Nicht alle Naturgesetze sind “fundamental”. Im fünften Kapitel von “The Character of Physical Law” beschäftigt sich Feynman mit der Frage, woher eigentlich die Zeit ihre Richtung bekommt.
Die fundamentalen Naturgesetze sind alle (nahezu) symmetrisch gegen Zeitumkehr. Lässt man einen Film, in dem Atome miteinander reagieren oder wechselwirken, rückwärts ablaufen, so erkennt man nichts Ungewöhnliches. Tut man dasselbe dagegen mit einem Film, der ein makroskopisches Ereignis zeigt (beispielsweise ein Ei, das zu Boden fällt), dann ist das Ergebnis etwas, das man in der Realität nie beobachtet: Auf dem Boden liegender Ei-Schmodder setzt sich nicht von selbst wieder zu einem ganzen Ei zusammen, egal wie lange man wartet.
Der Grund dafür ist natürlich der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, also die Tatsache, dass Systeme immer mehr zur Unordnung streben. Darüber habe ich ja schon eine ganze Menge geschrieben, deswegen muss ich hier gar nicht mehr so viel erklären (ist ja auch ein Urlaubs-Text…).
Feynman macht sich anschließend Gedanken darüber, woher die anfänglich niedrige Entropie des Universums eigentlich kommt. Denn wenn die Entropie immer weiter zunimmt, dann muss sie entsprechend niedrig gewesen sein, als das Universum entstand. Eine Lösung bietet er nicht an – soweit ich weiß, gibt es dazu auch noch keine allgemein anerkannte. Roger Penrose macht sich dazu interessante Gedanken in seinem Buch “Road to Reality”, indem er den Entropiebegriff auch auf die Gravitation anwendet.
Anschließend diskutiert Feynman mit großer Ausführlichkeit ein Beispiel, das auch in den Feynman Lectures verwendet wird. (Für mich als Dozenten beruhigend zu sehen, dass auch andere Leute ihre Ideen und Beispiele recyclen.) Es handelt sich um ein “Sperrklinkenrad” (laut Leo ist das die offizielle Übersetzung für “ratchet and pawl”):
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Auf der linken Seite befindet sich eine Art Schaufelrad in einem Gasbehälter. Auf der rechten Seite sitzt das Sperrklinkenrad, also ein Zahnrad mit einem Anker wie bei einer Uhr, das sich nur in einer Richtung drehen kann, weil der Anker die andere Richtung sperrt. Das Schaufelrad wird natürlich ständig von Gasmolekülen bombardiert. Dabei wird es per Zufall ab und zu passieren, dass mehr Gasmoleküle auf die eine als auf die andere Seite des Rades treffen. Wenn das in der richtigen Richtung passiert, dann dreht der Stoß durch die Moleküle die Achse. In der Gegenrichtung funktioniert das nicht, weil die Sperrklinke das verhindert. Wenn man lange genug wartet, dreht sich die Achse also immer nur in eine Richtung und hebt das Gewicht an. Wir haben also Wärmeenergie komplett in Arbeit umgewandelt.
Aber Moment – genau das darf laut zweiten Hauptsatz nicht sein! Irgendetwas stimmt hier nicht!
Richtig, so ist es auch. Damit der Anker funktionieren kann, muss er wieder einrasten, nachdem er das erste Mal angehoben wurde. Wäre er rein elastisch, so würde er aber einfach elastisch vom Zahnrad zurückprallen und immer nur auf- und abspringen. In der Natur passiert das aber nicht, weil es Reibung gibt. Die Reibung bremst den Anker, so dass er einrasten kann. Aber dabei wird den Anker Energie entzogen, die letztlich in Wärme übergeht. Der Behälter mit dem Sperrklinkenrad (oder das Rad selbst, wenn ihr es ins Vakuum setzt) wird sich also immer weiter erwärmen. Ist die Temperatur schließlich auf beiden Seiten ausgeglichen, dann wird das Sperrklinkenrad durch die Wärmebewegung seiner Moleküle so stark oszillieren, dass es nicht mehr korrekt funktionieren kann.
Zum Abschluss des Kapitels zieht Feynman ein paar allgemeine Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist kein fundamentales Gesetz, sondern etwas, das erst durch komplizierte Überlegungen aus fundamentaleren Betrachtungen abgeleitet werden kann. Umgekehrt zeigt das, dass die fundamentalen Gesetze oft ziemlich weit von dem entfernt zu sein scheinen, was wir alltäglich beobachten.
I must say immediately that one does not, by knowing all the fundamental laws as we know them today, immediately obtain an understanding of anything much. It takes a while, and even then it is only partial. Nature, as a matter of fact, seems to be so designed that the most important things in the real world seem to be a kind of complicated accidental result of a lot of laws.
