Hier ist ein kleines Rätsel für euch: Stellt euch ein Bauteil vor, das bei einer bestimmten Last versagt (also beispielsweise zerbricht). Jetzt nehmt ihr ein zweites, absolut identisches Bauteil. Ist es möglich, von diesem zweiten Bauteil Material so zu entfernen (mit einem Messer, einer Schere, was auch immer), dass dieses zweite Bauteil eine größere Last trägt als das erste? Kann es irgendeine Form eines Bauteils geben, bei der das klappt?

Rein mit den Mitteln der Logik und ein bisschen physikalischem Grundwissen scheint leicht einzusehen, dass das unmöglich sein kann: Ein Bauteil bezieht seine Festigkeit aus den Atombindungen. Es zerreißt, wenn diese Atombindungen überlastet werden. Wenn ich aus dem Bauteil Atome entferne, dann entferne ich auch Atombindungen. Also müssen die übrigbleibenden Atombindungen mehr Last ertragen, also muss ein Bauteil, aus dem ich Material entferne, bei kleinerer Last versagen (oder maximal gleicher Last, wenn ich Material irgendwo in einem unbelasteten Bereich entferne).

Das ist logisch, nachvollziehbar und daran ist sicher nicht zu rütteln.

Leider ist es aber falsch – und das zeigt nicht nur, dass man sich auf rein abstraktes Denken nicht immer verlassen kann, sondern auch, dass es höchste Zeit ist, mal etwas über Bruchmechanik zu schreiben.

Natürlich klappt der Trick mit dem Materialentfernen nicht bei jedem beliebigen Bauteil (sonst könnte man aus jedem Bauteil immer wieder Material entfernen, dann aus dem neuen Bauteil wieder und immer so weiter), sondern nur, wenn das Bauteil eine bestimmte Form hat.

Bevor ich erkläre, warum das funktionieren kann (und was Toilettenpapier und Dinozähne damit zu tun haben), hier erst einmal ein kleines Experiment – ihr braucht eine Schere, zwei Blätter Papier (oder mehr, falls ihr ein bisschen rumprobieren müsst, bis alles klappt) und einen Locher.

In das erste Blatt Papier knipst ihr mit dem Locher ein Loch genau in der Mitte einer Kante. Dann schneidet ihr mit einer Schere einen Riss von der Kante bis zum Loch. In das zweite Blatt schneidet ihr einen Riss, der genau so lang ist wie der im ersten Blatt, nur ohne Loch am Ende:

Jetzt nehmt ihr das Papier an den Enden und reißt es auseinander. Wenn alles klappt, solltet ihr merken, dass das Papier mit dem Locherloch etwas mehr Kraft zum Zerreißen benötigt. Falls es so nicht klappt (es hängt nach meinen eigenen Versuchen ein bisschen von der Papiergröße und -sorte ab, ob man einen Unterschied spüren kann), macht den Riss etwas tiefer; dann wird’s mit dem Lochen allerdings schwieriger, schneidet im Zweifel das Loch vorsichtig mit einer Schere aus und macht es etwas größer. Bei mir hat es gerade mit dieser Versuchsanordnung (Notizpapier mit etwa 8cm Kantenlänge) ganz gut geklappt:

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Also: Mit großen Loch trägt das Papier etwas mehr Last als ohne, obwohl doch nur Material entfernt wurde.

Der Trick steckt natürlich im Riss. Rissspitzen können ein Material schwächen, und zwar um so mehr, je schärfer sie sind. Ein am Ende ausgerundeter Riss ist “harmloser” als ein sehr scharfer.

Warum ist das so? Dazu schauen wir uns ein belastetes Bauteil an, das einen (hier sehr stumpfen) Riss hat (den ein Ingenieur als “Kerb” bezeichnen würde). Hier als Beispiel eine “gekerbte Welle” – also ein langer Zylinder, der in der Mitte einen etwas kleineren Durchmesser hat:

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(Bild aus: Rösler, Harders, Bäker, Mechanisches Verhalten der Werkstoffe)

Natürlich ist unser Bauteil mit Kerb schwächer als das gleiche Bauteil ohne den Kerb – es hat ja in der Mitte einen kleineren Durchmesser, muss also mit weniger Querschnitt die selbe Last tragen. Das ist aber nicht alles. Der Kerb sorgt nämlich auch dafür, dass die Last sich ungleichmäßig verteilt.

