Dank der “Jurassic-Park”-Filme kennt vermutlich jeder die “Raptoren” – eher kleine, wendige Dinosaurier mit einer großen Sichelkralle an jedem Hinterfuß. Über die Funktion dieser Kralle gibt es viele Spekulationen – vielleicht gibt sie sogar Aufschluss über die Entstehung des Vogelflugs.

Deinonychosaurus und seine Verwandten
Die “Raptoren” gehören zur Gruppe der Dromaeosaurier (Dromaeosauridae). Ein wichtiger, weil gut bekannter Vertreter dieser Gruppe ist Deinonychus, die “Schreckenskralle”. Hier ein Skelettbild

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By Didier DescouensOwn work, CC BY-SA 3.0, Link

und eine moderne Lebendrekonstruktion, in der der Deinonychus Federn trägt – dass er das tat, ist ziemlich wahrscheinlich, da man mehrere seiner Verwandten mit Federn oder federähnlichen Strukturen gefunden hat:

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By Nobu Tamura (https://spinops.blogspot.com) – Own work, CC BY 2.5, Link

Deinonychus ist eine Zentralfigur der “Dinosaurier-Renaissance”: Als John Ostrom in den 60er Jahren diesen Dinosaurier detailliert analysierte, erkannte er, dass das bis dahin herrschende Bild der Dinosaurier als langsame, träge Reptilien mit Höchstgeschwindigkeiten von 6km/h einfach nicht stimmen konnte. Das läutete einen Wandel in der Wahrnehmung der Dinosaurier ein – wobei das Pendel bei den Jurassic-Park-Filmen mit hochintelligenten, superschnellen und supercleveren Killermaschinen dann zur anderen Seite etwas zu weit ausschlug.

Der Körperbau des Deinonychus zeigt, dass er ein agiler, zweibeiniger Saurier war. Besonders auffällig sind natürlich die namensgebenden “Schreckensklauen” an den Hinterbeinen:

Deinonychus patte arrière gauche.jpg
By Didier DescouensOwn work, CC BY-SA 4.0, Link

Am zweiten Zeh (dem “Zeigezeh”) sitzt eine große, sichelförmige Kralle, die nach oben geklappt werden konnte, damit sie beim Laufen auf dem Boden nicht abgeschliffen wurde. (Ein naher Verwandter des Deinonychus hatte gleich zwei solcher Krallen an jedem Fuß, den habe ich letztes Jahr vorgestellt.)

Über die Funktion dieser Kralle wird seit langem spekuliert. Ursrpünglich nahm man an, dass sie direkt dazu diente, tiefe Wunden zu schlagen, so dass Deinonychus große Beutetiere erlegen konnte, insbesondere, wenn er im Rudel jagte. Diese Idee wurde dadurch gestützt, dass man Fossilien des Deinonychus (meist Zähne, aber gelegentlich auch Knochen) zusammen mit dem großen Pflanzenfresser Tenontosaurus gefunden hatte. (Ein Angriff eines Deinonychus-Rudels auf einen Tenontosaurus ist ein beliebtes Motiv für Paläo-Künstler – leider habe ich keine frei verfügbaren Bilder gefunden, aber wenn ihr nach “Deinonychus Tenontosaurus” googelt, findet ihr ein paar sehr hübsche, beispielsweise hier oder hier.)

Neuer Untersuchungen (sogar frei verfügbar) der Klauen zeigten aber, dass sie sich zum Reißen tiefer Wunden auf Grund ihrer Form nicht eigneten: Die Krallen machten zwar tiefe Löcher, aber wenn sie nach unten gezogen wurden, dann sorgte die gekrümmte Form der Krallen dafür, dass das Fleisch unter dem Eindringpunkt zusammengedrückt wurde und die Kralle keine Wunde reißen konnte.

Die Autoren dieser Untersuchung nahmen deswegen an, dass die Krallen nicht zum Reißen von Wunden dienten, sondern dazu, dass der Deinonychus auf den Rücken seiner Opfer klettern und sich dort festhalten konnte, um dann mit seinen Zähnen Wunden zu reißen.

