Neulich habe ich erzählt, wie die Kladistik die Paläontologie revolutioniert hat. Sie beruht auf der Logik der Evolution, bei der Abstammungslinien systematisch rekonstruiert werden. Das sollte sich eigentlich auch in der Namensgebung der Tiere widerspiegeln, aber das erweist sich als schwieriger als man vielleicht denkt.
Wie man Tiere klassifiziert
Vermutlich habt ihr alle in der Schule gelernt, dass man Tiere in verschiedene Gruppen einteilt. Die Grundidee stammt von Carl von Linne, aus einer Zeit, als noch kaum jemand an Evolution zu denken wagte und man annahm, alle Tierarten1 wären unmittelbar von Gott geschaffen.
1Vieles von dem, was ich hier schreibe, gilt natürlich genauso für Pflanzen wie für Tiere. Da ich aber von Botanik und Paläobotanik leider herzlich wenig verstehe (weiß jemand ein spannendes Einführungsbuch?), beschränke ich mich lieber gleich auf Tiere.
Linne war stark von Aristoteles’ Logik beeinflusst. Laut Aristoteles muss man zur Definition einer Sache angeben, welche kleinstmögliche Gruppe (lateinisch “genus proximum”) sie einschließt und welche spezielle Besonderheit (“differentia specifica”) sie hat. Beispielsweise könnte ich definieren “Snooker ist eine Form des Billard (genus proximum), bei der mit 22 Kugeln nach folgenden Regeln gespielt wird (differentia specifica):…” Aus dieser Logik heraus schuf Linne die binominale Nomenklatur (nein, nicht für Billard, sondern für Tiere, Pflanzen und Mineralien – letzteres hat sich nicht recht durchgesetzt), bei der man also eine Gattung und eine Art angibt, um eine Art zu charakterisieren.
Beispielsweise ist Plateosaurus engelhardti eine Art der Gattung Plateosaurus und unterscheidet sich eben von Plateosaurus gracilis. Häufig kommt es aber auch vor, dass eine Art sich so stark von allen anderen unterscheidet, dass sie auch eine eigene Gattung besitzt – beispielsweise Deinonychus mit der einzigen Art D. antirrhopus. (Ich habe hier bewusst nicht Homo sapiens als Beispiel gewählt – erstens macht das jeder, zweitens ist da nicht so klar, welche und wie viele Arten es gibt bzw. gab. Historisch sind die Dino-Beispiele natürlich falsch, von Dinosauriern wusste von Linne nichts (wenn man mal von Vögeln absieht.))
Natürlich war von Linne klar, dass es noch weitere Einteilungsmöglichkeiten geben musste. Katzen und Hunde sind sich beispielsweise ähnlicher als Katzen und Mäuse, und Katzen, Hunde und Mäuse wiederum ähneln einander stärker als Vögeln, Schlangen oder gar Insekten.
Von Linne fasste deshalb ähnliche Gattungen zu größeren Gruppen zusammen – um die Sache nicht zu sehr zu verkomplizieren, liste ich hier das System auf, das sich später durchgesetzt hat, auch wenn es ein bisschen von von Linnes Originalsystem abweicht. In diesem System gibt es zunächst sieben Hierarchieebenen (die ihr alle in der Schule lernen musstet, wenn euer Biounterricht etwas taugte). In dieser Klassifikation würde man den Plateosaurus engelhardti etwa so einteilen (und so wurde es bis in die 80er Jahre gemacht):
Art: engelhardti
Gattung: Plateosaurus
Familie: Prosauropoden
Ordnung: Saurischia
Klasse: Reptilia
Stamm (Phylum): Wirbeltiere (Vertebrata)
Reich: Tiere (Animalia)
Die Evolution verwischt die Grenzen
Soweit alles schön und übersichtlich. Im Laufe der Zeit stellte man aber fest, dass das System so nicht ausreichte: Beispielsweise kann man die Prosauropoden mit den Sauropoden (den klassischen Dinos mit langem Hals und Schwanz) in eine größere Gruppe zusammenfassen, die heute Sauropodomorpha heißt. Die müsste man irgendwo zwischen Familie und Ordnung unterbringen. genauso kann man die Saurischia (Echsenbeckendinosaurier) mit den Ornithischia (Vogelbeckendiosaurier) zu einer größeren Gruppe (den Dinosauriern1) zusammenfassen, die dann zwischen Ordnung und Klasse liegen müsste.