Um das zu veranschaulichen, sind in das Bild “Kraftlinien” eingezeichnet, die zeigen, wie das Bauteil belastet ist. Jede Kraftlinie symbolisiert sozusagen einen Teil der aufgebrachten Last – da wo die Linien dichter sind, ist die Belastung entsprechend höher, da wo sie weniger dicht sind, ist die Belastung niedriger.

Wie ihr sehen können stört unser Kerb den Kraftfluss – die Kraftlinien konzentrieren sich direkt an der Kerbspitze (meist “Kerbgrund” genannt). Das ist ziemlich ähnlich zu einer (langsam) strömenden Flüssigkeit (tatsächlich sind die zu Grunde liegenden Gleichungen im wesentlichen dieselben). Diese Konzentration der Kraftlinien führt zu einer Spannungskonzentration (Die Spannung ist definiert als Kraft pro Fläche.).

Die Spannung direkt unter dem Kerb ist also gleich aus zwei Gründen größer als die im ungekerbten Bauteil: Zum einen, weil hier der Querschnitt abnimmt, zum anderen, weil sich zusätzlich die Kraftlinien direkt im Kerbgrund konzentrieren und die Last weiter erhöhen.

Vielleicht macht ein Zahlenbeispiel das etwas anschaulicher (vielleicht auch nicht?): Nimmt man beispielsweise als Durchmesser der Welle 100 Millimeter an und einen umlaufenden, halbkreisförmigen Kerb (so wie im Bild) mit Radius 5 Millimeter, und belastet das ganze mit einer Last von 1200 Kilonewton (also etwa 120 Tonnen), dann ist die Spannung weit weg vom Kerb etwa 150 Megapascal (Newton pro Quadratmillimeter, eine Spannungseinheit). Wegen des kleineren Durchmessers im Kerb würde man hier naiv eine Spannung von 189 Megapascal vorhersagen. Tatsächlich ist direkt unter dem Kerb die Spannung wesentlich höher – nämlich 516 Megapascal, also mehr als zweieinhalb mal so viel, als man nur wegen der Querschnittsabnahme erwartet hätte.

Halten wir also fest: Hat ein Bauteil einen Kerb (oder Riss, den genauen Unterschied diskutiere ich noch), dann gibt es eine Spannungskonzentration direkt am Kerb, die durchaus ziemlich groß sein kann.

Ingenieurinnen wissen das natürlich – entweder ermitteln sie die maximale Spannung gleich mit einer Computersimulation, oder sie verwenden so genannte Kerbformzahldiagramme, bei denen man für handelsübliche Bauteilgeometrien wie Wellen direkt ablesen kann, wie groß die Spannungsüberhöhung ist.

Für uns hier ist vor allem eins wichtig: Der Wert der Spannungsüberhöhung hängt von der Tiefe und vor allem von der Schärfe des Kerbs ab. Je kleiner der Kerbradius, desto schärfer der Kerb und desto größer die Spannungsüberhöhung. Die Zahl der Bauteile, die wegen eines zu scharfen Kerbs versagt haben (weil zum Beispiel für einen Absatz an einem Bauteil kein Radius angegeben war und der Dreher an der Drehbank gerade einen neuen scharfen Drehmeißel eingebaut hat, so dass der Absatz richtig scharf wurde) ist Legion.

Stellen wir uns als nächstes ein Bauteil (der Einfachheit halber denken wir uns eine sehr große Platte) vor, in dem ein langer, scharfer Kerb drin ist, etwa so:

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Wir nehmen jetzt an, dass die Platte sehr groß ist im Vergleich zur Länge des Kerbs (ist im Bild nicht wirklich der Fall), und dass der Kerb wiederum sehr lang ist im Vergleich zum Radius an seiner Spitze – dann brauchen wir uns nämlich um die Details der Geometrie keine besonderen Gedanken zu machen. An der Spitze des Kerbs werden die Kraftflusslinien wieder umgeleitet. Je kleiner wir den Kerbradius machen, desto enger legen sich die Kraftflusslinien um den Kerb – die Spannung direkt im Kerbgrund wird immer größer.