Es gab aber schon immer Zweifel an dieser Idee – nur wenige heutige Raubtiere greifen regelmäßig Beutetiere an, die wesentlich größer sind als sie selbst. Ein bekanntes Beispiel sind Löwen in Botswana, die regelmäßig Elefanten attackieren (Ein Video findet ihr hier.). Die Statistik zeigt, dass dabei aber nur selten Löwen ernsthaft verletzt werden – während es mehrere Tenontosaurus-Fossilien gibt, die mit Deinonychus-Knochen zusammen gefunden wurden. Dass Deinonychus und seine Verwandten regelmäßig viel größere Beute jagten, erscheint also zumindest ein bisschen zweifelhaft.


Die “echten” Raptoren

Hinweise auf die Funktion der Krallen kann man von heutigen Tieren bekommen – nämlich von den “echten” Raptoren. “Raptor” bedeutet nämlich – zumindest im Englischen – eigentlich Greifvogel; die Übertragung auf Dromaeosaurier haben wir vor allem Jurassic Park zu verdanken (vermutlich weil es total uncool geklungen hätte, wenn Sam Neill gesagt hätte “hier werden Velociraptor mongoliensis Osborn, 1924 gezüchtet??”).

Greifvögel jedenfalls haben auch ziemlich beeindruckende Krallen. Der Paläontologe Denver Fowler und sein Team haben deswegen zunächst Greifvögelkrallen und ihre Funktion untersucht (auch dieses Paper ist frei verfügbar):

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Schaut man sich die Krallen aus der Nähe an, dann ist die Ähnlichkeit zu den Schreckenskrallen der Dromaeosaurier schon ziemlich deutlich:

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(Außerdem sind in dem Bild einige der vermessenen geometrischen Kenngrößen eingezeichnet.)

Die genaue statistische Analyse zeigte nun, dass eine große Kralle am zweiten (und auch am ersten) Zeh vor allem bei den Habichtartigen (Accipitridae) zu finden ist (A und B im Bild oben), während Falken (C im Bild) eher kleinere und in etwa gleich große Krallen haben. Eulen (D) haben generell wenig gekrümmte Krallen, Fischadler (E) dagegen stark gekrümmte. (Die Analyse in der Veröffentlichung ist wesentlich detaillierter als diese Kurz-Kurz-Fassung.)

Die größte Ähnlichkeit zu den Dromaeosauriern findet man also bei den Habichtartigen. Es lohnt sich also, mal zu schauen, was die eigentlich mit ihren Krallen so anstellen.

Habichtartige greifen ihre Beute (anders als Falken) meist am Boden oder zumindest in Bodennähe. Dabei wird die Beute gepackt, aber – anders als bei einem Falkenangriff mit hoher Geschwindigkeit – nicht schwer verletzt. Die Habichtartigen stehen nun also vor der Aufgabe, die gepackte Beute nicht zu verlieren und möglichst effizient still zu halten, damit sie sie mit ihrem Schnabel zerreißen können.

Bei kleinen Beutetieren wie Mäusen ist das relativ einfach – die können mit einem Fuß festgehalten werden. Bei größeren Beutetieren klappt das aber nicht mehr. In diesem Fall setzen sich die Vögel auf ihre Beute, die sie mit ihrem Körpergewicht zu Boden drücken. Dabei halten sie sich mit ihren Krallen fest, wobei die besonders großen “Schreckenskralle” wichtig wird, denn die sorgt dafür, dass der Greifvogel auch von stark zappelnder Beute kaum abgeworfen werden kann. Dabei hilft ihnen ihr vergleichsweise kurzer Mittelfuß (Metatarsus), der die Kraftübertragung erleichtert.

“Raptor the Ripper”
Diese Beobachtung kann man nun auf den Deinonychus übertragen. Weil die Beute festgehalten wird, wird diese Technik auch als “Raptor Prey Restraint” (kurz RPR oder “Ripper”) bezeichnet.