1Wenn Ihr noch ältere Dinobücher habt, dann werdet ihr dort lesen, dass die Dinosaurier keine natürliche Gruppierung darstellen und dass sich Ornithischier und Saurischier unabhängig voneinander entwickelten. Inzwischen weiß man aber, dass das nicht stimmt – die Dinosaurier bilden eine evolutionäre Gruppierung (und sind damit in der Sprache, die wir gleich einführen werden, monophyletisch).
Entsprechend führte man Zwischenstufen ein: Infraordnungen, Überfamilien, Kohorten (ganz selten auch Legionen und Divisionen), Subphyla und und und. Allein für die Ordnung hat man 14 Stufen eingeführt, von der Gigaordnung über Mirordnung und Minordnung bis hinunter zur Parvordnung. Wer will, findet eine Übersicht bei Wikipedia. Das macht die Sache ziemlich schwer zu durchschauen.
Außerdem bleibt das System willkürlich: Sollen nun die Prosauropoden eine Unterordnung sein, und die größere Gruppe der Sauropodomorphen eine Ordnung? Oder sind die Prosauropoden lieber eine Familie, damit zwischen der größeren Gruppe der Sauropoden und der Klasse der Reptilien noch Platz ist für die Gruppe der Dinosaurier, der Archosaurier, der Archosauromorpha und der Diapsida? (Alles Gruppen die die Prosauropoden quasi in immer größeren Kreisen einschließen.) Wie soll man das entscheiden? Warum sind beispielsweise die Primaten mit ihren etwa 200 Arten eine Ordnung, aber die Käfer mit ihren vermutlich mehr als 500000 Arten (das sind zehnmal mehr, als es Wirbeltiere gibt) ebenfalls? Gibt es ein wissenschaftliches Kriterium dafür, was eine Ordnung ist oder eine Familie?
Von Ballista at the English language Wikipedia, CC BY-SA 3.0, Lien
Und noch etwas anderes kam hinzu, das noch schwerwiegender war als die Komplexität des Systems: Die Evolution verwischt die Grenzen zwischen den Gruppierungen. Vögel bilden beispielsweise eine eigene Klasse, Reptilien eine andere. Was tut man aber mit einer Zwischenform wie dem Archaeopteryx (Bild von Wikipedia)?
Gehört der schon zu den Vögeln? Wenn ja, was ist dann mit einem nahen Verwandten, der aber noch etwas dichter an den Dinosauriern dran ist, beispielsweise Troodon? Auch schon Vogel oder noch Reptil? Je lückenloser die Fossilienfunde wurden (und der Übergang von den Dinos zu den Vögeln ist ziemlich gut bekannt), um so schwieriger wurde die Abgrenzung.
Letztlich entstehen in der Evolution neue Klassen wie die Vögel aus einzelnen Arten oder Gattungen. Wie soll man so etwas in der Nomenklatur sinnvoll einbeziehen? Was ist überhaupt die Rechtfertigung für die Linnesche Einteilung?
Für von Linne, der nur einen Bruchteil der heute bekannten Tierarten kannte, war es relativ einfach zu sehen, dass es Tiergruppen gibt, deren Mitglieder einander morphologisch nahe sind – alle Vögel sind warmblütig und legen Eier und haben Federn und teilen sehr viele Skelettmerkmale miteinander. Aber wann genau verließ nun ein Reptil seine Klasse und wurde zum ersten Vogel? Man merkt schnell, dass es schwierig wird, hier eine Grenze zu ziehen.
Man sieht, das Schema nach von Linne ist zwar im Ansatz elegant, verliert seine Eleganz allerdings, je mehr man über die Biologie und die Evolution weiß. Letztlich ist es nicht geeignet, die Evolution widerzuspiegeln, in der es keine scharfen Grenzen gibt.
