Sind Neutrinos möglicherweise schneller als das Licht? Die aktuellen Messungen am CERN (siehe die Posts von Florian und Jörg) deuten zumindest auf diese Möglichkeit hin. Spekulationen über überlichtschnelle Teilchen gibt es aber nicht erst seit Donnerstag, sondern schon ziemlich lange – sie werden oft als Tachyonen bezeichnet.
Das klassische Standard-paper zum Thema ist von 1967. (Schluck – wenn das klassisch ist, was sagt mir dann ein Blick auf mein Geburtsdatum? Bin ich wohl auch ein Klassiker…) Es hat den schönen Titel “Possibility of Faster-Than-Light Particles”, und es lohnt sich gerade heute sicher, mal einen Blick hineinzuwerfen.
In dieser Arbeit wirft Gerald Feinberg einen kritischen Blick auf die Möglichkeit, dass Teilchen sich schneller als das Licht bewegen können. Ist sowas denkbar? Verletzt es die SRT? Zerstört es die Kausalität?
Zunächst schauen wir erst einmal auf ein nicht-quantenmechanisches Teilchen. Feinberg beginnt mit einer sehr schönen Bemerkung, die ich ausnahmsweise mal wörtlich wiedergebe:
It is perhaps worth noting that particles which travel faster than light do not involve logical inconsistencies. Indeed, no observations can be logically inconsistent. [4] To determine that a particle is moving faster than light it is only necessary to measure its position at two times and then calculate its velocity, by division, to be greater than c. None of these operations would seem to involve inconsistencies.
Es ist vermutlich sinnvoll, festzuhalten, dass überlichtschnelle Teilchen keine logischen Inkonsistenzen implizieren. Tatsächlich können Beobachtungen niemals logisch inkonistent sein. Um festzustellen, dass ein Teilchen sich schneller als das Licht bewegt, müssen wir nur seinen Ort zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten messen und dann seine Geschwindigkeit, durch Division, als größer als c bestimmen. Keine dieser Operationen scheint Inkonsistenzen zu implizieren.
(Und mehr oder weniger ist das ja auch genau das, was man am CERN gemacht hat – wenn auch mit ein paar Hürden, weil man die Neutrinos nicht direkt identifizieren kann; Jörgs Artikel erklärt das im Detail.)
Inkonsistenzen könnten sich aber natürlich mit existierenden Theorien ergeben – und das ist genau das, was Feinberg sich im einzelnen anguckt.
Klassische Tachyonen
Schauen wir erstmal auf Tachyonen als klassische (also nicht-quantenmechanische) Teilchen.
In der SRT gilt für die Energie eines Teilchens, das sich mit Geschwindigkeit v bewegt, die Formel
(Formel erstellt mit codecogs, ich hoffe, das klappt für Euch – bis wir hier WordPress bekommen, ist die Sonne wohl ein roter Riese geworden.)
Falls ihr Formeln nicht so mögt, lest einfach nur den Text drum herum – die Ideen solltet ihr trotzdem mitbekommen.
Dabei ist m die Masse (genauer gesagt, die “Ruhemasse”) des Teilchens. Wenn ihr mit einem kleinen Wert von v anfangt und ihn immer weiter aufdreht, dann nähert sich der Ausdruck v²/c² immer weiter an 1 an, der Ausdruck unter der Wurzel geht also gegen Null, und weil wir durch ihn teilen, wird die Energie immer größer. Bei Geschwindigkeit v=c teilen wir durch Null, die Energie wird also unendlich. Deswegen kann man normale Teilchen, die eine Masse haben, nicht auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen.
