengosaurus hat 10?1.
Der Übersicht halber hier nochmal in Tabellenform:
Plateo/Rioja: 1011
Coloradi: ?001
Adeop/Masso: 1010
Lufengo: 10?1

Aus dem ersten Merkmal lernen wir nichts, das ist bei allen gleich oder unbekannt, das zweite Merkmal ist ebenfalls bei allen gleich. Bei den Merkmalen 3 und 4 haben wir die Kombinationen 11, 01, 10 und ?1. Um im Kladogramm vom Lufengosaurus zum Massospondylus (und Adeopopposaurus) zu kommen, müssen wir ein Merkmal verändern, nämlich das Vierte von 1 auf 0 (also ein Schritt). Am Gabelungspunkt zwischen Adeo/Masso und Coloradi muss sich das dritte Merkmal so oder so einmal ändern, egal ob es beim Lufengo nun Null oder 1 war (2. Schritt). Bei Coloradi ist das dritte Merkmal auf Null, aber bei Plateo/Rioja ist es wieder auf 1, das gibt also noch einen Schritt (3. Schritt).

Um die Dinos so anzuordnen wie im Kladogramm, benötigt man insgesamt also 3 evolutionäre Veränderungen.

Der Computer geht natürlich andersherum vor – er hat ja kein Kladogramm vorliegen, sondern sucht jetzt dasjenige, bei dem die wenigsten evolutionären Schritte benötigt werden. (Wie wir am Beispiel gesehen haben, kann dabei ein Merkmal aber durchaus mehrfach verändert werden, das wird dann eben durch andere Merkmale kompensiert.) Dabei kommt man natürlich nicht mit wenigen Merkmalen aus – mit unseren vier Merkmalen oben würde man weniger Schritte brauchen, wenn man Plateo und Rioja neben Lufengo anordnet, dann einmal Merkmal 3 und einmal Merkmal 4 ändert. Wieviele Merkmale man benötigt, hängt von vielen Faktoren ab – generell sollte die Zahl der Merkmale deutlich höher sein als die der Arten (im Beispiel waren es ja 292 zu 38).

Am Ende spuckt der Computer ein (oder mehrere gleichwertige) Kladogramm aus – zusätzlich auch noch diverse statistische Größen, die angeben, wie “gut” das Kladogramm ist, also beispielsweise, ob man mit nur wenig mehr Schritten ein ganz anderes Bild erhalten könnte. Die dahinter steckenden Algorithmen und die Analyse der Qualität eines Kladogramms sind wieder eine Wissenschaft für sich (aber da kenne ich mich nicht gut genug aus, um das im Einzelnen zu erklären).

Das fertige Kladogramm ist eine evolutionäre Hypothese: Unter der Annahme, dass die Evolution möglichst einfach verlaufen ist (Parsimonie – letztlich eine Anwendung des berühmten Ockhamschen Bartentferners) stellt es die wahrscheinlichsten Verwandtschaftsbeziehungen dar.

Gegenüber der klassischen Methode hat es den Vorteil, dass jede Forscherin ihre Karten auf den Tisch legen muss – jeder kann sehen, welche Merkmale verwendet wurden und welche nicht und kann die Datenmatrix um weitere Merkmale erweitern oder ungeeignete Merkmale (dazu gleich mehr) entfernen.

Probleme
Dank der Kladistik wurde aus der Kunst des Stammbaumerstellens also eine Wissenschaft – jede Paläontologin kann die verwendeten Daten, die in die Matrix eingehen, nachprüfen und nachvollziehen, wie daraus das Kladogramm wurde. Ist damit also das Erstellen von Kladogrammen vollkommen objektiv?

Leider nein. Denn welche Merkmale in eine Matrix einfließen und wie diese Merkmale gezählt werden, bleibt der Paläontologin überlassen, die das Kladogramm erstellt. Beispielsweise haben Pferde nur einen Zeh, Menschen dagegen 5. Zählen wir das als ein Merkmal, das 5 Werte annehmen kann (Zahl der Zehen: 1,2,3,4,5)? Oder Zählen wir den Verlust jedes Zehs als ein eigenes Merkmal (1. Zeh verloren: ja/nein, 2. Zeh verloren: ja/nein)? Oder sollten wir vielleicht jeden Zehenknochen einzeln zählen (1. Glied 1. Zeh verloren: ja/nein usw?)

Manche Merkmale ändern sich häufig, beispielsweise die Zahl der Wirbel bei Dinosauriern. Soll man den Verlust jedes einzelnen Schwanzwirbels als eigenes Merkmal zählen? Dann würde man nahezu zwangsläufig alle Dinos mit kurzen Schwänzen in einer Gruppe wiederfinden, weil diesem Merkmal dann ein hohes Gewicht zukäme. Oder soll man – so wird es meistens gemacht – Merkmale so definieren: Zahl der Schwanzwirbel: 1-10 oder 11-15 oder 16-24 oder… Dann hat man ein Merkmal mit mehreren (geordneten) möglichen Werten. Aber wo soll man dann genau die Grenze ansetzen?