Die phylogenetische Nomenklatur
Beim letzten Mal hatte ich ja erklärt, dass man heutzutage Stammbäume von Tieren mit den Methoden der Kladistik erstellt. Dabei entstehen baumartige Diagramme, die die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Tierarten darstellen, aber nicht direkte Abstammungslinien (weil man die nie sicher sein kann). Hier mal ein sehr schönes Kladogramm der Dinosaurier (geklaut bei naturalsciences.org)
Ganz rechts oben seht ihr die Vögel – und damit exemplarisch noch einmal den Grund des Ärgers. Wenn die Raubsaurier (Theropoden) nach der Linne-Klassifikation vielleicht eine Unterordnung, dann sind die Tetanurae eine Superfamilie, die Maniraptoren eine Familie, und in der drin stecken – die Vögel, also eine ganze Klasse. Evolutionär gesehen ergibt es wenig Sinn, die Vögel aus der Gruppe der Maniraptoren auszugliedern, denn sie haben mit diesen viele Merkmale gemeinsam. Und wie oben schon gesagt, ist es eigentlich unmöglich, eine klare Grenze zwischen den Raubsauriern und den Vögeln zu ziehen. Wo soll die Familie der Maniraptoren aufhören und die Klasse der Vögel anfangen?
Vom evolutionären Stammbaum aus betrachtet, ergibt eine Klassifikation nur Sinn, wenn sie evolutionäre Einheiten als Ganzes betrachtet. Da man den evolutionären Ablauf oft auch als Phylogenese bezeichnet, brauchen wir eine phylogenetische Nomenklatur, eine, die der Evolution Rechnung trägt.
Natürlich möchte man nicht gleich das Kind mit dem Bad ausschütten – weil es schwer ist, Grenzen zu ziehen, könnte man jetzt auf die Idee kommen, man sollte überhaupt keine Gruppierungen verwenden, aber es ist hoffentlich offensichtlich, dass es unpraktisch ist, wenn man über Gruppen wie “Vögel” gar nicht mehr reden kann.
Und die Evolution schreitet ja auch voran und “erfindet” neue Merkmale, die es vorher nicht gab. Beispielsweise wäre es doch vielleicht sinnvoll, eine Gruppe aller gefiederten Tiere zu definieren. Irgendwo im Kladogramm wird dieses Merkmal zum ersten Mal auftauchen, und da können wir dann unsere Gruppe anfangen lassen. Alle Tiere, die jetzt von der ersten gefiederten Art abstammen, teilen zunächst dieses Merkmal – in der Sprache vom letzten Mal sind Federn eine Synapomorphie.
Nach dieser Logik setzt man also immer einen Schnitt an einem Punkt des Kladogramms an und fasst alle Tiere, die “oberhalb” dieses Punktes sitzen (die also von dem hypothetischen Tier, das an diesen Punkt gehört, abstammen) zu einer Gruppe zusammen. Diese Gruppe ist dann “monophyletisch” – sie hat nur einen Stamm. Die Vögel sind beispielsweise eine monophyletische Gruppe, die Ornithopoden ebenfalls:
Allerdings können sich Kladogramme natürlich auch ändern – beispielsweise, wenn man neue Fossilien findet. Deshalb ist es wichtig, dass man eine Definition für monophyletische Gruppen findet, die möglichst stabil ist. Meistens tut man dies über zwei (gelegentlich auch mehr) Arten und sagt beispielsweise “Die Dinosaurier sind die kleinstmögliche Klade, die sowohl Megalosaurus als auch Iguanodon enthält”:
Gelegentlich verwendet man auch – so wie oben bei den Federn – apomorphie-basierte Definitionen. Die haben allerdings – gerade in der Paläontologie – den Nachteil, dass das entsprechende Merkmal bei einigen Fossilien dann vielleicht nicht erhalten ist.