Setzen wir in die Formel einen Wert für v ein, der größer ist als c, dann wird v²/c² größer als 1. Damit ist der Ausdruck unter der Wurzel negativ, und wir müssen die Wurzel aus einer negativen Zahl ziehen. Das geht mit Standardmitteln nicht, sondern nur mit imaginären Zahlen (habe ich schon mal hier erklärt.). Man definiert einfach eine imaginäre Einheit i mit der Eigenschaft i²=-1. Dann ergibt sich für unsere Formel
Damit bekommen wir eine imaginäre Energie (es gilt 1/i=-i) – das ergibt allerdings physikalisch keinen Sinn. Um unsere Formel zu “retten”, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir machen auch die Masse imaginär. Setzen wir m = iμ (und μ ist jetzt wieder eine gewöhnliche Masse, die wir in Kilogramm messen können), dann bekommen wir
Nun ist alles wieder gut – unsere Energie ist eine positive Zahl, wie sich das gehört. Wenn ihr allerdings auf die Wurzel guckt, dann seht ihr, dass die Energie um so kleiner wird, je größer der Wert von v ist, weil das v jetzt ja vor dem Minuszeichen steht. Tachyonen werden also schneller, wenn sie Energie verlieren. Wie normale Teilchen können sie die Lichtgeschwindigkeit nicht erreichen, denn man bräuchte dafür unendlich viel Energie, um sie hinreichend abzubremsen.
(Was ich ehrlich gesagt nicht weiß ist, wie man die imaginäre Masse mit der allgemeinen Relativitätstheorie zusammenbringt – dazu gibt es hier eine Veröffentlichung, in der überlegt wird, ob Tachyonen etwas mit dunkler Materie oder dunkler Energie zu tun haben könnten. Habe ich aber noch nicht gelesen.)
Verletzen Tachyonen die Kausalität?
Na prima, jetzt haben wir die Mathematik hingebogen, aber was ist mit der Physik? Verletzen solche Teilchen nicht die Kausalität? Das ist doch in der SRT immer das Problem: Wenn etwas schneller als das Licht ist, kann man Nachrichten in die Vergangenheit senden.
Aber hier ist Vorsicht geboten, argumentiert Feinberg. (Das Argument findet sich auch auf der englischen Wiki-Seite.) Wenn ich ein Tachyon aussende, das von einem Beobachter B aus gesehen in die Vergangeheit fliegt, dann kann B, sobald er das Signal erhält, seinerseits ein Tachyon aussenden, das ich dann erhalte, bevor ich das erste Tachyon losgeschickt habe. Eine schöne Illustration mit Minkowski-Diagrammen findet ihr hier.
Letztlich haben wir damit so etwas ähnliches wie eine Zeitmaschine – was ist denn, wenn die Nachricht, die wir von B erhalten, eine Bombe auslöst, die unseren Tachyonensender zerstört, bevor wir das Signal ausgesandt haben? Solche Zeitreise-Paradoxien können einem natürlich Kopfzerbrechen bereiten – man hat sich auch in anderem Zusammenhang damit herumgeschlagen, weil auch die Allgemeine Relativitätstheorie prinzipiell so etwas erlauben könnte.
Ob derartige Zeitschleifen tatsächlich unmöglich sind, ist aber nicht so klar – wenn man davon ausgeht, dass alle Zeitpunkte im Universum gleich real sind (das sogenannte “Block-Universum”), dann gilt für jede Zeitschleife “Es geschieht, weil es geschah” – so in zahlreichen Science-Fiction-Romanen und -Filmen dargestellt (beispielsweise bei Terminator I – während T II die Zeitschleife durchbrach und T III sie dann wieder zeitverschoben herstellte.). Der Physiker Kip Thorne hat beispielsweise gezeigt, dass einfache Massen, die durch ein Wurmloch in die Vergangenheit reisen, nicht zu Paradoxa führen.
Bei den Feinbergschen Tachyonen kommt noch etwas anderes hinzu: Tachyonen, die von mir aus gesehen in die Vergangenheit reisen, haben für mich eine negative Energie. Man kann sie uminterpretieren als Tachyonen positiver Energie, die in die Zukunft reisen (das ist ganz ähnlich zur bekannten Interpretation von Antiteilchen als Teilchen, die in die Vergangenheit fliegen). Konkret heißt das: Ich kann nicht unterscheiden, ob gerade ein Tachyon von meiner Tachyonenkanone ausgesandt wurde, das mit negativer Energie in die Vergangenheit fliegt, oder ob meine Tachyonenkanone nicht in Wahrheit ein Tachyonendetektor ist, der ein Tachyon positiver Energie aufnimmt.
Zum Problem der Kausalitätsverletzung schreibt Feinberg:
A conclusion warranted by this argument is that tachyons cannot be used to send reliable signals, either forward or backward in time, in the sense that one cannot completely control the outcome of an experiment to produce or absorb them.