Auch eine ungünstige Wahl der betrachteten Fossilien kann das Bild verfälschen. Nehmen wir beispielsweise an, wir hätten vom Riojasaurus und von Efraasia nur Skelette von nicht ausgewachsenen Tieren. Dann wäre das Verhältnis Augengröße zu Schädelgröße kein gutes Merkmal, weil jüngere Tiere tendenziell größere Augen haben – wir würden also die beiden möglicherweise gemeinsam gruppieren, weil sich jüngere Tiere generell immer ein wenig ähneln. Eventuell ist es also besser, solche Fossilen gar nicht in die Analyse aufzunehmen. Es braucht also schon ein bisschen Erfahrung, um hier keinen Mist zu bauen.

Auch andere Phänomene können Kladogramme verfälschen. Beispielsweise ähneln sich die “Prosauropoden” (die Anführungsstriche diskutieren wir im – ihr ahnt es schon – zweiten Teil) wie Plateosaurus und eine andere Gruppe von Dinos, die Therizinosaurier (oft auch Segnosaurier genannt):

Baltow JuraPark therizinosaurus cheloniformis.jpg
Von KrugerrEigenes Werk, GFDL, Link

Lange nahm man deshalb an, dass die Therizinosaurier mit den Prosauropoden eng verwandt wären – tatsächlich zählen sie aber zu den Raubsauriern und haben ihre generelle Ähnlichkeit im Bauplan vermutlich einfach wegen einer ähnlichen Lebensweise als Pflanzenfresser. Solche Konvergenzen können zu sehr ähnlichen Strukturen führen, ohne dass die Lebewesen tatsächlich eng verwandt wäre – bekanntes Beispiel sind die Ähnlichkeiten zwischen Haien, Fischsauriern und Delfinen. Natürlich kann man im Vorfeld nicht wissen, ob ein Merkmal bei zwei Arten nun ähnlich ist, weil sie eng verwandt sind (es wäre also ein Synapomorphie) oder weil es konvergent ist. Es ist deswegen wichtig, dass man möglichst viele verschiedene Merkmale verwendet, nicht bloß solche, die alle auf derselben Konvergenz durch ähnliche Umweltanforderungen beruhen.

Nicht weniger knifflig wird es mit der Veränderung der Form von Knochen. Wie zieht man z.B. die Grenze, wenn ein Knochen besonders stark gebogen ist? Oder besonders dick (wie der Schädel beim Pachycephalosaurus)? Oder wenn ein Knochen im Vergleich zu einem anderen vergleichsweise klein ist?

Fragen über Fragen.

Letztlich wird die Variation von Merkmalen natürlich über die Gene bestimmt – aber niemand weiß, wie viele Mutationen nun nötig sind, um die Zahl der Schwanzwirbel von 12 auf 16 zu erhöhen oder einen Knochen anders zu krümmen. Solange man das nicht weiß, bleibt nichts übrig als zu versuchen, möglichst viele Merkmale anzuschauen (so dass Fehler bei einzelnen nicht so stark ins Gewicht fallen) und die Merkmale so zu wählen, dass einzelne Aspekte nicht zu stark berücksichtigt werden. Es ist also nicht verwunderlich, dass verschiedene Paläontologen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Trotzdem hat sich die Kladistik in der Paläontologie weitgehend durchgesetzt. Sie ist so ziemlich das einzige anerkannte Mittel zur Bestimmung von evolutionären Beziehungen (auch wenn es einige Wissenschaftler gibt, die die Kladistik wegen der erläuterten Probleme für ungeeignet halten) und ist soweit zum Standard geworden, dass Veröffentlichungen neuer Fossilfunde gelegentlich abgelehnt werden, wenn sie keine kladistische Analyse enthalten (was nicht unbedingt sinnvoll ist).

Man kann Kladistik auch anwenden, um Kladogramme auf der Basis von DNA-Sequenzen zu erstellen (dabei ist man natürlich im wesentlichen auf lebende Tiere beschränkt) – das wird insbesondere von Paläontologen, die sich mit Säugetieren beschäftigen, gemacht. Die Grundidee wird inzwischen auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen verwendet, in denen man Abstammungslinien rekonstruieren möchte – wichtigstes Beispiel ist meines Wissens die Linguistik.

Verwendet man Kladogramme, um die Abstammung von Tierarten darzustellen, dann sollte sich das eigentlich auch in der Benennung von Tiergruppen widerspiegeln. Hier allerdings haben die Biologinnen und Paläontologen noch keine Einigung erzielt – während eine entsprechende Nomenklatur bei Dinosauriern üblich ist (und man es dort cool findet zu sagen, Vögel seien Dinosaurier), verwendet man in der Säugetier-Paläontologie gern noch das gute alte Schema nach Carl von Linne. Was es mit dieser Kontroverse auf sich hat und warum es Leute gab (oder vielleicht noch gibt), die dem guten alten “Tyrannosaurus rex” stattdessen den Namen “rex Osborne 1905” verpassen wollten, das – wer hätte das gedacht – erkläre ich demnächst im zweiten Teil.