Nicht-monophyletische Gruppen
Andere vertraute Gruppen sind allerdings nicht monophyletisch – die “klassischen” Dinosaurier beispielsweise sind es nicht, weil von ihnen ja die Vögel abstammen. Fast man also alle Dinosaurier außer den Vögeln zusammen, dann muss man im Kladogramm zwei Schnitte setzen – einen dort, wo die Dinos anfangen, einen dort, wo die Vögel anfangen. Dieser zweite Schnitt ist – wie oben erläutert – noch ein bisschen willkürlicher als der erste. Die so definierten “Dinosaurier” sind dann keine monophyletische Gruppe, sondern sie sind “paraphyletisch”:
Paraphyletische Gruppen haben nicht nur eine Synapomorphie (also ein gemeinsames Merkmal, dass sie alle von ihren Vorfahren unterscheidet), sie haben auch irgendein Merkmal, das sich bei der “abgeschnittenen” Gruppe weiterentwickelt hat – ein “primitives” oder “basales” Merkmal, also eine Plesiomorphie.
Paraphyletische Gruppen sind deswegen in der phylogenetischen Nomenklatur nicht gern gesehen – alle Gruppen (die man auch als “Kladen” bezeichnet) sollen monophyletisch sein.
Noch schlimmer als paraphyletische Gruppen sind die polyphyletischen Gruppen, bei denen man zwei Gruppen zusammenfasst, ohne ihre Verbindungsglieder dabeizuhaben – beispielsweise könnte man Vögel und Säugetiere zur Gruppe der “Warmblüter” zusammenfassen; da die beiden dieses Merkmal aber höchstwahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelt haben, ist das evolutionär betrachtet vollkommen unsinnig. Polyphyletische Gruppen beruhen typischerweise auf konvergenten Merkmalen, also eben solchen, die sich mehrfach unabhängig entwickelt haben.
Also: In der phylogenetischen Nomenklatur verwendet man nur monophyletische Bezeichnungen. Wenn wir also die Dinosaurier als Gruppe definieren wollen, dann bleibt uns nichts übrig, als auch die Vögel dazuzuzählen. Nach dieser Logik sind Vögel Dinosaurier. (Und das mag ein Grund sein, warum gerade Dinoforscher die phylogenetische Nomenklatur gern verwenden.)
Warum Menschen Fische sind
Nach der gleichen Logik allerdings sind Menschen Fische. Sie stammen nämlich – wie alle Landwirbeltiere – von Verwandten der Quastenflosser ab, die definitiv zu den Fischen gehören. Die Gruppe der Fische ohne Landwirbeltiere ist also paraphyletisch und damit pfui-bäh.
Man sieht schon, dass man sich nach dieser Logik von einigen vertrauten Tuergruppen verabschieden muss. Ein anderes Beispiel sind die Reptilien. Nach “klassischer” Sicht stammen ja Säugetiere und Vögel beide von urtümlichen Reptiliengruppen ab – die Säugetiere von den “säugetierähnlichen Reptilien”, die Vögel von einer anderen Gruppe, die man früher als “Thecodonten” bezeichnete. Schaut man auf das entsprechende Kladogramm, so erkennt man, dass die “Reptilien” – wenn man versuchen würde, sie monophyletisch zu definieren und die Säugetiervorfahren mit einschließen würde – sowohl Säugetiere als auch Vögel und eigentlich alle Landwirbeltiere umfassen, die amniotische Eier legen:
(Dieses schöne Bild stammt von der Seite von Tom Holtz, die sich jeder Dinophile umbedingt anschauen sollte.)
In diesem Kladogramm sind die jeweiligen Synapomorphien (also die neu entwickelten Merkmale) mit eingetragen. Wie ihr seht, wurde der Begriff “Reptilien” jetzt so eingeschränkt, dass die Säugetiere und ihre Vorfahren nicht mehr dazuzählen – die Vögel aber sind natürlich enthalten, und das lässt sich bei einer monophyletischen Definition auch nicht vermeiden.
