Und ganz ähnlich ist es auch mit der SRT: Zeitdilatation, Längenkontraktion und relativistischer Massezuwachs sind experimentell extrem gut bestätigte Phänomene – nicht nur in direkten Experimenten zur Prüfung der SRT, sondern auch als Erklärung vieler anderer Phänomene.
Diese ganzen Erklärungen und Experimente werden nicht plötzlich hinfällig – auch morgen werdet ihr es nicht schaffen, ein Elektron in einem Hochspannungsfeld auf eine Geschwindigkeit größer als die Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Hat gestern nicht geklappt, wird morgen immer noch nicht gehen. Auch morgen werden Myonen dank Zeitdilataion den Erdboden erreichen.
Die grundlegenden Formeln der SRT werden wie bisher ihre Gültigkeit haben – allerdings mag ihr Gültigkeitsbereich eingeschränkt werden. Wir finden dann vielleicht einen ganz anderen Weg, um die Formeln herzuleiten (so wie man die Newtonschen Axiome als Grenzfall aus der Quantenmechanik ableiten kann).
Die Physik – und das ist hier entscheidend – ist keine axiomatische Wissenschaft wie die Mathematik. Wenn dort ein Axiom wegfällt, dann fällt alles weg, was wir daraus abgeleitet haben. In der Physik aber leiten wir aus den Axiomen Formeln ab, und diese Formeln prüfen wir experimentell. Wenn die Axiome sich ändern, bleiben die experimentellen Ergebnisse davon unangetastet.
Vielleicht bekommen unsere Formeln ja einen Extra-Term, der für normale Situationen, wie wir sie bisher betrachtet haben, keinen Effekt hat, der aber bei den Neutrinos zuschlägt. Aber für die bisher bekannten Situationen wird sich nicht viel ändern – so wie die Quantenmechanik für das Einschlagen eines Nagels auch wenig relevant ist.
Aber was ist mit den Grundlagen und der Interpretation? Verletzen überlichtschnelle Teilchen nicht womöglich die Kausalität, weil sie Zeitreisen möglich machen, machen sie nicht womöglich Probleme mit elektromagnetischen Wellen (Einstein hat ja die SRT vor allem dadurch entdeckt, dass er überlegte, warum es keine stehende em-Welle geben kann)?
Das ist beides möglich. Vielleicht sind Zeitreisen tatsächlich möglich – dann müssen wir uns sicher eine Menge Gedanken über unser Weltbild machen. So, wie man sich mit der Entdeckung der Quantenmechanik eine Menge Gedanken machen musste – und trotzdem die alten Formeln weiterverwenden konnte, da, wo sie ihre Gültigkeit hatten.
Es mag seltsam klingen, dass unser physikalisches Weltbild erschüttert werden kann, dass Interpretationen und Begriffe sich möglicherweise durch eine neue Entdeckung ändern, und dass trotzdem die Formeln (möglicherweise mit Korrekturtermen) erhalten bleiben. Aber Formeln sind ja sozusagen kondensierte Beobachtungen – die Fakten ändern sich nicht, wenn wir die Herleitung der Formeln ändern. Oder, wie Feynman sagte:
[I]t is the facts that matter, not the proofs. Physics can go on without the proofs, but we can’t go on without the facts.
die Fakten sind wichtig, nicht die Beweise. Die Physik kommt ohne die Beweise aus, aber wir nicht ohne die Fakten.
Ein schönes Beispiel für so etwas liefert uns die Geschichte der Physik: Maxwell nahm an, dass seine Gleichungen die Schwingungen des Äthers beschreiben und dass elektromagnetische Phänomene Ätherphänomene sind. Den Äther gibt es nicht, aber die Gleichungen blieben (mit quantenmechanischen Korrekturen) erhalten.
Stellt euch die Physik nicht vor wie einen Turm, der auf ein paar festen Säulen steht und umkippt, wenn man eine davon entfernt.
By PRA – Own work, CC BY-SA 3.0, Link
Die Physik ist eher ein Haufen aneinandergenagelter Bretter und verknoteter Seile.
By Bob Burkhardt – Own work, CC BY 3.0, Link
(Ja, ich weiß, in einer Tensegrity-Struktur gibt’s normalerweise keine Nägel…)
Eins der Bretter mag so aussehen, als ob es die ganze Konstruktion stützt, aber wenn ihr es wegnehmt seht ihr, dass sich alles ein bisschen zurechtruckelt – ein paar kleinere Teile fallen vielleicht tatsächlich nach unten und an der einen oder anderen Stelle ist es sicher sinnvoll, ein paar zusätzliche Nägel einzuschlagen. Das Ganze aber bleibt trotzdem tragfähig.
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