Die Doppelschleichen oder Amphisbaenia sind eine eher unbekannte Gruppe von Kriechtieren. Sie haben keine Beine und sehen ein bisschen aus wie Regenwürmer. Ihr Leben verbringen sie meist unterirdisch. Bis vor kurzem war unklar, wie die Doppelschleichen mit den übrigen Reptilien verwandt sind, aber dank eines Fossilfundes vom letzten Jahr (der – bzw. die entsprechende Veröffentlichung – seit Ewigkeiten in meinem blogme-Verzeichnis liegt), sind die Verwandtschaftsverhältnisse nun aufgeklärt.

Damit ihr euch ein Bild machen könnt, hier erst mal zwei Doppelschleichen (von Wikipedia) zum Angucken, zwei Maurische Netzwühlen:

Maurische Netzwühle (Blanus cinereus)
Von Richard AveryEigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Wie man an dem Bild schon gut erkennt, ist es schwierig zu sagen, welches Ende denn nun vorn und welches hinten ist. Tatsächlich können Doppelschleichen vorwärts und rückwärts kriechen – daher haben sie auch ihren Namen. Auch der Fachbegriff “Amphisbaenia” geht darauf zurück (amphi= beide, bainein=gehen).

Doppelschleichen wühlen, wie bereits gesagt, in der Erde herum und fressen dabei Insekten und anderes Krabbelzeugs (letzteres ist eine nicht-monophyletische Tiergruppenbezeichnung, die bei Biologen wohl eher unüblich ist – aber praktisch.) Man sollte sie weder mit Blindschleichen (einer Eidechsengruppe) noch mit den Blindwühlen (die gehören zu den Amphibien) verwechseln.

Weil die Doppelschleichen (ähnlich wie Schlangen) ihren ursprünglichen Reptilienbauplan ziemlich stark verändert haben, ist es nicht so einfach, ihre Verwandtschaftsbeziehungen genau herauszubekommen. Genanalysen deuteten bereits darauf hin, dass sie eng mit den echten Eidechsen verwandt sind. Der neue Fossilienfund bestätigt das nun.

Das Fossil wurde in der berühmten Grube Messel gefunden. (Einige erinnern sich vielleicht noch, dass man in den Achtziger Jahren dort eine Mülldeponie errichten wollte, was letztlich wohl nur aus formalen Gründen verhindert werden konnte. Manchmal möchte man auf einen anderen Planeten auswandern…) Dementsprechend stammt es aus dem Eozän und lebte vor etwa 47 Millionen Jahren. Hier ein Bild des extrem gut erhaltenen Fossils:

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ResearchBlogging.orgEs trägt den Namen Cryptolacerta hassiaca, was etwa “hessische verborgene Echse” (man könnte es auch mit “hessische Geheimechse” übersetzen, das klingt dann wie der 007 aus dem Eozän) bedeutet. (Ist ja überhaupt irre, wie die Paläontologen immer die Namen der Fossilien rausbekommen, oder?) Der schwarze Maßstabsbalken hat eine Länge von 5 Millimetern, Cryptolacerta war also nicht gerade riesig (von der Schnauze bis zum Schwanzansatz etwa 7 Zentimeter lang). Wie ihr sehen könnte, hat unsere “Geheimechse” noch gut ausgebildete Vorder- und Hinterbeine und sieht noch nicht wirklich auch wie eine Doppelschleiche – auch einen Rückwärtsgang hatte das Tier wohl eher nicht.

Dass es trotzdem eng mit den Doppelschleichen verwandt sein muss, zeigen aber viele verschiedene Skelettmerkmale. Der Schädel ist bei den Doppelschleichen durch vergleichsweise dicke Knochen verstärkt, die stark miteinander verzahnt sind – ist ja auch praktisch, wenn man in der Erde wühlt. Ansätze für diese Verstärkung findet man auch bei Cryptolacerta. Insgesamt fanden die Forscher 19 Merkmale, die Cryptolacerta als nächste Verwandte der Doppelschleichen ausweisen. (Dazu benutzt man natürlich eine kladistische Analyse, das habe ich ja letztes Jahr exzessiv (wie üblich (upps, schon wieder geklammerte Klammern)) erklärt.)