Zu untersuchen ist also, ob der Deinonychus von der Struktur seiner Klauen, Füße und von der sonstigen Biomechanik her seine Beute auf diese Weise festhalten konnte. Dieses Bild zeigt, wie man sich den Deinonychus als “Ripper” vorstellen kann:

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Die einzelnen Buchstaben kennzeichnen dabei die jeweilige biomechanische Anpassung, die beim Festhalten der Beute helfen kann:
Der Fuß (A) ist groß genug und die Krallen lassen sich stark genug krümmen, um Beute effizient festhalten zu können. Eine detaillierte Analyse des Fußes (die einen großen Teil der Arbeit ausmacht) zeigt, dass dieser sich hervorragend zum Greifen eignete, also nicht bloß auf schnelles Laufen spezialisiert war wie bei anderen Dinosauriern. Hier ein entsprechendes Bild, das den Fuß in “Greifstellung” zeigt:

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Der Fuß ähnelt von den geometrischen Abmessungen her auch am stärksten dem der Habichtartigen; ein gutes Indiz dafür, dass er auch so verwendet wurde.

Oben im Übersichtsbild zum RPR-Modell kennzeichnet B die “Schreckenskralle”, die zum Festhalten dient und ja der Ausgangspunkt der Untersuchung war. Das Körpergewicht hilft, die Beute herunterzudrücken (C), während der lange und versteifte Schwanz als Gegengewicht zum Balancieren nützlich war (D). Wie bei den Habichtartigen hilft der kurze Mittelfuß (E), die kRaft auf die Beute zu übertragen. Die Arme (G) beschirmen die Beute – das hindert sie am Entkommen und soll vielleicht auch vor anderen neugierigen Greifvögeln schützen – bei heutigen Vögeln bezeichnet man das als “Manteln”. Und schließlich wird der Kopf (H) eingesetzt, um die Beute zu zerreißen und dabei zu töten – Habichtartige pflegen ihre Beute oft lebend zu fressen, das könnte beim Deinonychus auch so gewesen sein. (Eine Sache, die bei Jurassic Park dann ausnahmsweise richtig gewesen wäre…)

Und wie war das nun mit dem Tenontosaurus? Falls es sich hier tatsächlich um eine echte Räuber-Beute-Beziehung gehandelt hat (und der Deinonychus sich nicht z.B. als Aasfresser betätigte), dann würde dies auch in das vorgestellte Modell passen: Bei heutigen Raubvögeln kommt es – allerdings sehr selten – vor, dass sie sich auf den Rücken von großen Beutetieren setzen (Adler können auf diese Weise Rentier-Kälber erbeuten), sich dort festkrallen und diese dann zu überwältigen versuchen. Mechanisch sind die Anforderungen ähnlich wie beim Ripper-Modell, nur dass das Körpergewicht des Raubvogels nicht ausreicht, um die Beute niederzudrücken. Es ist aber, wie oben erklärt, unwahrscheinlich, dass das die typische Art des Deinonychus war, Beute zu machen.

Habt ihr beim Lesen gut aufgepasst? Dann habt ihr gemerkt, dass ich euch bei der Erklärung der Buchstaben im RPR-Bild einen (F) unterschlagen habe.

Vom Ripper zum Flieger

Beobachtet man Habichtartige beim Festhalten der Beute, dann sieht man, dass sie ihre Flügel nicht nur zum “Manteln” benutzen, sondern auch heftig damit auf- und abschlagen, um besser das Gleichgewicht halten zu können. Zur Veröffentlichung gehören auch zwei Videos (hier und hier), die das zeigen.

Und das brachte die Autoren auf eine ganz fantastische Idee. Es ist ja seit langem ein Rätsel, wie genau sich der Flügelschlag der Vögel entwickelt hat. Ein Modell hierzu (Flügelschlagen zur Unterstützung des Laufens) habe ich ja neulich vorgestellt, aber hier zeigt sich eine andere Möglichkeit: Vielleicht waren Federn an den Vorderbeinen nützlich, um das Gleichgewicht besser halten zu können, wenn Deinonychus oder eher seine Vorfahren (die ja auch Vogelvorfahren waren) ihre Beute festzuhalten versuchten. Da eine Ausgleichsbewegung mit den Armen auch ganz ohne Flügel hilfreich ist, um das Gleichgewicht zu halten, gäbe es hier also tatsächlich einen evolutionären Weg, bei dem zusätzliche Federn einen echten Vorteil boten, auch wenn sie zum Fliegen nicht ausreichten. (Natürlich schließen sich die Möglichkeiten nicht aus – Flügel können auch für beide Zwecke verwendet worden sein.)