Eine Schlussfolgerung, die man auf diesem Argument basieren kann, ist die, dass man mit Tachyonen keine verlässlichen Signale senden kann, weder vorwärts noch rückwärts in der Zeit, in dem Sinne, dass man ein Experiment, mit dem sie erzeugt oder absorbiert werden, niemals vollständig kontrollieren kann.
Und praktischerweise hat die Theorie, die Feinberg dann entwickelt, quasi ganz von selbst genau diese Eigenschaft.
Quantentheorie der Tachyonen
Das war aber eigentlich nur das Vorgeplänkel. Im Hauptteil der Arbeit überlegt Feinberg, wie eine Quantentheorie von Tachyonen aussehen könnte. Dazu verwendet er die Methoden der Quantenfeldtheorie (und wenn ihr jetzt ein tachyonisches Internet hättet, dann könnte ich euch einen Link in die Zukunft geben, damit ihr meine gerade entstehende Serie zum Thema QFT lesen könnt…).
Feinberg nimmt eine ganz einfache Quantenfeldtheorie für ein Teilchen, das erst mal nicht mit anderen wechselwirkt. Das Teilchen hat auch keinen Spin (also einen Eigendrehimpuls). Seine einzige Eigenschaft ist seine Masse. Und anders als in üblichen Quantenfeldtheorien setzt Feinberg jetzt für die Masse – genau wie eben – m=iμ an.
Die entstehende Gleichung für das Verhalten der Tachyonen kann leicht gelöst werden. Heraus kommt, dass Tachyonen, die nicht mit anderen Teilchen wechselwirken, genau wie normale Teilchen mit Hilfe von Wellen beschrieben werden können. (Denkt als Beispiel für solche Wellen an die Wellenfunktion von Elektronen, auch wenn das nicht ganz exakt richtig ist.)
Für Wellenlösungen gibt es immer einen Zusammenhang zwischen der Wellenlänge λ , der Frequenz ν und der Masse m der Teilchen (ich habe hier, wie bei theoretischen Physikerinnen üblich, c und ? gleich 1 gesetzt):
Mit m=iμ ergibt sich allerdings
weil ja i^2=-1 ist. Der Ausdruck unter der Wurzel wird also negativ, wenn die Wellenlänge λ sehr klein wird – damit wird die Frequenz (und auch die Energie der Welle) imaginär.
Nachtrag: Auf besonderen Wunsch von SCHWAR_A versuche ich hier nochmal, alle h-quers und c’s wieder an die richtige Stelle zu basteln:
Imaginäre Frequenzen sind schwer vorstellbar. Feinberg schließt sie deshalb aus, schränkt also die Wellenlängen so ein, dass λ<2π/μ ist.
(Das ist allerdings nicht zwingend: Hier habe ich einen Hinweis darauf gefunden, dass man auch eine sinnvolle Theorie bekommen kann, wenn man diese Lösungen zulässt – allerdings kann man in der so entstehenden Theorie keine Tachyonen über endliche Distanzen mit Überlichtgeschwindigkeit fliegen lassen, was irgendwie der ganzen Idee zuwiderläuft.)
Nicht alle Wellenlängen für unsere Tachyonen sind also zulässig. Das klingt erst mal unschuldig, hat aber drastische Konsequenzen: Teilchen, die man beobachten will, sollten ja auf engem Raum konzentriert sein. Mathematisch ist das aber nur möglich, wenn sich die “Wellenfunktion” des Teilchens aus Wellen mit beliebigen Wellenlängen zusammensetzt. Auch das habe ich mal für’s Elektron erklärt – es hängt eng mit der berühmten Unschärferelation zusammen.
Wenn Tachyonen also keine beliebigen Wellenlängen haben können, dann kann man ein Tachyon auch nicht auf engem Raum einsperren. Ein Tachyon hat immer eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass man es in beliebig großer Entfernung findet. (Anmerkung: Mir scheint, als wäre das auch ganz logisch, wenn man sich vorstellt, man würde das Tachyon mit Hilfe eines Pfadintegrals beschreiben: Da niedrige Energien extrem hohen Geschwindigkeiten entsprechen, sollte es immer eine Amplitude dafür geben, das Tachyon in sehr großer Entfernung zu finden.)
