Physikbücher sind oft voll von Definitionen und manchmal auch von Axiomen. Für Viele mag das so aussehen, als sei die Physik ein feststehendes Gedankengebäude, Dinge werden definiert oder axiomatisch gesetzt und daraus wird etwas abgeleitet. Vorwürfe, dass Wissenschaftler und besonders Physiker “dogmatisch” seien, haben vermutlich darin eine ihrer Ursachen. Hier will ich versuchen zu erklären, wie solche Definitionen wirklich funktionieren.
Können sich Definitionen ändern?
Eine Definition ist ja – zumindest in der Mathematik – eine Festsetzung, bei der ein Begriff mit einer Bedeutung erfüllt wird. Es gibt zum Beispiel eine Definition für den Begriff der “Stetigkeit” (umgangssprachlich umformuliert ist eine Funktion stetig, wenn man sie in einer Linie ohne abzusetzen zeichnen kann). Damit ist der Begriff “Stetigkeit” festgelegt und es ist wenig sinnvoll, den Begriff morgen anders zu definieren – das würde nur zu Verwirrung führen.1
1Es ist allerdings möglich, dass es verschiedene Definitionen gibt, die aber sinngemäß identisch sind – wenn wir beispielsweise Stetigkeit über die mathematische Eigenschaft X definieren und dann einen mathematischen Satz finden, der sagt, “eine Funktion ist dann und nur dann stetig, wenn sie die Eigenschaft Y hat”, dann können wir genauso gut Y als Definition verwenden – die beiden sind äquivalent.
Auch in der Physik gibt es Definitionen, die einfach “Setzungen” sind. Ein Beispiel hierfür ist die Festlegung unserer Maßeinheiten. Beispielsweise kann man definieren – und hat das bis 1967 auch so getan – dass die Sekunde der 86400te Bruchteil des mittleren Sonnentages ist (es gibt alternative Definitionen, die man bei Wikipedia nachlesen kann, hier geht’s mir aber nur ums Prinzip).
Man stellte allerdings in den Dreißiger Jahren fest, dass die Erdrotationsgeschwindigkeit nicht konstant ist, sondern sich verlangsamt, weil die Gezeitenkräfte des Mondes die Erde bremsen und weil auch geologische Phänomene einen Einfluss auf die Erdrotation haben. Deswegen suchte man nach einer besseren Definition der Sekunde und entschloss sich schließlich dafür, sie an der Frequenz der Strahlung von Atomen festzumachen.
Bei jedem streng formal-logisch denkenden Menschen müssten jetzt sämtliche Alarmglocken klingeln. Wenn die Sekunde als der 86400te Bruchteil des Tages definiert ist, wie soll es dann möglich sein, dass die Geschwindigkeit der Erdrotation nicht konstant ist? Offensichtlich haben wir die Sekunde doch so definiert, dass die Erde sich in 86400 Sekunden einmal um ihre Achse dreht. Eine solche Aussage ist also im Rahmen unserer Definition vollkommen sinnlos, oder?
Nein, ist sie natürlich nicht. Die Sekunde soll ja eine Maßeinheit für die Zeit sein. Und die Zeit spielt eben in vielen physikalischen Phänomenen eine Rolle. Wenn wir die Tages-Definition der Sekunde streng verwenden würden, dann müssten wir akzeptieren, dass physikalisch vollkommen unverbundene Phänomene wie die Rotation von Pulsaren und die Schwingfrequenzen atomarer Strahlung in genau derselben Weise schwanken, und dass diese Schwankungen mit der Geologie und dem Mondeinfluss zusammenhängen. Es ist wesentlich einfacher, anzunehmen, dass da mit unserer Definition etwas “nicht stimmt”, als dass alle zeitabhängigen Phänomene des Universums mit Ausnahme der Erdrotation von genau den Phänomenen abhängen, die einen Einfluss auf die Erdrotation haben.
Die Definition der Sekunde steht eben nicht für sich allein – da die Zeit eine in der Physik fundamentale Größe ist, sollten wir sie (also ihre Maßeinheit) so definieren, dass zeitabhängige Phänomene möglichst einfach beschrieben werden können. Mit einer tagesbezogenen Definition gelingt das nicht, also muss diese Definition geändert werden.
Das Definitionsargument wird übrigens gern auch von Gegnern der Relativitätstheorie missbraucht: Da die Maßeinheit Meter über die Lichtgeschwindigkeit definiert ist, argumentieren sie, dass wir deswegen eine Änderung der Lichtgeschwindigkeit prinzipiell nicht messen könnten. Das Beispiel der Sekunde beweist, dass das falsch ist, das diskutiere ich weiter unten noch im Detail.