Cryptolacerta ist aber nicht nur eng mit den Doppelschleichen verwandt, sondern auch mit den echten Eidechsen (Lacertidae). In der Arbeit werden deshalb Echte Eidechsen und Doppelschleichen zur Gruppe der Lacertibaenia zusammengefasst (was zwar nett aus den Gruppennamen zusammengesetzt ist, aber als “Eidechsengeher” übersetzt werden müsste). Mit den Schlangen sind sie dagegen nur etwas entfernter verwandt – dazwischen sitzen alle möglichen anderen Echsengruppen wie die Leguane, Tejus, Krustenechsen und noch ein paar mehr.

Cryptolacerta hatte, anders als die heutigen Doppelschleichen, ja noch Beine und auch andere Körperproportionen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie diese Art seinerzeit lebte. Da die Finanzmittel mal wieder nicht ausreichten, um einen Delorian oder einen Nullzeitdeformator zu mieten und direkt nachzusehen, könnte man vermuten, dass die Forscher hier nur spekulieren konnten. Ganz so ist es aber nicht – heutzutage ist ja auch die Biologie in weiten Teilen eine quantitative Wissenschaft geworden, und Spekulationen werden durch detaillierte Analysen ersetzt.

Dazu wurden die Körperproportionen von vielen heutigen Reptilien vermessen und (mithilfe einer Hauptkomponentenanalyse – ein bei Paläontologinnen1 inzwischen beliebtes Werkzeug für so etwas) so gruppiert, dass man aus den Proportionen Rückschlüsse auf die Lebensweise ziehen kann. Dabei ergibt sich dieses Bild:

i-05abc0124637e12fc2c7d6acd43bd0f4-cryptolacerta-PCA.jpg

Eingetragen sind hier die unterschiedlichen heutigen Arten, jeweils mit einem Farbpunkt passend zur Lebensweise markiert (fossorial=grabend, arboreal=baumbewohnend, terrestrial=rennt normal auf dem Boden rum, semi-aquatic=lebt teilweise im Wasser, cryptic/leaf litter=versteckt sich am liebsten in alten Blättern und ähnlichem, terrestrial/burrowing=lebt auf dem Boden aber gräbt auch ein bisschen, saxicolous=findet Felsen und Steine super).

1Wurde ja mal wieder Zeit für ne weibliche Form – habe ich schon länger nicht mehr benutzt. Nur um euch mal wieder dran zu erinnern

Cryptolacerta liegt in dem Bereich, wo sich in diesem Diagramm die Blätterverstecker und bodenlebenden Manchmal-Graber tummeln, nicht in dem Bereich der echten Gräber. Vermutlich hat sich Cryptolacerta also ganz gern am Boden zwischen Pflanzen versteckt und dort herumgewühlt – vielleicht war dabei die Verstärkung des Schädels schon nützlich. Zu echten Gräbern wurden dann erst seine Nachfahren.

Dass Cryptolacerta in der heutigen Grube Messel lebte, war jedenfalls ein Glücksfall – so wurde wieder eins der kleinen Rätsel der Evolution aufgeklärt.


Müller, J., Hipsley, C., Head, J., Kardjilov, N., Hilger, A., Wuttke, M., & Reisz, R. (2011). Eocene lizard from Germany reveals amphisbaenian origins Nature, 473 (7347), 364-367 DOI: 10.1038/nature09919

Kommentare (16)

  1. #1 Arno
    30. Januar 2012

    Damit haette sich dann innerhalb der Lacertibaenia dieser Koerperbau gleich zweimal entwickelt, oder?

  2. #2 MartinB
    30. Januar 2012

    @Arno
    Wenn du damit prinzipiell den verlust der beine meinst, dann ja. Aber die sonstigen Spezialisierungen der Doppelschleichen sind einzig.