Wenn wir den Kerbradius jetzt unendlich klein machen, dann bekommt der bisher ausgerundete Kerb eine scharfe Spitze – aus dem Kerb ist ein Riss geworden. Die Spannung an der Rissspitze wird jetzt sehr groß – rechnerisch geht sie gegen unendlich.

So sieht das ganze aus, wenn man es als Konturplot aufträgt:

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Die dicke schwarze Linie bis zur Mitte symbolisiert den Riss. Am Bauteil wird oben und unten gezogen und aufgetragen ist die Spannung in senkrechter Richtung. Man sieht sehr schön, wie sie zur Rissspitze hin immer größer wird.

Falls ihr euch fragt, wieso denn nicht jedes Bauteil mit einem noch so kleinen Riss sofort kaputt geht, wenn doch die Spannung unendlich wird: die Antwort lautet, dass zwar die Spannung lokal gegen unendlich geht, aber Spannung ist Kraft pro Fläche. Betrachtet man beispielsweise die Kraft, die tatsächlich auf ein Atom an der Rissspitze ausgeübt wird, so ist die endlich groß. Streng genommen ist diese Unendlichkeit also ein Artefakt, aber da Atome im Vergleich zu typischen Risslängen winzig sind, ist eine atomare Betrachtung ziemlich sinnlos.

Die rechnerisch unendliche Spannung macht aber natürlich Probleme, wenn man ein Bauteil auslegen will. Man kennt zum Beispiel für einen Werkstoff Spannungs-Kenngrößen wie die Zugfestigkeit (oder Trennfestigkeit) – aber wenn die angelegte Spannung rechnerisch immer unendlich groß ist, dann nützt das natürlich nicht viel.

Eine genaue Analyse zeigt, dass man tatsächlich eine eigene Kenngröße braucht, um die Empfindlichkeit eines Materials gegen Risse zu spezifizieren – die üblichen Werte wie Zugfestigkeit oder Trennfestigkeit sind hier relativ nutzlos, weil das Verhalten des Materials stark davon abhängt, was genau an der Rissspitze passiert. Metalle zum Beispiel können sich plastisch verformen – dabei rundet sich die Rissspitze aus und aus dem Riss wird ein weniger schlimmer Kerb. Deswegen sind Metalle weniger rissempfindlich als Keramiken, die keine Plastizität haben. (Und deswegen zerbricht eure Lieblingstasse, wenn sie auf den Küchenboden fällt, während euer Lieblingsmesser da keine Probleme hat.)

Um das ganze mathematisch zu beschreiben, berechnet man den sogenannten Spannungsintensitätsfaktor K:

Dabei ist σ die Spannung weit weg von der Rissspitze, a ist die Risslänge und Y ein Geometriefaktor, der etwas über die Art des Risses (Oberflächenriss, Innenriss, Riss in einer Platte oder einem dreidimensionalen Bauteil etc.) aussagt. Diesen K-Wert vergleicht man dann mit dem kritischen Spannungsintensitätsfaktor, der ein Werkstoffkennwert ist. Ist der berechnete K-Wert größer als der Werkstoffkennwert, dann weiß man, dass das Bauteil versagen wird. (Bei sicherheitskritischen Bauteilen, z.B. in Turbinen, geht man so vor, dass man ein Detektionsverfahren verwendet, um vorhandene Risse zu finden. Wird damit kein Riss gefunden, dann nimmt man zur Auslegung an, dass ein Riss vorhanden war, der gerade an der Detektionsgrenze ist – so ist man auf der sicheren Seite.)

Wir haben jetzt also gesehen, dass ein Riss sozusagen der schlimmste Kerb ist, den man sich vorstellen kann – je schärfer, desto schlimmer, denn die Spannungsüberhöhung an der Rissspitze wird ja immer höher.

Damit können wir unser Experiment vom Anfang jetzt verstehen: Einmal habe ich einen scharfen Anriss mit einer Schere (mit extremer Spannungsüberhöhung), einmal habe ich einen Kerb mit einigermaßen großem Kerbradius. Wenn ihr Lust habt, ist es keine schlechte Idee, mal unterschiedliche Kerbformen auszuprobieren (habe ich vor ein paar Jahren mit Papier und nem Overheadprojektor auch mal in der Vorlesung vorgemacht).