In der Physik müssen also Definitionen immer auf ihre Übereinstimmung mit der empirischen Realität geprüft werden, auch wenn es Definitionen sind, denn unsere Definitionen sollen sich ja auf die Realität beziehen.(Das gilt übrigens in anderen Wissenschaften ebenso – beispielsweise in der Biologie bei der Klassifikation von Lebewesen. Ich bin kein Mathematiker, aber ich vermute, letztlich gilt das auch in der Mathematik – Definitionen, die einen nicht viel weiter bringen, weil sie ein Konzept nicht sauber definieren, werden vermutlich auch geändert. So war es jedenfalls laut Wikipedia bei der Definition des Begriffs “Stetigkeit” – dessen Definition wurde auch im Laufe der Zeit präzisiert.)
Axiome
Manche Physikdisziplinen werden auch gern mit Hilfe von Axiomen formuliert. Bekanntestes Beispiel sind die Newtonschen Axiome, aber auch die Thermodynamik lässt sich axiomatisch definieren (da wird dann z.B. die Entropie eines Systems definiert, ohne dass man sich Gedanken darüber macht, was sie eigentlich bedeutet – mein Geschmack ist das aber nicht). Auch der Begriff “Axiom” hat nicht denselben Sinn wie in der Mathematik, wo ein Axiom eine grundlegende und nicht abgeleitete Aussage ist.
Betrachten wir als Beispiel die Newtonschen Axiome. Das erste sagt ja, dass ein Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich geradlinig und gleichförmig bewegt. Das zweite sagt, dass eine Kraft eine Beschleunigung (präziser eine Änderung des Impulses, aber diese Feinheit spielt hier keine Rolle) bewirkt. Das erste Axiom ist eigentlich ein Spezialfall des zweiten (wenn keine Kraft, dann keine Beschleunigung).
Was bedeutet nun das zweite Newtonsche Axiom? Es sagt uns, dass wir die Anwesenheit einer Kraft dadurch bemerken, dass ein Objekt beschleunigt wird – wird es nicht beschleunigt, wirkt keine Kraft, oder genauer, keine Gesamtkraft (es können sich natürlich zwei entgegengesetzte Kräfte aufheben, z.B. wenn zwei Leute mit jeweils gleicher Kraft an einem Seil ziehen).
Und was ist nun eine Kraft? Eine Kraft ist etwas, das eine Beschleunigung (eine Änderung des Bewegungszustandes) verursacht.
Äh, beißt sich die Katze da nicht in den Schwanz? Ist das zweite Newtonsche Axiom nun eine echte Aussage über Physik, oder “nur” eine Definition?
Beides ist richtig, und unsere Diskussion zum Thema “Sekunde” hat euch hoffentlich schon auf diese Idee vorbereitet. Man kann das 2. Newtonsche Axiom als Definition des Begriffs “Kraft” auffassen, aber es legt diesen Begriff nicht nur irgendwie fest – die Definition (in Form eines Axioms) sagt uns gleichzeitig “Achtung! Dieses Konzept ist wichtig und spielt in der Natur eine Rolle! Kräfte zu analysieren hilft, die Natur zu verstehen!”
Ich könnte beispielsweise stattdessen das erste Drachische Axiom aufstellen und sagen: Wenn ein Schnupp auf einen Körper wirkt, dann ändert sich seine Beschleunigung. Statt Kraft=Masse mal Beschleunigung hätten wir dann Schnupp= Masse mal Änderung der Beschleunigung. Ist doch auch nett. Warum ist das eine ein tolles Axiom der Physik, das andere nur eine abstruse Idee eines seltsamen Bloggers?
Schlicht und einfach deshalb, weil die zeitliche Änderung der Beschleunigung in der Natur keine besondere Rolle spielt. Es gibt ziemlich wenige Fälle, wo die in irgendeine Gleichung eingeht – das Konzept des “Schnupp” ist einfach nicht besonders nützlich, jedenfalls nicht in unserem Universum.
Man kann natürlich andersherum denken und die Axiome sozusagen als “kondensierte” Beobachtung auffassen – Axiome sind dann eine möglichst kurze Zusammenfassung der notwendigen Bestandteile eine Theorie. Auch hier muss man aber – wie beim zweiten Newtonschen Axiom – sehen, dass “Kraft=Masse mal Beschleunigung” eben nicht einfach eine Definition des Begriffs Kraft ist, sondern eine Aussage über relevante Konzepte unserer Welt. Das Axiom ist so gewählt, dass sich aus ihm Folgerungen zum Beispiel in Form von Gesetzen ableiten lassen, die wir so auch beobachten. Der empirische Weg geht also von der Beobachtung über daraus abgeleitete Gesetze hin zu den Axiomen.