  3. #3 Arno
    30. Januar 2012

    Ich meine etwa “sieht fuer mich wie eine Schlange aus” 🙂

  4. #4 MartinB
    30. Januar 2012

    @Arno
    Von der Sorte gibt’s ne ziemliche Menge – Blindschleichen, Skinke usw.
    Die Doppelschleichen sind aber schon besonders, weil sie eher Regenwürmern ähneln (und auch so kriechen).

  5. #5 kereng
    30. Januar 2012

    die “eine Doppelschleiche” im ersten Bild sieht für mich nicht “wie eine Schlange aus” sondern wie zwei Schlangen. Daher wohl der Name “Doppelschleiche”.

  6. #6 Uli
    30. Januar 2012

    Also, ich meine, auf dem Bild sieht man ZWEI Tierchen.

    Oder heißen die Doppelschleichen, weil die immer im Doppel auftreten?? 🙂

  7. #7 cydonia
    30. Januar 2012

    Ja, das ist eine doppelte Doppelschleiche. Da sind die Verwandtschaftsverhältnisse noch schwieriger zu ergründen.
    Danke für diesen erhellenden Post. Faszinierende Tierchen und immer wieder spannend, zu sehen, dass bei der Entwicklung von Lebewesen der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Ich kann Reptilien stundenlang zugucken, und freue mich auf den Frühling, wenn die Ringelnattern sich an der Oker sonnen. Jedes mal ein beeindruckendes Schauspiel.

  8. #8 MartinB
    30. Januar 2012

    @Ulli
    Upps, stimmt, hab ich nicht genau hingeschaut, das ist offensichtlich eine vierfachschleiche.

  9. #9 Boron
    30. Januar 2012

    @MartinB:

    Dass Cryptolacerta in der heutigen Grube Messel lebte, war jedenfalls ein Glücksfall – so wurde wieder eins der kleinen Rätsel der Evolution aufgeklärt.

    Wenn ich nicht solch ein zwanghafter Klugschei**er wäre, würde ich ja nichts sagen, aber… Cryptolacerta kann garnicht in der Grube gelebt haben, da diese ein See war, und der Tonstein, in dem die ganzen Messel-Fossilien gefunden wurden, repräsentiert relativ hohe Wassertiefen. Und wie ich das sehe, plottet Cryptolacerta im Diagramm nicht innerhalb des semi-aquatischen Feldes. Die gute Geheimechse lebte also an der Grube Messel, in die sie nach ihrem Ableben irgendwie hineingeriet. 😉

    (Ist ja überhaupt irre, wie die Paläontologen immer die Namen der Fossilien rausbekommen, oder?)

    Da ich einige der Autoren des Papers persönlich kenne, kann ich das in diesem speziellen Fall aufklären: Ihr Geheimdienstausweis lag noch daneben. ^^

    Nochwas zum Diagramm: Dass Cryptolacerta eine terrestrische, grabende i.w.S. Lebensweise hatte, ist eigentlich schon an ihrem Skelett, insbesondere dem dreieckigen geschlossenen Schädel mit den sehr kleinen Augen ganz gut abzulesen. Und selbst dass sie nicht obligat subterran lebte, sondern eher “cryptic” (ich nehme mal an, darunter fallen auch “durch Sand tauchende” Formen), hätte man mit einem rein qualitativen Vergleich wohl ganz gut belegen können. Da hätte es nicht unbedingt der Morphometrie bedurft. Aber hey, es ist natürlich immer schön, wenn man alles mit quantitativen Daten untermauern kann.

    @Arno: Die Ausbildung eines schlangenähnlichen Habitus (mit oder ohne sichtbare Gliedmaßen) ist bei Tetrapoden ein recht häufiges Phänomen. Im Fossilbericht gibt es noch weitere Beispiele dafür (A

  10. #10 MartinB
    30. Januar 2012

    @Boron
    Für diese Haarspalterei gebührt dir die goldene Rasierkline am Band.