Und was hat das jetzt mit Dino-Zähnen zu tun?

Man liest ja öfters, dass fleischfressende Dinosaurier “Zähne wie Steakmesser” hatten (manchmal auch noch “rasiermesserscharf”). Nun ja, wenn ihr damit nen Steak schneiden wollt, bitte sehr:

B-rex teeth.jpg
By John R. Horner, Mark B. Goodwin, Nathan Myhrvold – https://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0016574, CC BY 2.5, Link

Aber eins haben Raubsaurierzähne tatsächlich mit Steakmessern gemeinsam: Steakmesser haben oft Sägezähne, und so ist es auch bei den Saurierzähnen. Wenn ihr das Bild oben in der Vergrößerung anklickt, könnt ihr diese Sägezähne deutlich sehen.

Diese Sägezähne an den Dino-Zähnen sind praktisch, um Fleischfasern zu zerteilen (genau wie am Steakmesser). Sie haben aber einen Nachteil: Es sind böse und sehr scharfe Kerben. Am Grund solcher Kerben gibt es, wie wir gesehen haben, eine große Spannungsüberhöhung.

Dies ist auch dem Paläontologen William Abler aufgefallen. Und damit hatte er eine Erklärung für etwas, das man schon vorher bemerkt hatte: An den Enden der Sägezähne findet man bei einigen Dinosauriern (Abler hat sich Albertosaurus angesehen, einen nahen Verwandten des Tyrannosaurus) Löcher, sogenannte Ampullae. Aus copyright-Gründen kann ich hier leider kein Bild zeigen, aber google books hat einen Scan des Artikels – klickt auf den Link und schaut auf Teilbild e.

Abler folgerte, dass diese Ampullae als Rissstopper dienen, indem sie aus dem ansonsten sehr scharfen Kerb einen stark ausgerundeten machen. Allerdings muss man zwei Dinge beachten: Zum einen hat Abler das ganze nur qualitativ, aber nicht quantitativ betrachtet. Es wäre sicherlich eine nette Übung, mal mit Kerbformzahldiagrammen und Spannungsintensitätsfaktoren zu schauen, ob das Konzept auch quantitativ passt1. Zum anderen hat er festgestellt, dass solche Ampullae nicht bei allen Raubtieren mit Sägezahnung zu finden sind – der berühmte Dimetrodon zum Beispiel (der, der aussieht wie ein Krokodil mit Rückensegel) hatte sie nicht. Ob sie also wirklich notwendig sind, damit Zähne mit Sägemuster nicht zerbrechen, ist mir nicht ganz klar. Ähnliche Entlastungskerben setzt man übrigens auch in der Technik häufig ein.

1O.k., das ist zumindest grob geschätzt nicht besonders schwer. So eine Zahnung hat auf den Bildern im Artikel etwa eine Tiefe von einem Zehntel Millimeter. Nehme ich mal für Zahnschmelz eine geschätzte Risszähigkeit an, die einer mäßig guten Keramik entspricht (1Mpa√m), dann ergibt sich eine kritische Spannung von etwa 60 Megapascal, was nicht wenig ist, aber erst mal ganz plausibel klingt. Spätestens, wenn der Albertosaurus an einem Knochen nagt, könnten solche Spannungen sicherlich auftreten – Dentalwerkstoffe wie in einer Goldkrone haben typischerweise Festigkeiten im Bereich von 500 MPa und mehr. Ist die Zahnung tiefer, verringert sich die kritische Spannung entsprechend. Ich habe zwar kein Kerbformzahldiagramm für diese Rissanordnung griffbereit, aber man kann den Effekt der Ausrundung auf andere Weise abschätzen: Ein Metall würde sich an der Rissspitze plastisch verformen und eine ähnliche Ausrundung hervorrufen. Die Risszähigkeit eines Metalls ist typischerweise so etwa 50-100 mal größer als die einer Keramik, also erhöht sich die kritische Spannung entsprechend. Klingt also zumindest grob abgeschätzt nicht unvernünftig.

