Einige von euch haben ja fleißig mitgeknobelt – ich hoffe, es hat Spaß gemacht.
Und hier nun die Antwort: Ja, der Faden reißt. Das klingt vermutlich seltsam – wenn der Faden reißt, weil für ihn die Längenkontraktion gilt, warum gilt die dann nicht für die Raumschiffe? Längenkontraktion ist doch kein physikalisches Phänomen – woher “weiß” denn der Faden, dass er kontrahieren soll? Das Geheimnis steckt in den Beschleunigungen.
Was hier genau passiert, macht man sich am besten mit Minkowski-Diagrammen klar, die auch bei Wikipedia ausführlich erklärt werden.
Da sich die beiden Raumschiffe nur in einer Richtung bewegen, können wir ein einfaches Diagramm zeichnen, in dem die senkrechte Achse die Zeit und die waagerechte Achse der Ort ist. So sieht das Diagramm zunächst aus (noch ziemlich unspektakulär – Grundskizze übrigens bei Wiki geklaut):
Auf der vertikalen Achse steht dabei ct, also Lichtgeschwindigkeit mal Zeit – weil man mit Hilfe der Lichtgeschwindigkeit zwischen Zeiten und Strecken hin- und herrechnen kann – das habe ich mal ganz ausführlich erklärt.
In dieses schöne Diagramm kann man jetzt sogenannte Weltlinien reinzeichnen – man nimmt ein Objekt und zeichnet ein, wo es zu jedem Zeitpunkt ist. Hier zum Beispiel die Weltlinie unseres Satelliten (ich habe die vertikale Achse etwas verschoben, weil ich rechts mehr Platz brauche):
Unser Satellit sendet jetzt sein Signal aus, das bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit. Weil die vertikale Achse Zeit mal Lichtgeschwindigkeit ist, entspricht eine Sekunde genau einer Lichtsekunde (300000km), so dass ein Lichtstrahl genau unter 45 Grad verläuft:
Dieses Lichtsignal erreicht gleichzeitig (Linien der Gleichzeitigkeit sind ja horizontal, weil die Zeitachse vertikal ist) nun unsere beiden Raketen, die dann beschleunigen. Bis das Lichtsignal die Raketen erreicht, sind sie in Ruhe, genau wie unser Satellit, ihre Weltlinien sind also vertikal. Sobald sie beschleunigen, ändert sich ihre Position, und zwar immer stärker, weil ihre Geschwindigkeit ja immer weiter zunimmt:
Man erkennt an diesem Diagramm sofort, dass sich der Abstand der beiden Raketen zueinander im Bezugssystem des Satelliten nicht ändert (der Übersichtlichkeit halber lasse ich ab jetzt den Satelliten weg):
Der Abstand der beiden Raketen ändert sich also nicht. Da es gemäß der Speziellen Relativitätstheorie (SRT) aber eine Längenkontraktion des Fadens geben muss, muss dieser zwangsläufig reißen. Wer’s nicht glauben mag, der kann sich vorstellen, der Faden sei eine Kette mit anfänglich kreisförmigen Kettengliedern. Diese werden durch die Längenkontraktion (vom Satelliten aus gesehen – die Kettenglieder selbst merken davon natürlich nichts) zu schmalen Ellipsen verformt – wenn nicht irgendwo Kettenglieder aus dem Nichts entstehen, dann ist die Kette irgendwann zu kurz.
Aber Moment mal – habe ich nicht gerade gesagt, dass die Kette (oder der Faden) selbst von seiner Längenkontraktion nichts merkt? Wieso sollte der Faden dann reißen? Dazu müssen wir uns angucken, wie das Ganze eigentlich für die beiden Raumschiffe aussieht.
Bisher haben wir in unser Minkowski-Diagramm nur ein Koordinatensystem für den (ruhenden) Satelliten eingezeichnet. Das Tolle an Minkowski-Diagrammen ist aber, dass man ganz einfach ein Koordinatensystem für ein (mit konstanter Geschwindigkeit) bewegtes Objekt einzeichnen kann. Der Trick ist ganz einfach. Nehmen wir ein Raumschiff, das sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt. Seine Weltlinie ist dann eine schräg verlaufende also geneigte Gerade. Diese Gerade hat einen Winkel zu unserer senkrechten Achse (die wiederum gleich der Weltlinie eines für den Satelliten ruhenden Teilchens ist). Sie entspricht deshalb der Zeitachse der Rakete, deswegen beschrifte ich sie mit ct’:
In das Diagramm habe ich auch die neue x’-Achse eingezeichnet – man bekommt sie aus der alten x-Achse, indem man sie um denselben Winkel rotiert – nur in entgegengesetzter Richtung.
Alle Punkte auf der grünen x’-Achse sind jetzt für das Raumschiff Ereignisse, die gleichzeitig stattfinden – während sie das für den ruhenden Satelliten nicht tun. Dank des Minkowksi-Diagramms kann man leicht sehen, wie bestimmte Ereignisse in unterschiedlichen Bezugssystemen ablaufen.