Disclaimer: Wie man dem Steckbrief oben links entnehmen kann, bin ich kein Biologe. Wie üblich gilt: Sollte ich hier irgendwelchen Blödsinn erzählt haben, dürft ihr gern in den Kommentaren meckern.

Kommentare (34)

  1. #1 Radicchio
    18. Juni 2011

    das ist ein super interessanter artikel. danke!

    aber hier musste ich schmuzeln: »(Die Anführungsstriche verwende ich hier, weil diese Sprechweise zwar früher üblich war, heute aber wegen ihres implizit wertenden Klangs nicht mehr so gern gesehen ist.)« political correctness für dinosaurier_innen? was mich zu der frage führt, warum man heutzutage wertungen zu vehement auszusprechen vermeidet … BTT

  2. #2 MartinB
    18. Juni 2011

    @radicchio
    Ja, das erinnert ein bisschen an “political correctness” – hat aber auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Ein Schnabeltier ist zum Beispiel eben nicht primitiver als ein Mensch, auch wenn es einige basale Merkmale hat, die der Mensch nicht hat. Die Sprechweise mit “primitiv” kann gedanklich schnell in die Irre führen, deswegen sollte man sie vermeiden.

  3. #3 Rainer
    18. Juni 2011

    Gestattest du mir ein paar Anmerkungen?

    „Der zweite Unterschied ist die Zeitachse – Stammbäume haben eine, Kladogramme meist nicht. (Es gibt auch Ausnahmen, die sind aber eher selten, und auch in diesen geht die Zeitachse nicht in die zu Grunde liegende Analyse ein.)“

    Jain. Kladogramme, die mit molekulargenetischen Methoden erstellt werden, können oft mit einer molekularen Uhr kalibriert werden und haben dann meist auch eine Zeitachse. Scheidet bei Sauriern allerdings aus naheliegenden Gründen aus. 😉

    „Man berücksichtigte zusätzlich auch die Zeit, zu der die Tiere lebten – ein Tier mit sehr “primitiven” Merkmalen konnte natürlich kein Vorfahr eines Tieres mit “fortschrittlichen” Merkmalen sein.“

    Du meinst es sicher anders herum – „fortschrittlich“ kann kein Vorfahr von „primitiv“ sein! (Ausser wenn das „fortschrittliche“ Merkmal anschliessend rückgebildet wurde.) Das gilt aber in der Kladistik immer noch – eher noch mehr als früher! Ich würde sogar sagen, dass das Besondere der Kladistik darin liegt, dass man erstmals die zeitliche Abfolge des Erwerbs evolutiver Neuigkeiten konsequent berücksichtigt hat. Jede Plesiomorphie war früher mal eine Apomorphie und kann dort auch zur Gruppierung dienen, aber danach nicht mehr. Man bringt also die Merkmale in die wahrscheinliche Reihenfolge ihrer Entstehung und übersetzt das in ein Kladogramm.

    „heutzutage sieht man [die Thecodonten] eher als “wastebasket taxon” (Mülleimer-Gruppe) an, also als ein Sammelsurium von nur lose miteinander verwandten Arten“

    Das finde ich etwas irreführend. Natürlich sind (oder besser waren) die Thecodonten alle sehr nahe miteinander verwandt. Aber einige von ihnen waren eben noch näher mit ihren Nachfahren, den Dinosauriern, verwandt, als mit den übrigen Thecodonten. Und das erkennt man daran, dass sie bereits Merkmale hatten, die später auch die Dinos, aber eben nicht die anderen Thecodonten und deren Nachfahren besassen.
    Man könnte die Thecodonten immer noch als Verwandtschaftsgruppe auffassen. Dann müsste man aber alle Dinosaurier (incl. Vögel), Flugsaurier und Krokodile (und vermutlich weitere ausgestorbene Archosaurier) mit einbeziehen. Das macht nur wenig Sinn, denn diese Gruppe hat schon einen Namen: Archosaurier.

    „Als zweites brauchen wir eine “Outgroup” (sagt man das im Deutschen auch so oder kennt jemand die Übersetzung?)“

    Aussengruppe – so hab ich’s jedenfalls an der Uni gelernt. Sorry dass es so trivial ist. 😉

    „(Falls jemand fragt, was die geschweiften Klammern bedeuten – da bin ich leider überfragt. Falls jemand Bescheid weiß, bin ich wie immer für einen Kommentar dankbar.)“

    Das sollte aus der Originalarbeit hervorgehen. Intuitiv erschliesst sich mir das nicht.

    Bin gespannt auf den zweiten Teil.

    Rainer

  4. #4 MartinB
    18. Juni 2011

    @Rainer
    Danke für die Hinweise und das genaue Lesen.

