Vermutlich jeder hier kennt die Geschichte der überlichtschnellen Neutrinos, die letztes Jahr in Italien am Neutrino-Detektor OPERA vermeintlich gefunden wurden. Die meisten Physikerinnen waren ja eh skeptisch, aber trotzdem schossen natürlich wildeste Spekulationen ins Kraut. Einstein widerlegt? Das Ende der Physik??
Wie gesagt, die meisten waren eher skeptisch und warteten auf eine unabhängige Überprüfung der Ergebnisse. Die Skepsis wurde noch wesentlich größer, als im Februar klar wurde, dass es gleich zwei mögliche systematische Fehlerquellen gab – das berühmte “lose Kabel” und Fehler bei der Kalibrierung. Anders als oft dargestellt war es allerdings nicht so, dass die Sache damit schon klar war – beide Probleme führten zu höheren systematischen Fehlern als bisher gedacht, so dass es durchaus möglich war, dass die Neutrinos die richtige Geschwindigkeit hatten, aber sicher war das nicht. Es bestand immer noch die – kleine – Chance, dass zwar die Messfehler überschätzt wurden, der Effekt aber bei genauer Überprüfung stand halten würde.
Genau diese Überprüfung hat jetzt stattgefunden, und zwar am zweiten Neutrino-Detektor in Gran Sasso: ICARUS.
ICARUS verwendet zwei Detektoren von 3,6×3,6×19,6 Kubikmetern Größe, die mit 760 Tonnen flüssigem Argoen gefüllt sind. Durchfliegende Neutrinos können hier Reaktionen verursachen, die Licht erzeugen, dass mit speziellen Detektoren (Photomultipliern) gemessen wird.
Derselbe Neutrino-Strahl, der vom CERN kam, wurde auch hier verwendet, um die Flugzeit zu messen, und die Ergebnisse liegen jetzt vor.
Überrascht euch das? Mich zunächst schon. OPERA hatte ja ziemlich lange gemessen, um eine ausgiebige Statistik mit 16000 Ereignissen anzuhäufen. Und nun macht ICARUS dasselbe in wenigen Monaten?
Tatsächlich sogar in nur einer Woche. Man verzichtete allerdings auf die große Zahl von Ereignissen und maß vom 21. Oktober bis zum 6. November 2011 ganze 7 eindeutige Neutrino-Ereignisse. (Eigentlich sogar erst vom 31. Oktober – die ersten 10 Tage hatte man einen kleinen Fehler eingebaut und leider keine Ereignisse gemessen – ziemlich ehrlich übrigens, dass auch so in ein paper reinzuschreiben.) Warum braucht man einmal 16000 Ereignisse und einmal reichen 7?
Die Neutrinos werden erzeugt, indem man Protonenbündel beschleunigt und auf einen Graphitblock schießt. Dabei entstehen häufig Neutrinos, z.B. in dieser Reaktion:
Hier treffen zwei Protonen aufeinander und tauschen ein Pion aus. Dabei wandelt sich ein Proton in ein Neutron um. Das andere Proton verwandelt sich in ein anderes Teilchen (wenn ich mich nicht irre, müsste das ein Δ++ sein), das dann wieder zerfällt. Das entstehende hochenergetische Pion zerfällt dann in ein Myon und ein Myon-Neutrino. (Falls euch die Teilchennamen nicht viel sagen – macht nix, wichtig ist nur, dass die Neutrinos entstehen, wenn man den Protonenstrahl auf ein Target ballert.)
Nicht aus jedem Proton entsteht ein Neutrino und nicht jedes Neutrino wird auch gemessen. Der Opera-Detektor maß 16000 Neutrinos, die aus etwa 100.000.000.000.000.000.000 Protonen erzeugt wurden.
Damit man möglichst viele Neutrinos bekommt, ballert man möglichst viele Protonen in möglichst kurzen Zeitabständen auf den Graphitblock, und zwar jeweils in Protonenbündeln. Das führt allerdings dazu, dass es knifflig wird, die Neutrinos dann den einzelnen Bündeln zuzuordnen. Die OPERA-Leute mussten deshalb einiges an Aufwand treiben, um die Neutrinos richtig zuzuordnen und die Laufzeit zu bestimmen. (Stellt euch vor, ihr würdet ständig Tennisbälle in ein Rohr fallen lassen und unten gucken, wie sie wieder rauskommen. Wenn die Tennisbälle in kurzem Abstand kommen, wird es ziemlich schwer, die rausfallenden Bälle den reingeworfenen eindeutig zuzuordnen und die Fallgeschwindigkeit zu messen.)
