Was sind eigentlich Naturgesetze? Wie “funktionieren” sie? Wie entdeckt man neue Naturgesetze? Was tut die Physik, wenn sie die Welt “erklärt”?
All das sind Fragen, die sich vermutlich jeder, der sich für Physik interessiert, schon mal gestellt hat.
1964 wurde der Physiker Richard Feynman eingeladen, die sogenannten “Messenger Lectures” zu halten, eine Vorlesungsreihe an der Cornell Universität. Seine Vorträge befassen sich mit genau diesen Fragen und wurden später im Buch “The Character of Physical Law” (deutsch: “Vom Wesen physikalischer Gesetze”) veröffentlicht.
Das Buch befasst sich in sieben Kapiteln mit unterschiedlichen Aspekten von Naturgesetzen. Weil es sich lohnt, die einzelnen Ideen darin etwas genauer anzuschauen, wird diese Rezension etwas länger und ich verteile sie auf mehrere Teile.
Das Gravitationsgesetz
Feynman beginnt mit dem Gravitationsgesetz, und zwar mit dem Newtonschen Gravitationsgesetz (also ohne Komplikationen durch die Allgemeine Relativitätstheorie). Das Gesetz besagt bekanntlich, dass sich zwei Massen m und M gegenseitig mit einer Kraft anziehen, die entlang ihrer Verbindungslinie wirkt und proportional zu den Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands ist:
F = -G mM/r2
Feynman erläutert (stark vereinfacht) wie Newton mit Hilfe der Keplergesetze für die Planetenbahnen dieses Gesetz aufstellte. Aus dem Gravitationsgesetz lassen sich die Keplergesetze ableiten und es lassen sich Vorhersagen ableiten – beispielsweise konnte Newton erklären, dass der Mondabstand und die Dauer eines Mondumlaufs um die Erde in einem bestimmten Zusammenhang stehen mussten – genau dem, den man beobachtete.
Überträgt man das Gesetz auf andere Himmelskörper, so bestätigt es sich auch da – beispielsweise bei den Jupitermonden. Allerdings nicht ganz – gelegentlich waren die Jupitermonde etwas vor, gelegentlich etwas hinter ihren vorhergesagten Positionen. Entweder stimmte etwas mit dem Gravitationsgesetz nicht, oder ein anderer Faktor war im Spiel. Olaus Roemer erkannte, dass die Monde immer dann “hinterherhinkten”, wenn Jupiter besonders weit von der Erde entfernt war, und dass sie “vorauseilten”, wenn Jupiter dicht an der Erde war. Daraus schloss er, dass es das Licht ist, das mit endlicher Geschwindigkeit unterwegs ist und so die Abweichungen bewirkt.
An diesem einfachen Beispiel kann man sehen, dass ein Naturgesetz es erlauben kann, andere Naturgesetze zu finden. Dazu muss man aber “Vertrauen” in das Gesetz haben – Roemer hätte ja auch sagen können “O.k., das Gravitationsgesetz wirkt beim Jupiter nicht so ganz”, und sich einen Korrekturterm einfallen lassen können, der die Beobachtungen beschreibt.
Feynman fährt fort mit der Beschreibung des Gravitationsgesetzes in unterschiedlichen Zusammenhängen, erläutert die Entdeckung des Neptun, die Bewegung von Sternen in Doppelsternen, Sternhaufen und der Milchstraße, und erläutert auch, wie das Gravitationsgesetz im Labormaßstab gemessen werden konnte.
Er schließt mit einer wichtigen Beobachtung:
But the most impressive fact is that gravity is simple. It is simple to state the principles completely and not have left any vagueness for anybody to change the ideas of the law. It is simple, and therefore it is beautiful. It is simple in its pattern. I do not mean it is simple in its action–the motions of the various planets and the perturbations of one on the other can be quite complicated to work out, and to follow how all those stars in a globular cluster move is quite beyond our ability. It is complicated in its actions, but the basic pattern or the system beneath the whole thing is simple. This is common to all our laws; they all turn out to be simple things, although complex in their actual actions.
[Am beeindruckendsten ist, dass die Gravitation einfach ist. Es ist einfach, die Prinzipien vollständig auszudrücken und keinerlei Unklarheit übrig zu lassen, mit denen jemand die Idee hinter dem Gesetz ändern könnte. Es ist einfach und deshalb ist es schön. Es hat ein einfaches Muster. Ich meine nicht, dass seine Auswirkungen einfach sind – die Bewegungen der verschiedenen Planeten und ihre gegenseitigen Störungen können ziemlich schwierig zu berechnen sein, und auszurechnen, wie sich alle Sterne in einem Kugelsternhaufen bewegen ist jenseits unserer Fähigkeiten. Seine Auswirkungen sind kompliziert, aber das zugrundeliegende Muster unter dem Ganzen ist einfach. Das haben alle unsere Gesetze gemeinsam; sie haben sich alle als einfach herausgestellt, auch wenn ihre Auswirkungen komplex sind.]
Mathematik und Physik
Physikalische Gestze sind immer mathematisch. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Feynman vor allem mit der Rolle der Mathematik in der Physik.