Ähnliches gilt z.B. auch in der (speziellen) Relativitätstheorie. Wenn man als Axiom “Die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit ist für alle Beobachter dieselbe” setzt, dann ist dies nur dann eine sinnvolle und nicht inhaltsleere Aussage über die Natur, wenn wir Abstände und Zeiten in irgendeiner anderen Weise messen können als über die Lichtgeschwindigkeit – ansonsten wäre der Satz nur eine Definition ohne Bedeutung. Und weil das so ist, ist es eben auch nicht so, dass wir eine Abweichung von der Lichtgeschwindigkeit nicht messen können – selbst wenn wir die Lichtgeschwindigkeit verwenden, um die Maßeinheit Meter zu definieren.
Nehmen wir, um das zu illustrieren, mal an, dass die Lichtgeschwindigkeit in Wahrheit geringfügig von der Wellenlänge abhängt, so wie in manchen Erweiterungen der Relativitätstheorie. Nehmen wir weiter an, wir würden das nicht wissen. Irgendwann würden wir allerdings merkwürdige Phänomene feststellen – beispielsweise wäre eine bestimmte Länge (ein Urmeter, ein Atomradius, ganz egal) in verschiedenen Laboren gemessen nicht dieselbe. Irgendwann würden wir merken, dass die Länge davon abhängt, mit Licht welcher Farbe wir unsere Maßstäbe geeicht haben. Und jetzt? Würden wir jetzt die Theorie der Atome so modifizieren, dass sie einen Lichtwellenlängenmaßstabseichfaktor enthält? Wohl kaum. Die einzig logische Schlussfolgerung wäre, dass die Lichtgeschwindigkeit (und damit die Definition des Meters) eben von der Wellenlänge des Lichts abhängt, und wir würden unser Wissen über Atome und andere Objekte verwenden, um diese Abhängigkeit zu quantifzieren und unsere Axiome entsprechend verändern.
Idealisierung
Die Physik ist voll von Idealisierungen. Nehmen wir als Beispiel den Satz von der Energieerhaltung – über den habe ich ja ohnehin gerade geschrieben:
Die Energie eines abgeschlossenen Systems ist konstant.
Dieser Satz enthält natürlich eine Idealisierung: Die des abgeschlossenen Systems. Angesichts von Neutrinos, die so ziemlich alles durchdringen, oder von Raumkrümmungen, die sich auch schlecht abschirmen lassen, ist ein “abgeschlossenes System” doch eine Fiktion. Wieso ist es trotzdem sinnvoll, Sätze über solche Systeme zu formulieren, wenn es die gar nicht gibt?
Die Antwort ist auf den ersten Blick relativ offensichtlich: Idealisierungen wie die des abgeschlossenen Systems sind nützlich. Wenn ich die Energiebilanz eines Kraftwerks verstehen möchte, dann leistet mit die Energieerhaltung gute Dienste, auch wenn das Kraftwerk ständig von Neutrinos durchstrahlt wird – deren Beitrag zur Energiebilanz ist einfach zu klein, um relevant zu sein.
Und in diesem “zu klein” steckt ein wichtiger Aspekt der Idealisierung: Sie lässt sich quantifizieren. Man kann die Energieerhaltung in einem System durch Messen zahlenmäßig überprüfen. Diese Messungen haben eine gewisse Genauigkeit (die sich ermitteln lässt). Solange die Energie, die in das System hinein- oder aus ihm herausfließt, klein gegen diese Messgenauigkeit ist, gilt die Energieerhaltung im Rahmen dieser Messgenauigkeit.
Und hier ergibt sich jetzt ein – scheinbares – Paradoxon, das deutlich macht, dass die Physik keine axiomatische Wissenschaft ist. Wie definieren wir eigentlich ein “abgeschlossenes System”? Wir können natürlich ganz pauschal sagen, es ist ein System, in das nichts hinein oder aus dem nichts heraus kann, aber das ist ja schon ziemlich unspezifisch. In einer empirischen Wissenschaft wie der Physik sollten wir vermutlich etwas genauer sein und all die Dinge spezifizieren, die hinein oder heraus fließen können – Atome, Elektronen, Protonen, elektromagnetische Strahlung, Gravitationswellen usw.