Nachdem OPERA die Ergebnisse veröffentlicht hat (einige meinen, es wäre zu früh gewesen, ich glaube aber immer noch, dass man das vor allem deswegen tat. weil ein Doktorand zu dem Thema seine Arbeit abgeben wollte und es unfair gewesen wäre, den auf unbestimmte Zeit zu vertrösten), hat man die Strahlintensität geändert und den Versuch so umgebaut, dass nur noch alle 524 Nanosekunden ein Neutrinobündel erzeugt wird. Die einzelnen Bündel hatten auch nur noch eine zeitliche Breite von 3 Nanosekunden.
Das macht die Zuordnung der Neutrinos zu den Ereignissen natürlich wesentlich leichter (es fliegen jetzt viel weniger Bälle durch unser Rohr und statt Tennisbällen nehmen wir jetzt kleinere Tischtennisbälle).
OPERA hatte diesen neuen Aufbau auch verwendet und damit die alten Ergebnisse zunächst bestätigt. Das zeigte, dass die statistische Zuordnung nicht das Problem war, sondern dass der Fehler – wenn es denn einer war – woanders stecken musste.
Zusätzlich wurden der neue Aufbau aber auch vom ICARUS-Experiment verwendet. Das ICARUS-Team hat ebenfalls mit Hilfe des GPS-Systems eine möglichst exakte Zeit- und Abstandsbestimmung aufgebaut und so ebenfalls die Neutrinogeschwindigkeiten gemessen. Details findet ihr in der unten verlinkten Veröffentlichung – aber ich verstehe nicht genug von solchen Zeitmessungen, um euch die Details erklären zu können. (Was ist denn ein “kicker magnet”? Kick it like Faraday? Und wie diszipliniert man ein GPS System: “a GPS system ESAT 2000 disciplined with a Rubidium oscillator” – “wenn du nicht genau genug misst, kriegst du Haue mit ner Rubidium-Stange”?)
Und hier ist das Ergebnis:
Aus Antonello et al. s.u.
Aufgetragen sind die Häufigkeit der gemessenen Neutrinos gegen die Flugzeit. Die Flugzeit auf der horizontalen Achse ist dabei so normiert, dass ein Wert von 0 gerade der erwarteten Lichtgeschwindigkeit entspricht. Die Werte sind jeweils in 10-Nano-Sekunden-Blöcken zusammengefasst. Es gab also 3 Ereignisse, die um 0 bis zehn Nanosekunden zu schnell waren, 2 die um 0 bis 10 Nanosekunden zu langsam waren usw. (Dass nicht alles exakt bei 0 liegt, liegt natürlich an zu erwartenden Messfehlern bzw. Ungenauigkeiten in der Messapparatur.) Man erkennt, dass die OPERA-Ergebnisse systematisch um 60 ns zu schnell sind (damit ging der Ärger ja los) – die ICARUS-Ergebnisse liegen aber exakt auf dem erwarteten Wert.
Ist damit alles im grünen Bereich? Sicherlich ist das Ergebnis das, was die meisten erwartet hatten (und was ja auch mit zum Beispiel den Neutrinos der Supernova-Explosion von 1987 in Einklang steht). Trotzdem denke ich, dass eine Bestätigung mit anderen Experimenten eine gute Idee bleibt – beispielsweise in Japan und den USA. Warum? Gerade weil jeder dieses Ergebnis erwartet, besteht natürlich immer die Gefahr, dass man unbewusst irgendwo einen Fehler eingebaut hat oder dass man zum Beispiel solange Fehlerkorrekturen eingebaut hat, bis man den erwarteten Wert erreichte und dann aufgehört hat. Ich halte das nicht gerade für wahrscheinlich, aber da die Experimente ohnehin schon laufen, sollte man auf Nummer sicher gehen.
Wie es aussieht, ist die Relativitätstheorie also bestätigt. Einerseits natürlich beruhigend – unser physikalisches Weltbild ist anscheinend in diesem Punkt in Ordnung. (Noch – irgendwann wird wohl auch die Relativitätstheorie an ihre Grenzen stoßen, spätestens, wenn es zu extrem kleinen Distanzen von der Größe der hypothetischen Superstrings geht.) Irgendwie aber auch schade – Neutrinos die überlichtschnell unterwegs sind oder die bei ihrer Entstehung ein paar zehn Nanosekunden in die Vergangenheit geschleudert werden, wären natürlich total cool gewesen. Aber wir können uns die Ergebnisse unserer Experimente ja nicht aussuchen – in den Worten von Richard Feynman “Nature cannot be fooled” (“Die Natur kann man nicht austricksen”)
Antonello et al.
Measurement of the neutrino velocity with the ICARUS detector at the CNGS beam
Kommentare (62)