Stellen wir uns beispielsweise vor, dass irgendwo rechts im Bild zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Explosion stattfindet:
Vom Satelliten aus gesehen, passiert dies, nachdem das Raumschiff am Punkt Null (da, wo sich die schwarzen Linien kreuzen) durchgeflogen ist, aber vom Raumschiff aus gesehen sind beide Ereignisse genau gleichzeitig.
Und jetzt nehmen wir wieder unsere Ursprungs-Situation zur Hand – die beiden Raumschiffe, die beschleunigen, sobald das Signal sie erreicht. Damit wir das Minkowski-Diagramm anwenden können, weisen wir beide Raumschiffe an, ihre Motoren nach kurzer Zeit wieder zu stoppen, so dass die Weltlinie so aussehen (die Raumschiffe fliegen also mit konstanter Geschwindigkeit):
Und jetzt zeichne ich für das linke der beiden Raumschiffe das korrekte Koordinatensystem ein (und damit nicht alles total unübersichtlich wird, lasse ich den Satelliten weg):
Das Korrdinatensystem ist so gekippt wie eben. Und ihr seht, dass vom linken Raumschiff aus gesehen die Zeit beim rechten Raumschiff anders vergeht – wenn das linke Raumschiff seinen Motor abschaltet und von da aus mit konstanter Geschwindigkeit und gerader Weltlinie weiterfliegt, dann hat das rechte Raumschiff seinen Motor schon längst ausgeschaltet und ist schon ein Stück weiter mit dieser Geschwindigkeit geflogen.
Der Abstand zwischen den beiden Raumschiffen vergrößert sich also im Bezugssystem der Raumschiffe. Sie starten zwar ihre Motoren gleichzeitig, aber durch die Beschleunigung scheint – vom linken Raumschiff aus gesehen – das rechte Raumschiff stärker zu beschleunigen. Zwar beschleunigt es für eine kürzere Zeit, so dass die Endgeschwindigkeit für beide dieselbe ist, aber vom linken Raumschiff ausgesehen gewinnt es zunächst einen Vorsprung.
Der Faden zerreißt also, weil sein vorderes Ende anders beschleunigt wird als sein Hinteres – der Abstand zwischen Vorn und Hinten vergrößert sich.
Damit ist das Rätsel gelöst – oder? Wieso passiert das dann aber nicht immer? Müsste dann nicht jedes endliche Objekt, das stark beschleunigt wird, dabei zerreißen?
Nein, muss es zum Glück nicht. Um das zu sehen, stellt euch ein entsprechend langes Raumschiff vor – vielleicht den guten alten Krampfstern Galaktika oder (wenn ihr es richtig groß mögt) sowas wie Gloin Traitor, auch wenn das eher ne Raumstation ist.
Nehmt an, am hinteren Ende eures Raumschiffs befinden sich die Triebwerke. Wenn ihr die zündet, üben sie eine Kraft auf das Heck eures Raumschiffs aus. Diese Kraft muss nun nach vorn durch das Raumschiff durch übertragen werden – und das geht nicht unendlich schnell, sondern maximal mit Lichtgeschwindigkeit (real natürlich noch langsamer, nämlich typischerweise mit Schallgeschwindigkeit, weil sich ja eine elastische Stoßwelle ausbreitet). Das Vorderende und das Hinterende eures Raumschiffs werden also – anders als im Experiment mit den beiden Raumschiffen – nicht genau gleichzeitig beschleunigt, sondern das hintere Ende holt sich einen “Vorsprung”. Dadurch wird das Raumschiff jetzt tatsächlich in der Länge gestaucht – das ist allerdings nicht die relativistische Längenkontraktion, sondern einfach nur die elastische Verformung eures Raumschiffes. (Man sieht daran, dass wegen der SRT die Existenz perfekt starrer Körper unmöglich ist.)
Wenn ihr dagegen vorn und hinten an eurem Raumschiff Düsen dranhabt, dann solltet ihr euren Bordcomputer besser so programmieren, dass er die unterschiedlichen Bezugssysteme an Bug und Heck beim Beschleunigen berücksichtigt, sonst bleiben beim ersten Wettfliegen nur zwei halbe Raumschiffe übrig.
Mit der SRT ist also alles in bester Ordnung und das Rätsel löst sich vollkommen konsistent auf.
Wie gesagt habe ich dieses Rätsel vor langer Zeit im Buch “Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics” von J. Bell gefunden.
Bell erzählt dazu:
This old problem came up for discussion once in the CERN canteen. A distinguished experimental physicist refused to accept that the thread would break, and regarded my assertion, that indeed it would, as a personal misinterpretation of special relativity. We decided to appeal to the CERN Theory Division for arbitration, and made a (not very systematic) canvas of opinion in it. There emerged a clear consensus that the thread would not break!
