Manche Bücher kann man immer und immer wieder lesen, und jedesmal faszinieren sie aufs Neue und man entdeckt neue Seiten an ihnen, neue Ideen und findet neue Inspiration. Ein solches Buch ist Robert M. Pirsigs “Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten”.
Der Roman (1974 erschienen) spielt auf mehreren eng miteinander verwobenen Ebenen. Vordergründig ist es die Geschichte des Erzählers (Pirsig selbst), der mit seinem elfjährigen Sohn Chris und zwei Freunden eine Motorradtour durch die USA macht. Sie erleben dabei eher alltägliche Dinge, die für sich allein genommen zunächst nicht besonders interessant sein dürften.
Während der Motorradtour, auf der der Erzähler viel Zeit hat, denkt er nach. Er beginnt mit einer einfachen Beobachtung: Während er selbst es liebt und wichtig findet, sein Motorrad zu warten, überlässt sein Freund John die gesamte Wartung erfahrenen Mechanikern und verlässt sich ansonsten darauf, dass während einer Tour nichts mit seiner Maschine schief geht. Dieser scheinbar kleine Mentalitätsunterschied weitet sich in der Betrachtung immer weiter aus, bis er zu einer gewaltigen Kluft wird, die sich mitten durch unsere Gesellschaft und unser Denken zieht: Die Kluft zwischen dem “romantischen” und dem “klassischen” Denken. Unter “Romantik” versteht Pirsig dabei – sehr grob gesprochen – eine Sichtweise, die die Welt direkt so annimmt, wie sie erscheint, während die klassische Sichtweise versucht, die Welt zu analysieren und die Dinge als das zu sehen, was sie bedeuten.
Pirsig veranschaulicht diese Unterscheidung durch ein Erlebnis, dass er mit dem “romantischen” John hatte: Er wollte für John eine Kleinigkeit an seinem Motorrad reparieren – dafür brauchte er ein dünnes aber gut verformbares Stück nichtrostenden Blechs. Die Bierdose in seiner Hand schien ihm ideal, aber als er John vorschlug, ein Stück aus der Dose herauszuschneiden, machte dieser Ausflüchte und verschwand schließlich, ohne dass sein Motorrad repariert worden wäre. Für John war die Bierdose eine Bierdose, letztlich nichts als ein Stück Abfall, für Pirsig dagegen war die Bierdose ein Stück hochduktiles Aluminiumblech, das für den Anwendungszweck ideal geeignet war.
Diese kleine Geschichte ist typisch für das Buch: Abstrakte Ideen wie der Unterschied zwischen “klassisch” und “romantisch” werden am konkreten Beispiel erzählt und veranschaulicht, so dass Pirsig nie die Bodenhaftung verliert. Und so erfährt man am Beispiel des Motorrads etwas über die Denkweise von Aristoteles, Hume, Kant, Einstein und anderer großer Denker.
Doch es gibt noch eine dritte, düstere Ebene in diesem Buch. Beim Nachdenken merkt Pirsig, dass seine Gedanken sich immer mehr denen eines anderen annähern, eines Geistes aus seiner Vergangenheit, den er Phaidros nennt und der vor langer Zeit an dem Versuch, die Welt durch philosophisches Nachdenken zu verstehen, scheiterte. (In welcher Beziehung Pirsig tatsächlich zu Phaidros steht, will ich hier nicht verraten.) Mehr und mehr vermischen sich die Gedankenwelt von Pirsig und von Phaidros und Pirsig wird mehr und mehr von dieser fremden (?) Gedankenwelt vereinnahmt.
Auch in diesem späteren Teil des Buches steht das Philosophieren im Vordergrund – dabei liegt der Fokus auf der Frage nach der Bedeutung der “Qualität”. Was ist “Qualität”? Wann hat etwas “Qualität”? Ist “Qualität” subjektiv oder objektiv? Um diese Frage zu lösen, kehrt Pirsig letztlich sein gesamtes Denken um, der scheinbar harmlose Begriff “Qualität” gewinnt mehr und mehr an Bedeutung bis er zum Zentrum von Pirsigs (oder Phaidros’?) Metaphysik wird. Dabei verschmelzen die drei Handlungsebenen und Pirsig selbst gerät dadurch in höchste Gefahr.
Wie es sich für ein brillantes und außergewöhnliches Buch gehört, wurde auch dieses übrigens zunächst von vielen Verlegern abgelehnt – nicht acht Mal, wie Harry Potter, sondern 121 Mal.
Der Roman zieht zumindest mich jedesmal wieder in seinen Bann (vermutlich habe ich ihn inzwischen so acht oder zehn Mal gelesen). Wer gern in andere Gedankenwelten abtaucht, für den ist dieses Buch genau das Richtige. Dadurch, dass auch die abstraktesten Gedanken (bis hin zu Kants “Ding an sich”) mit dem konkreten Alltagsgegenstand “Motorrad” in Verbindung gebracht werden, hat man beim Lesen immer das Gefühl, sozusagen ein Bein fest auf dem Boden zu haben. Die um die philosophischen Gedanken herumgewobenen anderen Ebenen geben dem Roman zusätzlich Spannung.
Vermutlich ist es unmöglich, diesem Buch in einer Rezension gerecht zu werden oder einen wirklichen Eindruck davon zu geben. Deshalb: Selber lesen!
Zwei Nachbemerkungen:
Pirsig hat noch ein zweites Buch mit dem Titel “Lila” geschrieben, das stilistisch an “Zen und die Kunst….” anknüpft. Obwohl er darin neue und durchaus interessante Gedanken entwickelt, ist es in meinen Augen kein Vergleich.
Falls sich jemand übrigens an das Buch “Sophies Welt” erinnert fühlt – ja, die beiden Bücher haben ein paar Gemeinsamkeiten in der Grundidee, ansonsten verhalten sie sich zueinander etwa wie “Teletubbies” zum “Herrn der Ringe”…
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