    Den Hinweis zur Zeitachse und zur Außengruppe habe ich eingebaut.

    “Du meinst es sicher anders herum”
    Nein, da fehlte eine Zeitangabe, das primitive Tier sollte später leben und deswegen als Vorfahr nicht in Frage kommen, die ist jetzt aber drin.

    Das mit den Thecodonten wird dann hoffentlich im zweiten Teil klarer – ursprünglich sollte das alles in eins abgehadelt werden, aber das wurde zu lang.

  5. #5 SethSteiner
    19. Juni 2011

    Ein wirklicher sehr langer, sehr informativer Bericht der bestimmt einiges an Arbeit gekostet hat. Danke dafür, es hat sich gelohnt. Man liest sich gerne da durch 😀

  6. #6 MartinB
    19. Juni 2011

    @SethSteiner
    Danke.
    Die Hauptarbeit war es, den Artikel zu kürzen 🙂
    Eigentlich hätte ich noch viel mehr schreiben können – ein Teil davon wandert in Teil 2. Und eine Autapomorphie von Iguanodon auszuknobeln war auch nicht leicht…

  7. #7 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    Bei der Anwendung der Kladistik auf Sprache gibt es aber ein Problem:
    Ganze Teile können “künstlich” , wie zB im Mittelalter vom Lateinischen ins Deutsche, oder in Zeiten des Kolonialismus, von einer anderen Sprache transferiert werden. Gibt es dafür eine Methodik in der Kladistik?

  8. #8 MartinB
    20. Juni 2011

    @RalphUlrich
    Da bin ich total überfragt, bin leider kein Linguist (wieso haben wir eigentlich keinen Linguisten bei ScienceBlogs?).

  9. #9 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    @MartinB, die Frage war nicht konkret bezogen auf Linguistik. Das andere Beispiel sind ja Bakterien (EHEC!), die Gensequenzen austauschen können. Meine Frage ist:
    Gibt es für die Kladistik Methoden, die sie anwendbar für Fälle der Multi-Inheritence machen. ZBeisp könnte man auch eine kladistische Grafik der Software Betriebsysteme machen. Im Softwarebereich gibt es aber wie bei den Bakterien auch den Sonderfall, dass ganze Teile aus einem anderen Baumzweig hinüber in einen anderen Zweig kopiert werden (der ip Stack von Windows ist glaube ich aus der Unix Entwicklung).
    Um diese zusätzlichen Abstammungslinien darzustellen bräuchte die Kladistik zusätzliche Symbole!

  10. #10 MartinB
    20. Juni 2011

    @Ralph
    Stimmt, an horizontalen Gentransfer hatte ich nicht gedacht.
    Eine google-scholar-Suche nach “cladistic horizontal gene transfer” gibt immerhin 7000 Treffer, einige sehen ganz gut aus, z.B.

    Efficient algorithms for lateral gene transfer problems
    Hier gibt’s sogar ein pdf:
    https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.101.9778&rep=rep1&type=pdf

  11. #11 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    @MartinB, in deinem Pdf Link werden die kladistischen Zweige nicht als Linien, sondern als Röhren dargestellt, in denen

    andersfarbige Linien verlaufen, die austreten und in andere Zweige wechseln um horizontalen Gentransfer darzustellen.

    Ok, aber das ist eher eine Hilfstechnik als eine wirkliche Erweiterung der Technik, denn das wichtige Feature der Drehsymetrie der Bäume bleibt auf der Strecke.

  12. #12 Philipp G.
    20. Juni 2011

    Im Softwarebereich gibt es aber wie bei den Bakterien auch den Sonderfall, dass ganze Teile aus einem anderen Baumzweig hinüber in einen anderen Zweig kopiert werden

    Meines Wissens nach (auch wenn das aus einem mehrere Jahre zurückliegenden Praktikum stammt, und damit mit Vorsicht zu genießen ist), hilft da hauptsächlich eine genaue Analyse des genetischen Codes:

    – Ist das Verhältnis der Basenpaare zueinander ähnlich?
    DNA-Basenpaarungen sind immer AT und CG. Es unterscheidet sich aber zwischen verschiedenen Arten von Lebewesen. D.h. wenn man in der Sequenz von einem Bakterium ein Gen findet, in dem das Verhältniss anders ist als in der Gruppe, dann liegt der Verdacht auf horizontalen Gentransfer nahe.

    – Passt die Leserichtung zur Umgebung im Genom?

    Gene können in beiden Richtungen auf dem Genom liegen.

    – Ist die Codon-Verteilung ähnlich oder ganz anders wie im Rest der Gruppe?

    Der genetische Code ist degeneriert: Er besteht aus Code-Triplets von Basenpaaren, es gibt 4 Basenpaare, und es müssen insgesamt 20 Aminosäuren+Stop verschlüsselt werden. Daraus folgt, das es mehr DNA-Codons gibt als Aminosäuren, die meisten Aminosäuren haben mehrere Codons. Die meisten Lebewesen benutzen die selbe Codesonne, und können alle existierenden Codons ablesen, benutzen aber nicht den kompletten Satz, bzw. einige Codons seltener als andere. Das ist spezifisch für jede Bakterienart.