Und was wird nun aus Ordnung, Familie oder Klasse? Sie fallen in diesem Schema komplett weg. Es gibt nur Kladen, sonst nichts, und alle Kladen sind gleichwertig. Da es kein Kriterium gibt, nach dem man entscheiden könnte, ob eine Gruppe nun eine Ordnung sein soll oder nicht, wird dieser Begriff letztlich als unwissenschaftlich eingestuft und abgeschafft. Und das gilt für alle Linneschen Gruppen, mit Ausnahme der Art – die gilt nach wie vor als biologische Einheit, die definierbar ist (wenn es auch in der Biologie über 120 verschiedene Definitionen gibt, was nun genau eine Art sein soll).
“A T. rex by any other name…”
Und hier gibt es jetzt ein “kleines” Problem: Die klassische Nomenklatur nach von Linne verwendet ja das binominale Schema mit Gattung und Art. Eine “Gattung” ist aber keine wissenschaftlich definierbare Gruppe. Ein aktuelles Beispiel für die Probleme, die sich daraus ergeben können, ist die berühmte Fruchtfliege Drosophila melanogaster, das Lieblingstier der Genetiker (zusammen mit dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans). D. melanogaster ist nämlich nicht die “Typ-Species” der Gattung Drosophila, also die Species, die quasi definitionsgemäß in diese Gattung gehört (die heißt Drosophila funebris). Und genauere Untersuchungen der über 1500 Drosophila-Species und ihrer Verwandten zeigen, dass D. melanogaster eigentlich in die Gattung Sophophora gehört. Deswegen muss Drosophila melanogaster umbenannt werden, was die Genetiker natürlich in Aufruhr versetzt.
Das binominale Schema mit seiner Aristotelischen Logik passt eben nicht zur Evolution, die nur Arten als natürliche Gruppen kennt. Und viele Gattungen – wie eben Drosophila – enthalten ein Sammelsurium von Arten, die zusammen eben keine monophyletische Gruppe bilden.
Logischer wäre es, jede Art würde einen einzigen und eindeutigen Namen bekommen. Am besten wäre ein uninominales System, also eins, in dem jeder Name nur aus einem einzigen Teil besteht. Aber nachdem wir seit so etwa 250 Jahren das Linne-System benutzen, ist eine Umstellung natürlich nicht soo einfach.
Einige Leute haben vorgeschlagen, einen radikalen Schnitt zu machen und Gattungsnamen möglichst komplett wegzulassen. Aus Tyrannosaurus rex würde dann nur noch “rex” – was aber nicht funktioniert, denn es gibt zum Beispiel auch den Dino Othnielia rex, der würde dann auch “rex” heißen. Um das zu umgehen, könnte man hinter den Artnamen noch das Jahr der Benennung der Art setzen, und zusätzlich noch den benennden Autor, dann wäre die Sache eindeutig. Tyrannosaurus rex hieße dann “rex Osborne 1905”.
Nun ja – wissenschaftlich mag das ja ne Super-Idee sein. Aber zum einen wäre es nach dem Einführen des neuen Systems dann so, dass man für jede Art gleich zwei Bezeichnungen hätte (denn die alten Veröffentlichungen benennen sich ja nicht automatisch um). Zum anderen – stellt euch einen spannenden Dinofilm vor, mit dem Kommentar “Der rex Osborne 1905 lauert auf seine Beute. Vorsichtig beäugt er eine Herde horridus Marsh 1889, als plötzlich über seinem Kopf ein longiceps Marsh 1876 dahinschwebt.” Shakespeare hat zwar (sinngemäß) gesagt “A T. rex by any other name would be as cool”, aber so richtig überzeugend ist diese Lösung eher nicht.
Eine eindeutige und allgemein akzeptierte Lösung gibt es – noch – nicht, obwohl man seit Jahren am so genannten “Phylocode” arbeitet, der die Benennung von Arten und Kladen neu und eindeutig regeln soll. Die Idee des “Phylocode” wurde 1998 erfunden, und er sollte im Jahr 200n implementiert werden, wobei aber n anscheinend größer als 12 werden wird.
Eine Lösung könnte darin bestehen, die Idee aufzugeben, dass die Gattung mehr ist als ein Name. So wie zwei Leute beide Müller heißen können, obwohl der eine viel näher mit einer Frau Meier verwandt ist, so könnte man es auch einfach zulassen, dass zwei Fliegenarten beide Drosophila … heißen, auch wenn eine von ihnen enger mit Sophophora verwandt ist als die andere. Das ist zwar nicht optimal, aber vermutlich praktikabel.