Jetzt aber weg von den Dinosauriern und hin zu unserem Alltag: Toilettenpapier. Das hat natürlich auch etwas mit Rissen zu tun, denn damit man es gut abreißen kann, ist es perforiert. Hier ist die Logik andersherum – man bringt mit Absicht kleine Risse ein, damit das Papier sauber da abreißt, wo man es abreißen möchte (falls ihr mal eine schlecht perforierte Rolle hattet, habt ihr vermutlich ein oder zwei Meter Papier auf dem Boden liegen gehabt).

Apropos Abreißen: Ist es euch auch schon mal passiert, dass ihr eine Tüte Gummibären oder ähnliches Naschzeug aufreißen wolltet, und erst ging es nicht und dann, mit etwas mehr Kraft, habt ihr gleich die ganze Tüte zerrissen und die leckeren Bärchen lagen auf dem Boden verstreut? Auch das ist ein Phänomen, das sich mit der Bruchmechanik leicht erklären lässt (es ist natürlich auch wahrscheinlicher, dass euch so etwas passiert, wenn ihr wie ich Grobmotoriker seid). Am Anfang ist der Anriss in der Gummibärchentüte (den die freundliche Firma ja extra zu diesem Zweck eingebracht hat) relativ kurz. Wir brauchen eine bestimmte Spannung, um den Riss wachsen und das Material versagen zu lassen, die durch die Formel von oben gegeben ist:

Hier ist Kc jetzt der Werkstoffkennwert, bei dem der Werkstoff versagt, der Riss also wächst. (Der “kritische Spannungsintensitätsfaktor” – tolles Wort, oder?) Lösen wir das nach σ auf, dann können wir die Spannung berechnen, die wir brauchen, um den Riss voranzutreiben:

Und hier seht ihr nun, dass die Spannung um so kleiner wird, je länger der Riss ist (die Risslänge a steht ja im Nenner). Wenn ihr also den Riss erst einmal wachsen lasst, dann wird es immer einfacher. Damit die Tüte nicht komplett zerreißt, müsst ihr also die Kraft, mit der ihr an der Tüte zieht, immer weiter reduzieren, je länger der Riss wird. (In Ingenieurssprache ausgedrückt: Ihr müsst den Versuch “weggesteuert fahren”, also die Bewegung der Hände vorgeben, nicht die Kraft.) Und wenn das (wegen der Grobmotorik) nicht klappt, dann liegen die Bärchen am Ende auf dem Teppich.

Wenn ihr das nächste mal eine Packung aufreißt oder eine Perforation seht, dann wisst ihr nun, dass das nur dank der Spannungsüberhöhung an der Rissspitze funktioniert.


Mehr über Risse und Kerben und Werkstoffe überhaupt findet ihr im absolut tollsten Werkstoffkundebuch, das je geschrieben wurde:
J. Rösler, H. Harders, M. Bäker
Mechanisches Verhalten der Werkstoffe

Der Artikel zu den Dinozähnen ist
W. L. Abler
“A Kerf-and-Drill Model of Tyrannosaur Tooth Serrations”
in: D.H. Tanke, K. Carpenter, “Mesozoic Vertebrate Life”,
Indiana University Press, 2001

Kommentare (31)

  1. #1 Geisterfalle
    20. Februar 2012

    Unglaublich, dass ich durch solch einen tollen Artikel als Informatiker für Eigenschaften von Werkstoffen begeistert werde. Chapeau, sehr unterhaltsam und lehrreich 😀

  2. #2 MartinB
    21. Februar 2012

    @Geisterfalle
    Danke schön 🙂

  3. #3 miesepeter3
    21. Februar 2012

    @Martin B.