    – Ist der Code für einige Gene auch aus anderen Gruppen von Bakterien bekannt, und wenn ja, wie nahe verwandt ist er?

    Das ist ein bisschen stumpf. Wenn man z.B. weiß, das ein Gen “eigentlich” in einer Gruppe vorkommt, und nicht in der Untersuchten, dann weiß man, das ein horizontaler Gentransfer stattgefunden hat. Beispiel ist das Shigella-Toxin, das der gerade aktuelle EHEC-Stamm hat. Da weiß man, das es durch einen Phagen zwischen verschiedenen E.coli-Stämmen hin- und herwandert.

    So, das war nicht mehr als eine kurze Einführung. Es gibt da mit Sicherheit noch wesentlich mehr Dinge, auf die man achten kann, aber damit kenne ich mich nicht mehr wirklich aus.

  13. #13 Geoman
    20. Juni 2011

    Ich denke, man kann sagen, dass die Kladistik in der Frühphase der Entstehung des Lebens und später bei Hybridisierungen und Endosymbiosen versagt oder sich ganz weit von der Wirklichkeit entfernt. Die kladitische Revolution scheint mir schon aus diesen Gründen viel zu schematisch oder etwas einfältig zu sein.

  14. #14 Geoman
    20. Juni 2011

    Hier noch eine erhellende Abbildung zur frühen Entstehung des Lebens:

    https://www.astrobio.net/articles/images/genetransfer.gif

  15. #15 binE
    20. Juni 2011

    Die geschweifte Klammer koennte bedeuten, dass bei diesem Taxon beide Merkmalszustaende auftreten.

    Ansonsten Hut ab fuer den Artikel. Cladistik ist nix, was man sich so nebenbei mal anschaut und dann wiedergeben kann.

  16. #16 Philipp G.
    21. Juni 2011

    Ich denke, man kann sagen, dass die Kladistik in der Frühphase der Entstehung des Lebens und später bei Hybridisierungen und Endosymbiosen versagt oder sich ganz weit von der Wirklichkeit entfernt. Die kladitische Revolution scheint mir schon aus diesen Gründen viel zu schematisch oder etwas einfältig zu sein.

    Ne, einfältig ist das nicht. Das ist ein ziemlich ausgeklügeltes System, das die Evolutionsgeschichte auf jeden Fall besser wiederspiegelt als die klassischen Stammbäume.
    Der Beginn des Lebens ist mit einer biologischen Theorie sowieso nur schwer fassbar – da befindet man sich genau an der Schnittstelle zwischen Biologie und Chemie.
    Und trotzdem kommt man da mit Kladistik ganz gut weiter: Fortpflanzungsfähigkeit ist ein sehr schönes kladistisches Merkmal. Ebenso “hat eine Zellmembran” und “hat keine Zellmembran”.
    Und wieso sollte die Endosymbiontentheorie eine Schwierigkeit darstellen?
    “Hat Endosymbionten” ist eine erstklassige Autapomorphie für Eukaryoten.
    Ebenso wie “Hat nur Mitochondrien” eine prima Abgrenzung der Pflanzen (im weitesten Sinne) gegen alles andere als outgroup ist.

    Klar, man muss dann noch einen Pfeil von den Proteobakteria (bzw. den Cyanobakteria) zu den Eukaria malen.
    Aber man kann dank der Merkmale (und der Sequenzen) der Endosymbionten auch eine kladistische Analyse von ihnen machen. Und sie in die bekannten Kladogramme einordnen.

    Aber damit fällt das System nicht zusammen.

  17. #17 Belles Lettres
    21. Juni 2011

    Ich komme aus der Sprachgeschichte und Ursprachenrekonstruktion. Klassische Stammbäume und das Strahlenmodel (Ursprache mit Ausbreitung in alle Richtungen) waren bis weit ins 20. Jahrhundert aktuell, beim Indogermanischen vor allem das Kentum-Satem-Modell. Dabei geht es darum, wie die späteren Sprachen die Zahl der k-Laute von Urindogermanisch drei auf zwei reduziert haben. Hier war augenfällig, daß die Westhälfte des heutigen indogermanischen Sprachgebiets die Kentum-Reduktion aufwiesen und die Osthälfte die Satem-Reduktion.

    Daraus folgerte man, daß sich das Urindogermanische zunächst in zwei Gruppen gespalten hätte, bis man vor einem Jahrhundert das Tocharische auf chinesischem Staatsgebiet fand (die östlichste idg. Sprache), das sich allerdings als Kentum-Sprache erwies. Shit happens.

