Es gibt Bücher, die einen in ihre Welt einsaugen und nicht mehr loslassen, bei denen man das Gefühl bekommt, sie würden einen selbst verändern. Ein solches Buch ist der Roman “Neverness” von David Zindell.
Long before we knew that the price of the wisdom and immortality we
sought would be almost beyond our means to pay, when man – what was left
of man – was still like a child playing with pebbles and shells by the
seashore, in the time of the quest for the mystery known as the Elder
Eddas, I heard the call of the stars and prepared to leave the city of
my birth and death.
(Das Buch gibt es anscheinend auch in einer deutschen Übersetzung, die ich aber nicht habe. In meinen Augen ist es letztlich unübersetzbar.)
Neverness ist ein Science-Fiction-Roman, dessen Facettenreichtum schwer zu beschreiben ist. Das Universum ist bevölkert von Menschen, ähnlich wie wir es sind, die aber zum Teil über seltsame Fähigkeiten verfügen (Wahrsager, Tinker, Kriegerpoeten, …) aber auch von (gentechnisch zurückgezüchteten) Neandertalern, den Alaloi, sowie von zahlreichen Außerirdischen und vor allem von Intelligenzen, die uns soweit überlegen sind wie wir den Ameisen.
Vor diesem Hintergrund entfaltet sich eine komplexe Geschichte, die sich kaum nacherzählen lässt – ich versuche es zumindest mit ein paar Worten.
Mallory Ringess ist ein junger Pilot eines Ordens, der in der Stadt “Neverness” aufgewachsen ist. Ein voreiliger Schwur bringt ihn dazu, sich dem immensen Risiko auszusetzen, eine dieser überlegenen Intelligenzen aufzusuchen, die “Solid State Entity” (zu deutsch so etwa mit “Festkörpereintität” zu übersetzen, aber auch wieder nicht, denn “solid state” ist etwas doppeldeutig, wie viele Bezeichnungen in diesem Buch). Damit beginnt die Suche nach dem Geheimnis des Ursprungs der Menschheit, den “Elder Eddas”.
Sie führt Ringess zusammen mit seiner Familie (die familiären Verstrickungen in diesem Buch sind ziemlich komplex, auch wenn sie nur einen kleinen Teil ausmachen) zu den Alaloi, um das Geheimnis mit Hilfe von Genproben zu entschlüsseln. Tragische Verwicklungen führen schließlich zur Katastrophe, dem Scheitern der Expedition und zum Tod mehrerer Mitglieder.
Im weiteren Verlauf des Buches entsteht ein Konflikt, der schließlich zu einem Krieg führt und bei dem eine “graue Eminenz” enttarnt wird, die im Hintergrund ihre Fäden gezogen hat. Geheimnisse der Vergangenheit werden gelüftet, die bis in die Ursprünge der Menschheitsgeschichte reichen.
Was das Buch auszeichnet, ist aber nicht die Geschichte selbst – obwohl sie auch größtenteils exzellent ist. Was das Buch auszeichnet, ist die meisterhafte, poetische Beherrschung der Sprache, in der jeder Satz zu stimmen scheint. Gedichte spielen überhaupt eine große Rolle innerhalb des Buches und die Kenntnis eines Gedichtbandes rettet dem Helden sogar das Leben. (Und dass Blakes “Tyger, Tyger” eins meiner Lieblingsgedichte ist, liegt auch an diesem Buch.)
Jeder, der einen Sinn für Mathematik hat, wird die Raumfahrt in Zindells Universum lieben: Überlichtschnell bewegt man sich durch die “Mannigfaltigkeit” – aber dazu muss das Gehirn des Piloten mit seinem Computer verschmelzen, um mathematische Sätze zu beweisen, die es ermöglichen, sich in der Mannigfaltigkeit zurechtzufinden. So poetisch wie in diesem Buch ist Mathematik vielleicht noch nie geschildert worden:
…Slowtime overcame me. My brain rushed with thoughts, as snowflakes swirl in a cold wind. As my mentations accelerated, time seemed to slow down. I had a long, stretched out instant in which to prove a particularly difficult mapping theorem. I had to prove it quickly, as quickly as I could think. The computer modeled my thoughts and began infusing my visual cortex with ideoplasts that I summoned up from memory. These crystal-like symbols glittered before my inner eye; they formed and joined and assembled into the proof array of my theorem. Each individual ideoplast was lovely and unique. The representation of the fixed-point theorem, for instance, was like a coiled ruby necklace.
Und wer sich ein bisschen auskennt, der kann sich an zahlreichen mathematischen Anspielungen erfreuen – die Abelsche Gruppe, die Kontinuumshypothese und viele andere mathematische Begriffe tauchen (mit veränderter Bedeutung) wieder auf.
Und noch etwas anderes zeichnet das Buch aus – letztlich ist es der Versuch, eine Antwort auf die Fragen nach dem Menschsein, dem Sinn des Lebens und der Angst vor dem Tod zu finden (und nein, die Antwort ist nicht 42). Wie funktioniert unser Geist? Was macht uns zum Menschen? Wenn jemand mein Gehirn manipulieren würde, wäre ich dann noch ich?
Ich selbst habe “Neverness” zum ersten Mal 1995 gelesen, als ich für drei Monate in Schottland war. Beim ersten Lesen war ich nach der Hälfte kurz davor, das Buch wegzulegen (die poetische Mathematik fand ich zwar exzellent, aber der Teil, der bei den Alaloi spielt, ist ziemlich heftig und stellenweise arg widerlich), dann las ich es aber doch zu Ende. Und merkte dann, wie meine Gedanken immer wieder zum Buch zurückwanderten. Es ist selten, dass ich ein Buch innerhalb von ein paar Wochen noch einmal lese, aber “Neverness” ließ mir keine andere Wahl.
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