    Dazu fällt mir dieser Uraltwitz ein:
    In einer Fabrik für Flugzeuge reißen bei einem neuentwickelten Typ beim Durchbruch durch die Schallmauer die Tragflächen immer dicht am Rumpf ab. Die Ingenieure lassen sich immer wieder was neues einfallen, um das abzustellen, nichts hilft. In ihrer Verzweifelung machen sie einen Ideenwettbewerb im Unternehmen, aber niemandem fällt dazu was ein. Doch einem schon, dem Hausmeister. Sein Tipp, perforiert die Stelle genau so wie beim Toilettenpapier. Diese Idee erscheint allen ziemlich schwachsinnig, aber nachdem man schon die unmöglichsten Versuche erfolglos gestartet hatte, kommt es auf diesen einen auch nicht mehr an. Gesagt, getan, man perforierte. Und dann geschah das Wunder, die Tragflächen hielten jeder Belastung stand. Die Testpiloten knüppelten die Maschine immer wieder durch die Schallmauer, nichts passierte. Freude über Freude in der Entwicklungsabteilung, aber nun wollte man vom Hausmeister wissen, welch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis ihn zu diesem Tip veranlasst hatte. Die bescheidene Antwort lautete:” Hat jemand schon mal erlebt, dass Toilettenpapier da reißt, wo es soll?”
    Nun, dass entspricht nicht der Vorgabe des Artikels, aber passt irgenwie zum Thema, oder?

  4. #4 MartinB
    21. Februar 2012

    @miesepeter
    Stimmt, der ist nicht schlecht.

  5. #5 Regina
    21. Februar 2012

    Danke für diesen Artikel. Ich lerne immer gerne was dazu.

  6. #6 sumo
    21. Februar 2012

    ein sehr schöner Beitrag, vielen Dank dafür! Es ist eine anschauliche Erklärung für das Phänomen der Kerbwirkung, die sich manchmal sehr schmerzhaft bemerkbar machen kann, wenn z.B. ungeeignete Werkstoffe gemeinsam montiert werden und ein Bauteil dann versagt. Das ist mir vor langer Zeit passiert, beim Radfahren brach mir der Alulenker, der in einem Stahlvorbau montiert war. Der Vorbau war innen nicht sorgfältig entgratet, so daß sich dieser Grat im weicheren Alu einarbeiten konnte und es zu einer Rißbildung kam und der Lenker versagte.

  7. #7 MartinB
    21. Februar 2012

    @sumo
    Ja, das ist böse. In solchen Fällen kommt dann meist noch die Ermüdung dazu, die habe ich schon vor langer zeit mal erklärt:
    https://www.scienceblogs.de/hier-wohnen-drachen/2010/10/konnen-werkstoffe-mude-werden.php
    Per Ermüdung können auch kleine (und unter einmaliger Last harmlose) Risse zum Versagen führen.

  8. #8 roel
    21. Februar 2012

    @MartinB mal wieder ein super Artikel mit super einfachen Erklärungen. Das mit der Aufreisskerbe oder dem Aufreisskeil ist eine tueckische Angelegenheit. Der Riss geht nie gerade durch, meistens jedenfalls nicht. Die einfachste Variante ist übrigens ein gezackter oberer Rand.

  9. #9 MartinB
    21. Februar 2012

    “Der Riss geht nie gerade durch, meistens jedenfalls nicht”
    Ich denke, da spielen zwei Dinge rein:
    Erstens zerreißt man meistens nicht exakt in der Ebene, sondern hat immer eine schräge Komponente drin (also sozusagen aus der Papierebene heraus).
    Zweitens ist so ne Gummibärchentüte nicht überall gleich, so dass der Riss (bei mir jedenfalls) meist auf die Kante der Tüte zuläuft.

  10. #10 BreitSide
    21. Februar 2012

    Super! Da keimen alte Erinnerungen auf. Eeeeeendlich hab ich kapiert, warum winzigste Risse (Sandkörnchenkratzer und so) nicht jedes Bauteil sofort zerstören. Die Rissstopbohrungen sind mir noch gut im Hirn.

    Hab später nicht mehr damit zu tun gehabt, aber die Frage kam mir immer mal wieder. Jetzt hat die liebe Seele ruh…:)

  11. #11 MartinB
    21. Februar 2012

    @BreitSide
    “die Frage kam mir immer mal wieder.”
    Ja, so ging’s mir auch immer. Und dann habe ich irgendwann ein Stück Papier genommen und mal die Kraft auf eine einzelne Atombindung in einem Kristal an der Rissspitze ausgerechnet, indem ich einfach die Formel für die Spannung an der Rissspitze über eine Atomlänge aufintegriert habe. Da kommt dann direkt ein sehr vernünftiger Wert heraus, der zu typischen Bindungsenergien passt.
    Das hat jetzt auch Eingang als Übungsaufgabe in unser Meisterwerk gefunden, auch wenn meine Koautoren die Aufgabe wohl etwas unnötig fanden. Aber Dein Kommentar zeigt, dass noch andere daran herumrätseln.