    Man dachte früher auch, daß zwei Sprachen, die dasselbe Merkmal aufwiesen, das andere Sprachen nicht haben, aus einer gemeinsamen Vorstufe hervorgegangen sind. Ein Beispiel ist die Hauchdissimilation im Griechischen und Indischen. Die Sprachen stehen sich räumlich recht nahe, aber lautgesetzlich kann man nachweisen, daß sich dieses absonderliche Merkmal in beiden Sprache unabhängig voneinander entwickelt hat. Beide Sprachen haben im Gegensatz zu anderen sowohl behauchte Konsonanten und die grammatikalische Redupikation erhalten, was universell zu Dissmilation führen muß: Wenn zwei behauchte Konsonanten aufeinandertreffen, wird der vordere enthaucht.

    Man ging früher davon aus, daß sich eine Sprache ohne Einflüsse aus ihrer Vorstufe entwickelt hat. Inzwischen weiß man, daß kaum eine Sprache ohne Sprachkontakt entstanden ist. Das Germanische ist da sogar ein extremes Beispiel. Unser ganzes Tempussystem und die Verbalbeugung als System ist alteuropäisch und nur die Formen indogermanisch.

    Was ein Gesamtkladogramm des Indogermanischen sowie die Rekonstruktion des Urindogermanischen und seine räumliche Lokalisierung betrifft: Kladogramme macht man meist nur für eine Forschungsfrage und nur partiell. Gesamtkladogramme sind oft noch altmodische Stammbäume zur Orientierung für Anfänger.

    Merkmalsaddition gilt in der Indogermanistik als grob unseriös. Solche Zahlenspiele werden immer nur von Fachfremden angestellt. Das liegt an vielen Umständen: Nur Lautgleichungen können zum Beispiel Sprachverwandtschaft und Abstammung nachweisen, nicht aber grammatikalisch oder semantisch gleiche Merkmale. Dennoch können grammatikalische Merkmale Hinweise geben. Aber wie soll man ihre Wichtigkeit numerativ bewerten?

    Zudem ist es schon sehr schwierig, die Bedeutung und Nähe von Einzelsprachen zur Ursprache sachlich zu beurteilen, wodurch sämtliche Versuche, das mit Zahlen zu operationalisieren, willkürlich sind.

    Wir haben auch das Problem, daß wir Urindogermanisch nicht wie einen Dinosaurier ausgraben, sondern nur rekonstruieren können. Diese Rekonstruktion wurde aus den drei Kardinalrekonstruktionssprache Altindisch, Griechisch und Lateinisch erstellt. Sie ist der Punkt, wo sich die Extrapolationslinien der Lautgleichungen in der Vergangenheit treffen, und zwar verdächtigerweise ziemlich scharf. So scharf sogar, daß das Urindogermanische widerspruchsfrei wie die Ursprache selbst aussieht, was aber nicht sein kann. Nicht in die Rekonstruktion einbezogene Sprachen wie Gotisch oder Hethitisch lassen sich dagegen nicht millimetergenau in das Modell einpassen.

  18. #18 MartinB
    21. Juni 2011

    @BellesLettres
    Danke für den ausführlichen Kommentar – Linguistik ist schon spannend, schade dass ich davon wenig verstehe.

    Tolle Internet-Seite übrigens. Super fand ich besonders das hier:
    https://www.belleslettres.eu/artikel/sinn-machen-make-sense-anglizismus.php

  19. #19 Bey
    21. Juni 2011

    @Martin
    Klasse! Danke.

    @BellesLettres
    Bin ich erleichtert!
    Endlich habe ich (Ihre) Worte, mit denen ich mein Unbehagen wegen des “Sinn-Machens” ausdrücken und begründen kann. Halleluja!

  20. #20 Rainer
    21. Juni 2011

    “Die geschweifte Klammer koennte bedeuten, dass bei diesem Taxon beide Merkmalszustaende auftreten.”

    Stimmt. Jetzt fällts mir wieder ein. Ich hatte das mit dem Fragezeichen verwechselt, das jedoch bedeutet, dass das Merkmal nicht vorkommt (oder aus dem Fossilmaterial nicht bekannt ist) und daher nicht beurteilt werden kann.

  21. #21 MartinB
    21. Juni 2011

    Danke!

  22. #22 Geoman
    22. Juni 2011

    MartinB schrieb:

    “Auch Schnabeltiere sind ein Beispiel – sie legen Eier wie urtümliche Säugetiere, obwohl die meisten heutigen Säugetiere das nicht tun. (Trotzdem ist es irreführend, Schnabeltiere als “lebende Fossilien” zu bezeichnen – sie haben sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt wie andere Arten auch.)”

    Von welchen “urtümlichen Säugetieren” weiß man denn, dass sie Eier legten, außer den wenigen heute bekannten und noch lebenden Kloakentiere? Und warum sind Kloakentiere “urtümliche Säugetiere”, wenn voll ausgebildete Merkmale von Säugetieren wie z. B. das wärmedämmende Fell oder komplexe Gehörknöchelchen aufweisen. Schnabeltiere sind keine urtümlichen Säugetiere im Sinne von Übergangsformen, sondern ganz sicher Mosaikformen oder “animals of all time” wie es ein Monotremata-Experte ausdrückte.

