Die überlichtschnellen Neutrinos sorgen ja für einigen Wirbel. Dass “Einstein gestürzt” wurde, konnte man ja anscheinend auch von Physikern hören, die guten alten Relativitätstheorie-Leugner jubeln und einige Kommentatoren hier auf den Scienceblogs läuten sogar gleich das Ende der Physik ein.
Zunächst mal sollte man festhalten, dass die Geschichte zeigt, dass das Wissenschaftssystem Physik funktioniert. Eine Entdeckung, die der bekannten Physik widerspricht, wurde sorgfältig geprüft und dann – mit viel Vorbehalten und Warnungen – der Gemeinschaft der Physikerinnen zur Prüfung vorgelegt. Alle die, die immer behauptet haben, die Physiker wüssten ja eh alle, dass die Relativitätstheorie (kurz RT) falsch sei und würden das nur nie zugeben, sollten jetzt eigentlich erst mal anerkennen, dass sie damit offensichtlich Unrecht hatten: Wenn nach handelsüblicher Verschwörungstheorie Tausende Physikerinnen ständig Beweise unterdrücken, warum dann nicht auch die paar Dutzend in Italien? (Es gilt das erste VT-Theorem: Die Plausibilität einer Verschwörungstheorie ist umgekehrt proportional zur Anzahl der angeblich involvierten Personen. – Aber falls sich die Sache als Messfehler herausstellt, wird man sie bestimmt zur Basis einer weiteren VT machen, bei der die Physiker so getan haben als ob, damit man die SRT nicht mehr anzweifelt…)
Und all die, die behauptet haben, die Methodik der Physik (z.B. die aktuelle Definition des Meters über die Lichtgeschwindigkeit) würde es unmöglich machen, so etwas zu messen, wurden ebenfalls eines besseren belehrt.
Aber wenn wir solche eher abstrusen Außenseitermeinungen mal außen vor lassen – was bedeuten die Ergebnisse denn wirklich für die Physik? Sollen wir die RT-Seiten aus unseren Büchern rausreißen? Ist Einstein gestürzt, die RT auf dem Müllhaufen der Wissenschaftsgeschichte neben dem Äther und dem Phlogiston zu entsorgen?
Zunächst mal sind die Ergebnisse natürlich sorgfältig zu prüfen – das war ja auch der Grund für ihre Veröffentlichung. In der Vergangenheit gab es ja schon gelegentlich seltsame und unerklärliche Phänomene – die Pioneer-Anomalie hat uns jahrzehntelang Kopfzerbrechen gemacht und auch das scheinbar deutlich nachgewiesene 17keV-Neutrino stellte sich letztlich als Messfehler heraus.
Aber natürlich gab es in der Geschichte der Physik auch kleine, scheinbar harmlose Messabweichungen, die letztlich Revolutionen einläuteten – beispielsweise der gescheiterte Versuch, den Äther nachzuweisen (das berühmte Michelson-Morley-Experiment) oder die kleine Bahnabweichung (Periheldrehung) des Merkur, die für die spezielle und allgemeine RT wichtig waren. Vielleicht ist es ja diesmal auch etwas Ähnliches.
Auch dann gibt es innerhalb der Physik Erklärungsmodelle – Theoretikerinnen sind ja bekanntlich erfinderisch und immer auf der Suche nach interessanten neuen Ideen. Tachyonen wären eine Erklärungsmöglichkeit, auch mit Hilfe von “Zusatzdimensionen” kann man Überlichtgeschwindigkeit bekommen.
Aber nehmen wir den Extremfall an – die Neutrinos verletzen die SRT in einer Weise, die ihren Axiomen widerspricht (vielleicht, indem sie sich von Unterlichtgeschwindigkeit auf Überlichtgeschwindigkeit beschleunigen lassen – obwohl es auch dann noch Modelle gibt), wie genau soll mir hier egal sein. Dann ist es ja wohl vorbei mit der SRT, wir können sie einmotten und vergessen, oder? Und den ollen Einstein kloppen wir auch gleich vom Sockel (“Hol den Vorschlaghammer…”).
Hmm, was macht eigentlich dieses Ding hier in Oxford?
By Andrew Gray – Own work, CC BY-SA 3.0, Link
Komisch, vom Newton gibt’s auch noch Statuen, und auch heute wird er noch als großer Physiker verehrt. Dabei ist die Newtonsche Physik doch sogar doppelt tot: Sie wurde von der RT und von der Quantenmechanik abgeschafft.
Und wenn wir in die Physikbücher schauen, dann finden wir dort die Newtonschen Axiome immer noch. Sie gelten im Grenzfall großer Teilchen (keine Quantenmechanik) und kleiner Geschwindigkeiten (keine relativistischen Effekte). Und wenn ihr das Beschleunigungsverhalten eures Autos berechnet, werdet ihr vermutlich weder Quanten- noch relativistische Korrekturen anbringen (sonst fahrt ihr einen seeehr kleinen Kleinwagen oder habt einen seeehr stark getunten Motor).
Die Newtonschen Axiome sehen wir heutzutage nicht mehr als fundamental an – in vielen Situationen können wir aber die Formeln von damals auch heute noch anwenden.
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