  12. #12 rolak
    21. Februar 2012

    Wesentlich schöner als die ordinäre Lochung finde ich bei den bei Sägeblättern not­wen­digen ‘Rissen’ die Spiralisierung. Gibts auch in richtig schön eingerollt, finde ich im www grad nicht…

    denn damit man es gut abreißen kann, ist es perforiert

    Ich befürchte, da habt ihr etwas völlig falsch verstanden…

  13. #13 MartinB
    21. Februar 2012

    @rolak
    Zweiter – den hatte Miesepeter schon erzählt…
    Die Spiralen sind aber schick.

  14. #14 Johannes W.
    21. Februar 2012

    Danke, sehr guter Artikel erstmal!

    https://www.saege24.de/images/2008_07_13_21-40-58-1005neg_zoom.JPG

    Ich hab den Link zu einem Bild eines Kreissägeblattes verlinkt und ich nehme mal an, dass diese gewollten “Mäander-Risse” oder wie man sie nennen soll gegen ein Reißen und des Blattes dienen wenn sich Schnittgut verklemmt oder blockiert und somit dann eine Entspannung herbeigeführt wird. Es verwindet sich somit weniger. Kann man das so sagen oder wie ist das dort zu erklären? Diese zugeführten “Risse” sind ja wohl auch so geschlungen, damit es im Ernstfall keinen geraden Rißverlauf geben kann welcher das Blatt komplett aufsprengt, nehme ich an. Liege ich da jetzt richtig oder falsch?

    Keine Ahnung warum unser Spamfilter das nicht mochte? Vermutlich wegen des Links?

  15. #15 rolak
    22. Februar 2012

    /zweiter/ ^^oha, den habe ich iwie überlesen…

  16. #16 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB· 21.02.12 · 18:41 Uhr

    So ich habe mal mein Wissen etwas aufgefrischt, war mir gestern nur 99% sicher. Die Gummibärchentüte besteht meistens aus einer Verbundfolie, also einer Folie, die aus 2 Folien zusammenkaschiert wurde. Die äussere Folie ist gereckt oder man sagt auch orientiert, d.h. sie ist nur noch bedingt dehnfähig. Die innere ist nicht speziel gereckt, also dehnfähig. Und dadurch reißt sie mehr oder weniger unkontrolliert ein. Bei einer Chipstüte sieht es anders aus, die besteht i.d.R. nur aus einer einzelnen gereckten Folie und reißt dadurch gerader auf, allerdings auch schneller und fast unstopbar, da ja die Lochbohrung fehlt.

  17. #17 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Ah, interessant, wieder was gelernt. Jetzt frage ich mich natürlich, warum die Gummibärchen ne Verbundfolie bekommen und die Chips nicht.

  18. #18 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Na dass ist schwer zu erklären, verpackungstechnisch sind beide Folien geeignet für beide Produkte. Es hat sich auf der einen Seite historisch entwickelt und auf der anderen Seite sind es Marketinggründe. Eine Chipstüte “muss” ordentlich knistern, die Gummibärchentüte nicht.

  19. #19 MartinB
    22. Februar 2012

    roel
    Ja, das mit dem Knistern hatte ich auch überlegt – und mich dann gefragt, warum eine gezogene Folie mehr knistert als eine doppellagige. Weil die gestreckten Polymerketten sich nicht so gut umformen lassen und die Chipstütenfolie deshalb eher knickt als sich einfach zu verbiegen?
    Hast du dazu irgendwelche Links parat? Das wäre ja mal ne coole Sache für unsere Erstsemester – Werkstoffkunde von Naschzeugtüten, mit praktischem Anschauungsmaterial finanziert aus Studiengebühren 😉

  20. #20 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Wegen Links muß ich mal schauen, aber die sollten dann ja schon gut sein, dauert dann ein klein bisschen. Anschauungsmaterial stelle ich dann gerne kostenlos zur Verfügung.

    Also der Knistereffekt beruht auf der Orientierung der Polymerketten, dass macht die Folie steifer und daher knisternd und nicht so biegasam.