Warum muss man überhaupt Mathematik verwenden? Mathematik ist doch nur eine Sprache – kann man die Gesetze nicht anders formulieren?
Feynman sagt dazu ganz klar “Nein” – Mathematik ist mehr als nur eine Sprache, sie ist eine Sprache plus eingebauter Schlussfolgerungsmechanismen. Er erläutert dies im Detail, indem er das zweite Keplergesetz herleitet, das besagt:
“Ein von der Sonne zum Planeten gezogener “Fahrstrahl” überstreicht in gleichen Zeiten gleich große Flächen.”
Keplergesetz, von Harp CC BY-SA 3.0, Länk
Er zeigt, wie man dieses Gesetz aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz bekommen kann. Ohne mathematische Argumentation wäre das schwierig, denn bei der Herleitung müssen Flächen verglichen werden, wozu man wiederum die Gesetze der Geometrie braucht.
Es folgt eine Passage, an die ich mich immer besonders lebhaft erinnern werde. Feynman diskutiert die Frage, ob die Vorgehensweise in der Physik, wie die der Mathematik, axiomatisch ist, ob man also von einem bestimmten Satz von Aussagen anfängt und dann von dort aus immer weitere Sätze ableitet.
Er beginnt mit einem Vergleich der babylonischen und der griechischen Mathematik (wobei er sich darüber im klaren ist, dass das der komplexen historischen Wahrheit nicht unbedingt entspricht). Die Griechen waren Axiomatiker, sie versuchten (wie in Euklids “Elementen”), alle mathematischen Aussagen aus einem möglichst einfachen Satz von Anfangsannahmen (den Axiomen) abzuleiten. Die Baylonier dagegen hatten eine große Menge bekannter Aussagen, von denen sie ausgehen konnten. Wenn sie etwas herleiten oder berechnen wollten, dann nahmen sie sich diejenigen Sätze, die sie gerade brauchten, ohne sich besonders um die Rückführung auf Axiome zu kümmern.
Ich erinnere mich deshalb so gut an diesen Abschnitt, weil ich beim Lesen dachte “Ja, und jetzt wird Feynman erklären, dass die Physik axiomatisch ist wie die Mathematik der Griechen und dass wir immer versuchen sollten, alles auf grundlegende Anfangsannahmen zurückzuführen” (und kam mir dabei ziemlich schlau vor, vermute ich). Und dann las ich:
In physics, we need the Babylonian method.
[In der Physik brauchen wir die babylonische Methode.]
Das war durchaus ein kleiner Schock – dank vieler Physikvorlesungen und -bücher, die häufig die Axiome der jeweiligen Theorien hinschrieben und diskutierten, hatte ich diese Vorgehensweise für die einzig wahre gehalten.
Aber warum soll das so sein? Warum sind Physikerinnen besser babylonisch als griechisch?
Wenn man über das zweite Keplergesetz nachdenkt, dann stellt man schließlich fest, dass dieses Gesetz impliziert, dass der Drehimpuls des Systems erhalten bleibt. Die Drehimpulserhaltung findet man aber nicht nur in Systemen mit Gravitation, sondern auch anderswo (auch wenn sie bei elektromagnetischen Feldern dann etwas komplizierter wird, weil die Felder selbst auch einen Drehimpuls haben). Dieses Prinzip der Drehimpulserhaltung ist also umfassender als das Gravitationsgesetz, steckt aber in ihm drin. Es ist deshalb schwierig, das Gravitationsgesetz als Axiom zu nehmen und die Drehimpulserhaltung – das ist redundant. Und das Gravitationsgesetz wiederum war eine große Hilfe bei der Entwicklung der Idee, dass es eine Drehimpulserhaltung geben könnte, die Idee der Drehimpulserhaltung kann aus dem Gravitationsgesetz gewonnen werden – obwohl sie umfassender ist als das Gravitationsgesetz selbst. Physikalische Gesetze gelten oft auch für Fälle, für die wir sie zunächst nicht hergeleitet haben – ein Aspekt, auf den Feynman immer wieder zurückkommt.
Ein anderer Aspekt ist, dass es sehr verschiedene Darstellungen desselben Gesetzes geben kann. Das Gravitationsgesetz kann man beispielsweise auch mit Hilfe von Potentialen (also der Energie) oder über das Prinzip der kleinsten Wirkung darstellen. Alle drei Darstellungen sind mathematisch äquivalent, das kann man zeigen. Aber sie sind nicht physikalisch äquivalent – jede Formulierung betont eine bestimmte Größe, die das System beschreibt. Wenn wir mit Hilfe des Gravitationsgesetzes andere Gesetze suchen oder wenn wir das Gravitationsgesetz mit anderen Theorien in Einklang bringen wollen, dann sind die unterschiedlichen Formulierungen unterschiedlich hilfreich.
Auch wenn es vielleicht eines Tages (wenn wir eine “Weltformel” haben) möglich ist, die physikalischen Gesetze axiomatisch hinzuschreiben – bis dahin ist es besser, möglichst viele verschiedene Wege zu kennen, um die Gesetze aufzuschreiben und dann je nach Problemstellung den besten davon zu nehmen.
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