    Ich bezweifele auch, dass sie sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt haben, wie andere Arten auch. Hochspezialisierten Merkmale der Schnabeltiere (wie z. B. der elektrosensible Tastschnabel) waren laut Fossilfunden schon in der Kreidezeit vorhanden. Ihre Evolution ist also völlig anders verlaufen, als die der Beutel- und Plazentatiere, die sich zwar zu Beginn der Kreidezeit aufspalteten, deren Radiation und Spezialisierung aber erst im Tertiär erfolgte.

  23. #23 MartinB
    22. Juni 2011

    @geoman
    “Und warum sind Kloakentiere “urtümliche Säugetiere”, wenn voll ausgebildete Merkmale von Säugetieren wie z. B. das wärmedämmende Fell oder komplexe Gehörknöchelchen aufweisen.”
    Habe ich nie geschrieben – ich habe geschrieben, dass Schnabeltiere Eier legten wie ursprüngliche Säugetiere, nicht, dass sie urtümliche Säugetiere sind.
    Wann genau der Übergang zur Lebendgeburt kam, weiß ich nicht, ist wohl auch fossil schwer herauszufinden – spielt aber keine Rolle, denn dass die ersten Säugetiere bzw. ihre Vorfahren Eier legten, ist klar.

    “Ich bezweifele auch, dass sie sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt haben, wie andere Arten auch.”
    Genauso sollte ja auch nur heißen: Auch die sind nicht in der Kreidezeit stehengeblieben, wie man das manchmal liest – über die Rate der Evolution habe ich nichts sagen wollen.

  24. #24 Wohnungsheinz
    22. Juni 2011

    Ich liebe Dinosaurier – das ist so ein faszinierendes Thema… unglaublich, was damals so abging 😉

  25. #25 Geoman
    22. Juni 2011

    @ MartinB

    Ich möchte hier nochmal ganz explizit auf das Phänomen hinweisen, dass viele ‘Zwischenformen’, die uns von den Evolutionsbiologen oder Paläontologen als ursprüngliche oder Übergangsformen präsentiert werden, in Wahrheit besser als Mosaikformen beschrieben werden können, weil sie voll ausgebildete Merkmale verschiedener Taxa besitzen.

    Und dass es irreführend sein soll, Schnabeltiere als lebende Fossilien zu bezeichnen, weil sie irgendwie seit der Kreidezeit evolviert sind, gefällt mir auch nicht, wenn Du damit ausdrücken willst, dass es im Grunde genommen keine “lebenden Fosilien” gibt.
    Die gibt es aber sehr wohl, was heißen soll, dass man ohne diesen Begriff die Vielfalt des Lebendigen kaum angemessen beschreiben kann. Denn zwischen einem ostafrikanischen Buntbarsch der explosiv evolviert und einem Krokodil, das sich seit Urzeiten morphologisch kaum verändert hat, gibt es einen gravierenden – uns bezüglich des Evolutionsmechnismus – nicht bekannten Unterschied.

  26. #26 MartinB
    22. Juni 2011

    @geoman
    Ich zitere mal Wiki, besser könnte ich’s auch nicht:
    “Die Bezeichnung ist insofern irreführend, als sie die Vorstellung nahe legt, seit der Fossilisation ihrer Vorläufer vor Millionen Jahren habe keine evolutionäre Veränderung der Arten mehr stattgefunden, und die heute lebenden Vertreter würden exakt den fossil belegten Arten gleichen. Doch auch diese sind zwangsläufig evolutionären Veränderungen unterworfen. So waren zum Beispiel die fossilen Quastenflosser Bewohner der Flachmeere und Küsten; die heutigen Arten leben demgegenüber in der Tiefsee und haben sich diesem Lebensraum angepasst. Ebenfalls findet Evolution praktisch ständig auf zellulärer und molekularbiologischer Ebene statt, was aber an Fossilien nicht untersucht werden kann. Der Begriff bezieht sich deshalb ausschließlich auf den morphologischen Bauplan.”

  27. #27 Theres
    22. Juni 2011

    @Geoman
    Du schriebst

    Denn zwischen einem ostafrikanischen Buntbarsch der explosiv evolviert und einem Krokodil, das sich seit Urzeiten morphologisch kaum verändert hat, gibt es einen gravierenden – uns bezüglich des Evolutionsmechnismus – nicht bekannten Unterschied.

    Vielleicht der, dass es keinen Grund gibt, in der Umwelt des Tieres z.B., der Veränderungen notwendig macht. Damit wäre er bekannt. Das Krokodil hat sich äußerlich kaum verändert, weil es gut angepasst und als Art erfolgreich ist. Das genügt doch. Wie es genetisch aussieht, weißt du vermutlich so wenig wie ich. Gene werden auch so selten versteinert 😉
    Das Schnabeltier wurde in Nischen zurückgedrängt und selten. Die Vermehrungsrate eierlegender Säuger ist niedriger als die der Lebendgebärenden, soweit ich mich erinnere auch die der Beuteltiere, weshalb Konkurrenz durch eingeschleppte Säuger in Australien ein Problem ist.