Nehmen wir an, wir hätten so eine Liste aller Dinge aufgestellt, die die Grenzen eines “abgeschlossenen Systems” nicht überqueren dürfen – und versetzen wir uns dazu kurzfristig in das Jahr 1930, als man von Neutrinos, die beim Zerfall von Atomkernen entstehen, nichts wusste.
Jetzt untersuchen wir Kernzerfälle – wir bringen radioaktive Atomkerne (mit beta-Zerfall, um genau zu sein) in eine nach unserer Definition “abgeschlossene” Kammer und messen die Energie des Systems vorher und hinterher. Dann stellen wir fest, dass in unserem abgeschlossenen System die Energie nicht erhalten ist. Wir bekommen vielleicht nach einigem Experimentieren heraus, dass dies daran liegt, dass Neutrinos abgestrahlt werden.
Und nun? Nun streichen wir nicht etwa den Satz der Energieerhaltung, oder erweitern ihn um eine Klausel “In einem abgeschlossenen System ist die Energie erhalten, es sei denn, es werden Neutrinos abgestrahlt”, sondern wir definieren den Begriff “abgeschlossenes System” neu. In einer rein axiomatischen Wissenschaft wäre eine solche Umdefinition vermutlich ziemlich sinnlos. In der Physik aber sagen wir “Aha, unser scheinbar abgeschlossenes System war gar nicht wirklich abgeschlossen”, definieren den Begriff neu und retten so den Satz von der Energieerhaltung.
Wir gehen sogar so weit, dass wir, wenn in einem unserer Ansicht nach abgeschlossenen System die Energieerhaltung verletzt wird, ganz automatisch nach etwas suchen, das die Energie transportiert haben könnte. So ist ja das Neutrino auch ursprünglich postuliert worden. Unser Vertrauen in den Satz “Die Energie eines abgeschlossenen Systems ist konstant” ist größer als unser Vertrauen in die korrekte Definition des Begriffs “abgeschlossen”, und auch größer als das Vertrauen in die korrekte Definition des Begriffs “Energie” – vielleicht haben wir ja in unserer Zählung der Energie eine Energieform nicht berücksichtigt, und unser System war zwar abgeschlossen, aber Energie wandelte sich in eine andere Form um, beispielsweise in die Energie eines Neutrinos.
Unsere Erfahrungen mit dem Energiebegriff haben gezeigt, dass die Annahme einer Energie als Erhaltungsgröße sich immer wieder als korrekt erwiesen hat – immer, wenn irgendwo die Energiebilanz nicht stimmte, ließ sich – wie beim Neutrino – schließlich eine bisher unbekannte Energieform finden.
Natürlich schließt das nicht aus, dass nicht morgen jemand einen Weg findet, die Energieerhaltung doch zu umgehen – der zu Grunde liegende Prozess müsste allerdings schon sehr speziell sein, um nicht im Widerspruch zu dem zu stehen, was wir wissen. (Falls ihr mir also gerade die Bauanleitung für euer Perpetuum mobile schicken wolltet, lasst es einfach, es funktioniert sowieso nicht, denn alles, was ihr mit handelsüblichen Mitteln bauen könnt, unterliegt Gesetzen, die so gut bekannt sind, dass die Energieerhaltung sicher ist.) Im Zweifel setzen wir deshalb auf die Energieerhaltung – selbst wenn wir dazu unseren Energiebegriff geeignet anpassen müssen.
Fazit
Rein logisch betrachtet, ist die Physik ein ziemlich merkwürdiges Gedankengebäude. Keine Definition ist sakrosankt, jedes Axiom ist immer nur vorläufig und kann geändert werden, und manchmal vertrauen wir sogar mehr auf den Inhalt eines Satzes, als auf die Definition seiner Bestandteile (was schon ein bisschen verrückt wirkt). Ein bisschen erinnert die Vorgehensweise an Münchhausen, der sich an seinen Haaren selbst aus dem Sumpf zieht.
So ist es aber nicht. Was uns rettet, ist natürlich das Experiment – der Vergleich einer Vorhersage unserer aktuellen Theorien mit der Wirklichkeit (oder dem, was wir dafür halten – die Physik funktioniert auch innerhalb der Matrix). Dabei müssen wir nicht nur unsere Theorien und Gesetze, sondern auch die darin verwendeten Begriffe immer wieder mit dem Experiment abgleichen und prüfen, ob sie die Natur angemessen beschreiben. Unsere Theorien einschließlich der verwendeten Begriffe müssen so formuliert werden, dass das, was in der Natur passiert, auf das, was die Theorie vorhersagt, abgebildet werden kann.
Klappt das nicht, werden die Theorien und ihre Elemente verändert – selbst wenn es sich um Definitionen und Axiome handelt.
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