  21. #21 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    “Also der Knistereffekt beruht auf der Orientierung der Polymerketten”
    Und warum knistert’s dann nicht, wenn ich ne zweite Folie dazunehme? Die gestreckte Folie hat ja trotzdem orientierte Ketten und ist wenig biegsam. Oder verhindert die zweite Folie das lokalisieren der Verformung zum Knick?

    “Anschauungsmaterial stelle ich dann gerne kostenlos zur Verfügung.”
    Aber bitte mit Inhalt ;-)))

  22. #22 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Die Verbundfolien für z.B. Gummibären bestehen i.d.R. aus 20µm gereckten Polypropylen (da gibt es verschiedene Abkürzungen für O-PP, PP-O, BOPP…) und 40µm Polyethylen (PE). Das PE ist nicht gereckt, d.H. wenn du das nimmst, kannst du das solange ziehen, bis das es irgendwann mal reißt. Das PP kannst du fast gar nicht in die Länge ziehen. Beide Folien zusammen ebenfalls kaum, aber durch das PE knistert es deutlich weniger.

    “Aber bitte mit Inhalt ;-)))” Wenn der nicht für ein ganzes Semester reichen muß.

  23. #23 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Danke für die Zusatzinfos
    “durch das PE knistert es deutlich weniger.”
    ist mir noch nicht so ganz klar – muss wohl heute abend mal ein paar Versuche anstellen.

  24. #24 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Das kann man sicher physikalisch erklären, aber den Teil den ich dazu bräuchte hast du hier noch nicht besprochen. Die Eigenschaften beider Materialien ergänzen sich teilweise, addieren sich auch teilweise und das führt dazu, das das Knistern des PP’s weniger wird. Wenn du eine Frischhaltefolie hast, kannst du diese als PE nehmen, die ist aber viel dünner als 40µm, also dann vielleicht auch doppelt und dreifach nehmen.

  25. #25 roel
    22. Februar 2012

    @MartinB Ich stell dir mal ein Mustermaterialien zusammen. Kann aber bis nächste Woche dauern.

  26. #26 BreitSide
    22. Februar 2012

    @rolak: Ja, die Schwingungs-(Schall-)dämpfung kann manchmal richtig schön sein.

    “Leider” dämpft ein Sandwichsägeblatt (mit aufgebrachtem dünnen Metallblech/-folie auf beiden Seiten) noch besser. Sieht aber nicht mehr so hübsch aus….

    Tatsächlich, das www spuckt nix aus. Das sieht auch ganz nett aus: https://www.rosa-moser.at/sites/default/files/produkte/4700803200_Premium4in1.jpg

  27. #27 MartinB
    22. Februar 2012

    @roel
    Echt jetzt? Ich hätte mich ja mit meinen häuslichen Lakritz- und Chipstüten amüsiert, aber wenn du was schickeres hast, nehm ich das natürlich gern.

  28. #28 rolak
    22. Februar 2012

    Hi Johannes W., die Schnitte dienen ausschließlich der Schalldämpfung. Sehr notwendig, da der genutzte Stahl ungemein hart ist – und die Verballhornung Kreischsäge habe ich auch schon lange nicht mehr gehört. Hier wäre ein aktuelles Exemplar von Leitz, bei dem auch die Endlochungen schön wiederzufinden sind; doch das sieht mir viel zu wenig ‘handgemacht’ aus. Mal schauen, ob ich morgen bei der Arbeit eines dieser schönen Exemplare finde, dann gibts ein Photo…

    Mit Deiner Vermutung zur Begründung des sich Eindrehens, des Verschlingens liegst Du allerdings goldrichtig.

  29. #29 roel
    24. Februar 2012

    @MartinB ergänzend. Es gibt die Beutel fuer Gummiebaerchen auch in 30µm O-PP und auch in einigen anderen Dicken. Je nach Marke.

  30. #30 MartinB
    24. Februar 2012

    @roel
    Ja, ich werde dann demnächst mal rumspielen und meine Knistertheorie prüfen.

  31. #31 rolak
    24. Februar 2012

    So, hier nun das versprochene Photo (direkt das erste Schrottblatt…) – sieht doch aus wie eine weihnachtliche Laubsägearbeit, oder?