    “Aber hey, es ist natürlich immer schön, wenn man alles mit quantitativen Daten untermauern kann.”
    Eben. Na klar – es ist ja nicht so, als hätte man solche Überlegungen früher nicht anstellen können. Aber wenn man sich früher uneinig war über die Lebensweise von Fossilien (boah, jetzt sagt Boron gleich, dass Fossilien keine Lebensweise haben, weil sie tot sind…), dann war’s das; heutzutage kann man seine Meinung sauber mit solchen Methoden belegen.

  11. #11 BreitSide
    30. Januar 2012

    Sehr schöne Tierchen. Ich dachte immer Unterirdische bräuchten keine Farbe. Aber sie leben ja nicht immer im Dunklen.

    Ringelnattern gucken? Neid, Neid, Neid!!!

    Was kommen mir da nur für Assoziazionen beim Wort “Netzwühlen”? Wird das bald olympisch?

  12. #12 cydonia
    30. Januar 2012

    @Breitseite
    Ich missbrauche mal kurz den Blog:
    Ja, es gibt nicht nur Birdwatcher. Ein guter Tipp ist immer an den ersten wirklich sonnigen Tagen angeschwemmte, abgetrocknete dunkle Laubhaufen an Flüssen mit Altarmen aufzusuchen. Man muss aber sehr genau hingucken, denn selbst ein ausgewachsenes Weibchen verschmilzt oft perfekt mit der Umgebung.
    Die Sonnstellen frisch geborener Glattnattern sind auch mit etwas Übung in den entsprechenden Gebieten recht gut zu finden.
    Ein Highlight sind immer gelbgrüne Zornnattern die am nördlichen Rand ihres Verbreitungsgebiet(Auxerre und Umgebung) während der Paarungszeit nix kennen, und sehr schön zu beobachten sind. Das Problem ist nur, dass diese Zeit grade mal ein paar Tage dauert, und man nie weiß, wann es soweit ist.

  13. #13 Boron
    1. Februar 2012

    @MartinB

    @Boron
    Für diese Haarspalterei gebührt dir die goldene Rasierkline am Band.

    Nix für ungut, aber so hatte ich halt einen Aufhänger noch ein bisschen über die Geologie der Grube Messel loszuwerden.

    (boah, jetzt sagt Boron gleich, dass Fossilien keine Lebensweise haben, weil sie tot sind…)

    Nö, ich würde sagen, dass nicht jedes Fossil jemals gelebt haben muss. Stichwort: Ichnofossilien (hier z.B. ein Koprolith – fossiler Kot – aus der Grube Messel) *Ätsch!* ^^

    Nochmal zur Morphometrie: Ein, wie ich finde, ziemlich geiles Paper, welches die Anwendungsmöglichkeiten dieser Methodik auch sehr schön aufzeigt, ist dieses hier von Jason Head (einer der Co-Autoren des Cryptolacerta-Papers) et al. über eine “Monster”-Boa aus dem Paläozän Kolumbiens, die zudem als Paläothermometer herhält.

  14. #14 MartinB
    1. Februar 2012

    @Boron
    Schon gut, ich ernenne dich hiermit zum obersten Erbsenzähler des Blogs 😉

    “Stichwort: Ichnofossilien (hier z.B. ein Koprolith – fossiler Kot – aus der Grube Messel”
    So, jetzt kann ich aber zurück-haarspalten; immerhin besteht Kot ja zu typischerweise 30% aus Bakterien, lebt also doch.

    Ja, das Boa-paper ist cool – wenn ich damals schon gebloggt hätte, hätte ich mich darüber sicher ausgelassen.

  15. #15 perk
    6. Februar 2012

    Ja, das Boa-paper ist cool – wenn ich damals schon gebloggt hätte, hätte ich mich darüber sicher ausgelassen.

    soweit ich weiß waren maxwell und schrödinger auch irgendwie vor deiner zeit als blogger und es hat dich nicht aufgehalten^^

  16. #16 MartinB
    7. Februar 2012

    @perk
    Ja, aber Paläontologie-Paper gibt’s im Moment ständig neue, wo ich schon mit dem Bloggen nicht hinterher komme, wenn ich auch gelegentlich noch über andere Sachen schreiben will – habe immer noch nen virtuellen Stapel im Rechner.