[Ich muss sofort sagen, dass man, nur weil man alle fundamentalen Gesetze so kennt, wie wir das heute tun, dadurch nicht sofort besonders viele Dinge versteht. Das dauert eine Weile und ist auch dann nur unvollständig. Tatsächlich scheint die Natur so ausgelegt zu sein, dass die wichtigsten Dinge in der realen Welt komplizierte zufällige Konsequenten einer Menge von Gesetzen zu sein scheinen.]
Ich finde diesen Abschnitt auch deshalb so sympathisch, weil Feynman – obwohl er seine bedeutendsten Leistungen in der theoretischen Physik erbracht hat – sehr klar die Grenzen erkennt, die die Physik letztlich aus praktischen Gründen heraus hat; auch mit der “Weltformel” würden wir – bezogen auf die “reale Welt” nicht besonders viele Dinge direkt verstehen können. Alle Bereiche der Wissenschaft sind gleich wichtig – etwas später fragt Feynman (nachdem er die Brücke von den fundamentalen Gesetzen zu komplexen Dingen wie Biologie und Geschichte geschlagen hat):
Which end is nearer to god, if I may use a religious metaphor. Beauty and hope, or the fundamental laws…. I do not think that either is nearer to God…. It is not sensible for the ones who specialize at one end and the ones who specialize at the other end, to have such disregard for each other. (They don’t actually, but people say they do.) The great mass of workers in between , connecting one step to another, are improving all the time our understanding of the world.
[Welches Ende ist näher bei Gott, wenn ich eine religiöse Metapher verwenden darf. Schönheit und Hoffnung oder die fundamentalen Gesetze? … Ich glaube, dass keines näher bei Gott ist… Es ist nicht vernünftig, dass diejenigen, die sich auf das eine Ende spezialisieren und die, die sich auf das andere Ende spezialisieren, solche Geringschätzung füreinander haben. (Haben sie tatsächlich auch nicht, aber Leute behaupten das. Die große Zahl der Arbeiter dazwischen, die einen Schritt mit dem nächsten verbinden, verbessern alle ständig unser Verständnis der Welt.]
Feynman unterstreicht dies mit einem schönen Beispiel, das Florian schon mal ausführlich erklärt hat, nämlich den Energieniveaus von Kohlenstoffkernen. Anschließend versucht er, ein bisschen anschaulich zu machen, wie immer komplexere Phänomene auf einfachere zurückgeführt werden können – heutzutage würde man von Emergenz sprechen – und schließt dann mit der eben zitierten Passage.
Quantenmechanik
Auch wenn es in Feynmans Buch nicht so sehr um spezifische physikalische Gesetze geht – an den Seltsamkeiten der Quantenmechanik kommt er natürlich nicht vorbei. Er erklärt sie mit Hilfe des bekannten Doppelspalt-Experiments, bei dem Elektronen anscheinend (oder scheinbar?) mit sich selbst interferieren. Da ich auf diesem Blog schon ziemlich viel über Quantenmechanik geschrieben habe, erspare ich es mir (und euch), hier die 7853. Interneterklärung des Doppelspalts zu schreiben.
Interessanter sind Feynmans allgemeine Überlegungen zum Thema:
The question now is, how does it really work ? What machinery is actually producing this thing? Nobody knows any machinery. Nobody can give you a deeper explanation of this phenomenon than I have given; that is, a description of it.
[Die Frage ist, wie funktioniert das wirklich? Welche Maschinerie steckt tasächlich dahinter? Niemand kennt irgendeine Maschinerie. Niemand kann eine tiefere Erklärung dieses Phänomens geben, als ich es getan habe, nämlich, eine Beschreibung.]
Letztlich – auf der fundamentalen Ebene – kann die Physik die Welt nicht “erklären”, sondern nur beschreiben.
Anschließend gibt es noch ein paar Seitenhiebe auf die Wissenschaftsphilosophie, von der Feynman keine große Meinung hatte:
A philosopher once said ‘It is necessary for the very existence of science that the same conditions always produce the same results’. Well, they do not. …
What is necessary ‘for the very existence of science’, and what the characteristics of nature are, are not to be determined by pompous preconditions, they are determined always by the material with which we work, by nature herself….
In fact it is necessary for the very existence of science that minds exist which do not allow that nature must satisfy some preconceived conditions, like those of our philosopher.
Ein Philosoph hat einmal gesagt: “Es ist für die bloße Existenz der Wissenschaft absolut notwendig, dass dieselben Bedingungen immer dieselben Ergebnisse produzieren.” Nun, das tun sie nicht. …
Was für die “bloße Existenz der Wissenschaft” notwendig ist und was die Eigenschaften der Natur sind, wird nicht durch hochtrabende Annahmen bestimmt, sondern immer durch das Material mit dem wir arbeiten, durch die Natur selbst….
Tatsächlich ist es für die bloße Existenz der Wissenschaft notwendig, dass es einen Verstand gibt, der nicht annimmt, dass die Natur irgendwelchen vorgefassten Bedingungen genügt, wie die unseres Philosophen.
Kapitel 5 und 6 findet ihr übrigens auch direkt online
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