Of course many people who give this wrong answer at first get the right answer on further reflection.
[Dieses alte Problem kam eines Tages in der Kantine am CERN auf. Ein bekannter Experimentalphysiker weigerte sich zu akzeptieren, dass der Faden reißen würde und betrachtete meine Versicherung, dass er das tatsächlich würde, als persönliche Fehlinterpretation der SRT. Wir beschlossen, die CERN Theorie-Gruppe als Schiedsrichter anzurufen und machten eine (wenig systematische) Meinungsumfrage. Es gab einen klaren Konsens, dass der Faden nicht reißen würde.
Natürlich bekommen viele Menschen, die anfänglich diese falsche Antwort geben, die richtige Lösung nach einigem Nachdenken heraus.
Falls ihr es nicht herausbekommen habt – macht euch nichts draus, das geht anderen auch so.
Das Gemeine an diesem Rätsel ist vermutlich, dass man ja in SRT-Kursen immer wieder gesagt bekommt, dass die Längenkontraktion nur ein Scheinphänomen ist und keine echte, materielle Kontraktion, von der die Objekte etwas merken. Dass wegen der zwei Antriebe die Situation hier eine andere ist als bei der “normalen” Längenkontraktion, fällt wiederum nicht auf, weil man intuitiv annimmt, dass das nichts ändert, weil man sich die Raumschiffe als starre Körper vorstellt.
Das Problem wurde unabhängig davon auch von zwei japanischen Forschern entdeckt:
Takuya Matsuda and Atsuya Kinoshita
“A Paradox of Two Space Ships in Special Relativity”
AAPPS Bulletin February 2004
In diesem Paper findet ihr auch Rechnungen und saubere Diagramme statt meiner Skizzen. Rechnungen gibt’s auch bei Wikipedia.
Matsuda und Kinoshita erzählen in ihrer Arbeit (mit ziemlich feinsinnigem Humor, besonders bezüglich der in Japanisch veröffentlichten Arbeiten):
The present authors published papers presenting the above
two spaceships paradox in a Japanese physics journal, although
we do not refer the papers since they are written in Japanese.
We discovered a very interesting phenomenon: many
physicists, including university professors who appear to teach
relativity, fail to understand the problem but instead claim that
the distance should be L’. Some of them stick to the wrong
answer and published papers criticizing us (in Japanese, there-
fore we do not refer them neither). Moreover, in order to give
their wrong comprehension something to stand on, they pre-
sented lots of nonsensical arguments.
[Die Autoren haben dieses Raumschiff-Paradoxon in einem japanischen Physikjournal veröffentlicht – aber wir beziehen uns hier nicht auf diese Veröffentlichungen, da sie in Japanisch sind. Wir entdeckten ein sehr interessantes Phänomen: Viele Physiker, einschließlich Universitätsprofessoren die anscheinend Relativität lehren, sind nicht in der Lage, das problem zu verstehen und behaupten, der Abstand sei L’. Einige von ihnen beharren auf der falschen Antwort und veröffentlichten Arbeiten, die uns kritisieren (in japanisch, deshalb beziehen wir uns hier auch nicht auf diese). Um ihrem Missverständnis eine Basis zu geben präsentierten sie darüber hinaus zahlreiche unsinnige Argumente.]
Und wie schon gesagt – auch ich selbst habe das Rätsel seinerzeit am DESY den Mit-Diplomanden präsentiert, und auch dort waren die meisten zunächst der Ansicht, der Faden würde nicht reißen (soweit ich mich erinnere, waren am Ende aber fast alle überzeugt). Leider erinnere ich mich nicht mehr, was ich selbst als erstes dachte, als ich das Rätsel las, aber vermutlich habe ich auch im ersten Moment die falsche Lösung angenommen.
Die fleißigen Kommentatoren (danke!) haben mich übrigens darauf aufmerksam gemacht, dass es noch viel mehr Referenzen dazu gibt. Sogar im Kuypers “Klassische Mechanik” steht das jetzt anscheinend drin, auf Seite 665 – als ich seinerzeit die erste Auflage hatte (die war ganz neu, als ich Theoretische Mechanik gehört habe), war das ein schmales Bändchen mit so etwa 250 Seiten. Man findet das Argument auch quantitativ detailliert in
ADRIAN SFARTI, HYPERBOLIC MOTION TREATMENT FOR BELL’S SPACESHIP EXPERIMENT, FIZIKA A 18 (2009) 2, 45-52
Sehr schöne Minkowski-Diagramme und sogar eine Skizze, wie die Raumschiffe beschleunigen müssten, damit sich in ihrem eigenen Bezugssystem der Abstand nicht ändert und der Faden nicht reißt gibt es in
Francisco J Flores “Bell’s spaceships: a useful relativistic paradox ” 2005 Phys. Educ. 40 500
Anscheinend gibt es aber auch nach wie vor fehlerhafte Darstellungen wie diese hier.
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