Paraphyletische Gruppen sind nützlich
Verwendet man nur monophyletische Gruppen, ergibt sich noch ein anderes Problem: Nehmen wir das Buch “The Dinosauria” (das Standardwerk). Angesichts von etwas mehr als 1000 “Dinosaurier”-Arten und mehr als 8000 Vogel-Arten sollte das Buch logischerweise zu etwa 8/9 von Vögeln handeln. Tut es aber nicht. Häufig behilft man sich mit dem Konstrukt “non-avian dinosaur” (mein Deutsch reicht nicht aus, um das zu übersetzen – “nicht-vogelige Dinosaurier”???), aber so richtig glücklich ist das nicht.
Beim letzten Mal hatte ich ja als Beispiel für ein Kladogramm die Prosauropoden und ihre Verwandten herangezogen. Plateosaurus, Riojasaurus und Co. sind sich alle ziemlich ähnlich – in einigen Kladogrammen bilden sie aber keine monophyletische Gruppe, sondern sind einfach immer weitere Stufen auf dem Weg zu den Sauropoden. “Prosauropoden” wäre dann keine zulässige Klassifikation (deswegen hatte ich den Namen letztes Mal in Anführungsstriche gesetzt). Wenn man nun ein Buchkapitel über diese Gruppe schreiben will – was schreibt man dann? Man kann sich mit “basale Sauropodomorpha” behelfen, aber so richtig elegant ist das nicht. Ähnliches gilt auch für die berühmten “Thecodonten” – sie sind als Gruppe paraphyletisch, weil die fortgeschritteneren Gruppen wie Dinos ausgeklammert wurden.
Und was tut ein Herpetologe – wenn er eben wirklich nur die “klassischen” Reptilien (mit Schuppen und so) erforscht, aber Vögel langweilig findet. Ist er dann ein Basal-Herpetologe?
Paraphyletische Gruppen sind also durchaus nützlich. Man sollte sie deshalb vielleicht nicht vollkommen abschaffen, sondern als “informelle” Gruppierungen beibehalten.
Und neben diesen eher praktischen Erwägungen gibt es noch ein anderes Problem: Betrachten wir als Beispiel dieses Kladogramm der Archosaurier (wieder von Tom Holtz):
Oben rechts zweigen sich die Dinosaurier ab, direkt davor steht Silesaurus. Silesaurus und die allerersten Dinosauriern (wie Eoraptor) sind sich sehr ähnlich. Trotz dieser extremen Ähnlichkeit kann man beide nicht in eine monophyletische Gruppe zusammenfassen, die nicht auch Raben, Eulen und Brachiosaurier umfasst. Entsprechend gilt ein urtümlicher Dinosaurier nach dieser Logik als näher verwandt mit einem Raben als mit einem Silesaurus, obwohl er mit Sicherheit nie mit dem Vogel verwechselt werden würde.
Obwohl die phylogenetische Nomenklatur also wesentlich eher der evolutionären Logik entspricht als die klassische nach von Linne, hat sie sich (vermutlich auch wegen dieser Probleme) noch nicht vollkommen durchgesetzt. Paraphyletische Gruppen sind oft nützlich, weil sie morphologisch ähnliche Tiere zusammenfassen, auch wenn sie “künstlich” einige Nachfahren ausklammern. Und Begriffe wie “Ordnung” oder “Familie” sind zwar letztlich nicht sauber zu definieren, geben aber trotzdem einen brauchbaren sozusagen “informellen” Eindruck von der morphologischen Ähnlichkeit der Tierarten, die man mit ihnen beschreibt.
Während die meisten Dino-Forscher die phylogenetische Nomenklatur verwenden, benutzen viele Paläontologen, die sich mit Säugetieren beschäftigen, immer noch eine Klassifikation im Linneschen Schema. Die Revolution ist also noch nicht zu Ende, und noch ist offen, welches Schema sich am Ende durchsetzen wird.
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