Es hat ja in der Vergangenheit einige Spekulationen (besonders von Greg Paul) gegeben, ob Dromaeosaurier wegen ihres vogelartigen Körperbaus und den bei einigen von ihnen (zum Beispiel Rahonavis) gefundenen Federansätzen an den Knochen vielleicht von fliegenden Dinosauriern abstammten und sekundär flugunfähig waren so wie Strauße oder Pinguine. Das Ripper-Modell mit dem “Stabilitätsflattern” zeigt eine alternative Erklärungsmöglichkeit auf: Auch “halbe” Flügel können nützlich sein.

Natürlich braucht es weitere Untersuchungen, um die These zu stützen – beispielsweise könnte man versuchen herauszufinden, wie wichtig genau die Federn beim Stabilitätsflattern heutiger Vögel sind. Auf jeden Fall zeigt diese Untersuchung eine zusätzliche Möglichkeit, wie sich der Vogelflug entwickelt haben könnte.


Phillip L Manning, David Payne, John Pennicott, Paul M Barrett and Roland A Ennos
Dinosaur killer claws or climbing crampons?
Biol. Lett. 2006 2, 110-112
doi: 10.1098/rsbl.2005.0395

Fowler, D., Freedman, E., & Scannella, J. (2009). Predatory Functional Morphology in Raptors: Interdigital Variation in Talon Size Is Related to Prey Restraint and Immobilisation Technique PLoS ONE, 4 (11) DOI: 10.1371/journal.pone.0007999

Fowler, D., Freedman, E., Scannella, J., & Kambic, R. (2011). The Predatory Ecology of Deinonychus and the Origin of Flapping in Birds PLoS ONE, 6 (12) DOI: 10.1371/journal.pone.0028964

Kommentare (5)

  1. #1 rolak
    7. Januar 2012

    Die Idee mit der Flügelschlag-Entstehung gefällt mir.

    Die anscheinend bevorzugte (und zugegebenermaßen naheliegende) Aussprache von RPR nicht – weil die Funktion eben ein Halten und kein Aufschlitzen ist. Doch das ist latürnich eher mein Problem 😉

  2. #2 MartinB
    7. Januar 2012

    @rolak
    Aber das Wortspiel ist doch trotzdem schön, da kann man auch mal Abstriche machen, oder?

  3. #3 rolak
    7. Januar 2012

    Sicher doch, schon deswegen, weil (der Anthropomorphismus sei erlaubt) es um eiskalte Killer geht.
    Nur bildet es für mich eine verführerische Falsch-Eselsbrücke… Muß ich halt eine andere einüben, einstec{h|k}enderweis.

  4. #4 beka
    7. Januar 2012

    Eine Rückverlagerung der Großzehe gibt es auch bei den Gliedmaßen der Primaten (siehe Lori). Beim Menschen dient die Großzehe zum Gleichgewicht halten, beim Lori zum Greifen wie bei einem Greifvogel.

    Die Zehen des Chamäleons sind teilweise miteinander verwachsen und taugen kaum zum Laufen. Die Gliedmaßen der Faultiere eignen sich nur als Kleiderbügel, zum Laufen sind sie völlig ungeeignet. Huftiere laufen auf den Zehenspitzen, wer als Pferd damit nicht umgehen kann, fällt halt um.

    Die Ausbildung der hinteren Gliedmaßen und die Ausbildung einer Flugfähigkeit dürften unterschiedliche Entwicklungen sein. Beides wird entsprechend der Veranlagung und Wirksamkeit verstärkt eingesetzt.

  5. #5 MartinB
    7. Januar 2012

    @beka
    So richtig weiß ich nicht, was du mit deinem Kommentar sagen willst.