Diese Eigenschaft der Tachyonen ist genau das, was Feinberg meinte, als er sagte, dass man Tachyonen in Experimenten nie vollständig kontrollieren könnte. Weil man die Tachyonen nie auf einem engen Raum einsperren kann, kann man sie auch nicht nach Belieben in einem engem Raum erzeugen – man kann mit ihnen also nicht ohne weiteres Signale schicken.
Als nächstes analysiert Feinberg die Eigenschaften der Tachyonen weiter – ich reiße die Ergebnisse aber nur an, denn jetzt steigt er tief in die QFT ein. Es stellt sich heraus, dass sie eine weitere seltsame Eigenschaft haben: Sie verletzen das berühmte Spin-Statistik-Theorem, denn obwohl sie keinen Spin haben, gilt für sie das Pauli-Prinzip. Allerdings gibt es neuere Arbeiten, die zeigen, dass das nicht zwingend ist.
Eine andere Eigenschaft der Tachyonen ist die, dass ein Vakuum seltsam aussieht, wenn es Tachyonen gibt. In einem Universum, in dem es nur normale Teilchen gibt, ist das Vakuum für alle Beobachter dasselbe – aber in einem Universum mit Tachyonen hängt es von eurem Bewegungszustand ab, was für ein Vakuum ihr seht. Genauer gesagt: Wenn ich keine Tachyonen im Universum messe (also ein Vakuum), dann wird ein relativ zu mir bewegter Beobachter eine bestimmte Anzahl von Tachyonen sehen. (Das würde natürlich nicht funktionieren, wenn die Tachyonen elektrisch geladen wären, das sind sie hier aber nicht.)
Feinberg zeigt auch, dass Tachyonen zumindest prinzipiell andere “konventionelle” Teilchen aussenden können – beispielsweise Photonen oder Neutrinos. Da kann man natürlich gleich spekulieren (die Idee ist jetzt auf meinen Mist gewachsen, also vermutlich falsch), dass die Neutrinos am CERN gar nicht überlichtschnell sind, sondern dass einfach Tachyonen entstanden, die dann in Richtung Italien flogen und dabei ganz gewöhnliche Neutrinos ausgesandt haben. Ob das tatsächlich funktionieren kann, weiß ich aber nicht.
Alles in allem sind Tachyonen ziemlich seltsame Teilchen – vollkommen ausgeschlossen sind sie nicht. Und tatsächlich gibt es schon seit längerer Zeit Ideen, dass Neutrinos Tachyonen sein könnten. Die Motivation dazu stammt aus Messungen des radioaktiven Zerfalls, bei denen ein negativer Wert für das Quadrat der Neutrinomasse herauskam. Solche Messungen sind allerdings ziemlich schwierig (ich erinnere zur Warnung mal an die Geschichte des 17-keV-Neutrinos) und die Ergebnisse deshalb unsicher. Trotzdem motivierten sie einige theoretische Physikerinnen, die Möglichkeit von Neutrinos als Tachyonen näher anzusehen.
Es zeigt sich dabei, dass tachyonische Neutrinos durchaus in unser Weltbild eingebaut werden können. Die Theorie ist ein bisschen komplizierter als die von Feinberg, weil Neutrinos einen Spin haben, aber viele Prinzipien ändern sich nicht. Natürlich sind noch nicht alle Konsequenzen ausgelotet, aber überlichtschnelle Neutrinos, obwohl sensationell, würden die Physik nicht vollkommen zusammenbrechen lassen, sondern lassen sich tatsächlich in den Rahmen der Quantenfeldtheorie einbauen. Ob man mit solchen Mitteln allerdings die Messergebnisse vom CERN erklären kann, bleibt abzuwarten.
Es gibt übrigens noch andere Modelle, in denen Neutrinos die spezielle Relativitätstheorie ein bisschen verletzen dürfen, sogenannte SME-Modelle (die kommen unter so hübschen Namen wie “bycicle”-model, “tandem”-model, “puma”-model). Falls es mir gelingt, die zumindest ansatzweise zu verstehen, schreibe ich noch etwas dazu.
Meine Hauptquelle war der Artikel von Feinberg
Possibility of Faster-Than-Light Particles
G. Feinberg
PHYSICAL REVIEW 159 (1967), 1089
Sehr zu empfehlen ist auch der englische Wiki-Artikel über Tachyonen.
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