  28. #28 Geoman
    24. Juni 2011

    Die Leugnung stark abweichender Evolutionsgeschwindigkeiten und der Existenz ›lebender Fossilien‹ ist meistens einem (dogmatisierten) darwinistischen Evolutionsbegriff oder -mechanismus geschuldet. Unter lebenden Fossilien versteht man üblicherweise rezente Arten, die während langer geologischer Zeitspannen wenig oder keine evolutiven Änderungen zeigen.

    Da dies meistens anhand des Vergleiches mit dem Fossilbefund nachgewiesen wird, steht natürlich die morphologische Stagnation im Vordergrund. Von Darwinisten wird deshalb eingewandt, dass der morphologische Befund nicht ausreiche, um die artliche Identität festzustellen. Dieses Kriterium ist aber praktisch bei keinem ›lebenden Fossil‹ erfüllbar. Der Paläontologe Erich Thenius bemerkt dazu in seinem Buch »Lebende Fossilien«:

    »Deshalb aber die Existenz ›lebender Fossilien‹ überhaupt zu leugnen, hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Eine derartige Ansicht wird hauptsächlich von jenen Evolutionsbiologen vertreten, die ein weitgehendes Stagnieren der Evolution bei manchen Gruppen nicht wahrhaben wollen (…).«

    Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht. Für die ist aber charakteristisch, dass sie von den Grundfunktionen oder -strukturen, also den Eigenschaften eines Organismus weitgehend abgekoppelt ist.

    Was die unterschiedlichen Lebensräumen des kreidezeitlichen und rezenten Quastenflossers angeht, so müssen dem keine evolutiven Veränderungen zu Grunde liegen. Es kann sich dabei auch um Lücken in der geologischen Überlieferung oder anthropogen verursachte Änderungen der Küstenökologie handeln (z. B. Überfischung) .

    Zudem habe ich aus meinem Botanik-Studium in Erinnerung, dass die Esche sowohl in Auen als auch an Trockenhängen, also ganz feuchten und ganz trockenen Standorten gedeiht, ohne das man genetische Unterschiede feststellen konnte. Manche Arten haben einfach eine große ökologische Bandbreite, die sich offenbar auch in der Bevorzugung von Extremstandorten zeigen kann.

  29. #29 MartinB
    24. Juni 2011

    @geoman
    Ich sehe das Problem nicht – wenn sich die Umwelt nicht ändert, gibt es keinen Selektionsdruck in richtung auf eine mophologische Änderung, deswegen können beispielsweise Krokodile ihren Bauplan über zig-Millionen Jahre stabil halten.
    Das ist mit der Evolutionstheorie nicht nur vereinbar, sondern von ihr vorhergesagt.

    “Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht.”
    Vom Wort Platitüde mal abgesehen habe ich damit kein Problem – das ist doch auch genau das, was in dem Wiki-Zitat steht.

  30. #30 Geoman
    24. Juni 2011

    Das ist ja gerade der darwinistische oder selektionistische (Größen-)Wahn, zu behaupten, dass Krokodile lebende ‘Fossilien’ seine, weil sich ihre Umwelt seit Jahrmillionen nicht geändert habe. Das glaubt doch heute kein ernsthafter Evolutionsbiologe mehr. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die darwinistische Evolutionstheorie seit 150 Jahren vorgibt, Dinge erklären zu können, die sie bei objektiver Betrachtung nicht erklären kann.

  31. #31 Theres
    24. Juni 2011

    @Geoman
    Du sagtest: “Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht. Für die ist aber charakteristisch, dass sie von den Grundfunktionen oder -strukturen, also den Eigenschaften eines Organismus weitgehend abgekoppelt ist.”
    Hm?
    Wie bitte entsteht ein Lebewesen ohne seine Gene, also der Phänotyp aus dem Genotyp ohne Moleküle und damit auch ohne molekulare Evolution, im weitesten Sinne? Da ist nichts abgekoppelt. Außerdem ist nicht jede molekulare Veränderung neutral, nur die meisten.

  32. #32 kleinmauswiesel
    8. Mai 2013

    hey, super artikel, toll erklärt!! hilft mir grade sehr beim lernen auf die diplomprüfung bio 🙂 obwohl die dinonamen vll etwas verwirrt haben beim lesen… auf alle fälle vielen lieben dank für den artikel!!

  33. #33 MartinB
    8. Mai 2013

    @kleinmauswiesel
    Freut mich, aber:
    Was kann denn an Dino-Namen verwirrend sein? Hätte ich alles mit diesen komischen haarigen Lebewesen mit 7 Halswirbeln erklären sollen? Die interessieren doch keinen 😉

  34. #34 super bright leds
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    1. Oktober 2013

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