Vor etwas mehr als 350 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Landtiere. Wie genau das passierte, darüber wird seit langem geforscht und auch viel spekuliert. Ein heißer Kandidat für den ersten Landgänger – Ichthyostega – wurde jetzt biomechanisch neu analysiert. Dabei kam heraus, dass Laufen eher nicht seine Stärke war.
Wie üblich erst einmal ein Blick auf das Tier, um das es hier geht:
Ichthyostega war so etwa eineinhalb Meter lang, hatte einen breiten Schädel, kräftige Vorder- und etwas weniger kräftig aussehende Hinterbeine und sieht insgesamt schon aus wie ein guter Kandidat für den ersten Landgang – immerhin hat er richtige Beine mit Zehen dran.
Früher ging man davon aus, dass Ichthyostega und seine Verwandten ihre Beine auch tatsächlich dazu verwendeten, an Land herumzulaufen. Eine beliebte Hypothese, wie sich das Landleben (unter den Wirbeltieren) entwickelt hatte, waren die austrocknenden Tümpel: Wenn in einer Trockenzeit Tümpel und Seen, in denen diese urzeitlichen Lebewesen hausten, austrockneten, dann war es für sie praktisch, wenn sie sich über Land bis hin zum nächsten Tümpel schieben konnten.
Inzwischen geht man aber – dank neuer Fossilienfunde wie zum Beispiel Tiktaalik – davon aus, dass sich die ersten Beine tatsächlich noch bei rein wasserlebenden Tieren entwickelten, die damit am Boden herumkrochen. Diese Tiere entwickelten auch Lungen, vermutlich um damit Luft zu schnappen, wenn bei hohen Temperaturen die Sauerstoffkonzentration im Wasser zu niedrig wurde. Sie waren damit sozusagen an das Landleben vorangepasst – was auch ein beliebtes Argument der Kreationisten entkräftet, die ja immer fragen wozu denn halbe Beine oder Flügel gut sein sollen…
Ichthyostega hatte jedenfalls schon deutlich ausgeprägte Beine, die auch über Schulter- beziehungsweise Hüftgürtel gut verankert waren und sicherlich geeignet waren, einigermaßen große Kräfte aufzubringen. Konnte Ichthyostega damit an Land herumlaufen? Und wenn ja, wie genau hat er sich bewegt?
Das ist natürlich eine Frage für die Biomechanik. Beantwortet haben sie Stephanie Pierce und John Hutchinson vom Royal Veterinary College in London zusammen mit Jennifer Clack, die quasi der Papst (die Päpstin?) für die Erforschung der ersten Tetrapoden (Vierfüßer) ist. (Ihr sehr schönes Buch “Gaining Ground” ist leider schon ein bisschen veraltet.) John Hutchinson ist den Lesern dieses Blogs ja auch nicht ganz unbekannt. (John hat übrigens seit ein paar Monaten einen unglaublich coolen Blog – What’s in John’s Freezer?)
Um die Biomechanik zu verstehen, muss man natürlich erst einmal das Skelett von Ichthyostega genau analysieren. Das macht man heutzutage mit Hilfe der Computertomographie. Damit lässt sich in relativ kurzer Zeit ein dreidimensionales Modell des Skeletts von Ichthyostega erstellen. So sieht es aus:
Der Maßstabsbalken ist 10 cm lang.
Das Ganze gibt es übrigens auch als schickes Video:
Dieses Modell wurde dann verwendet, um an Hand der Gelenkflächen den Bewegungsspielraum der einzelnen Gelenke zu berechnen. Dabei ergibt sich die kleine Schwierigkeit, dass im lebenden Tier natürlich Knorpel auf den Gelenkflächen sitzen. Es zeigte sich aber durch Analyse verschiedener lebender Tiere (die ohnehin notwendig war, um die Zahlen, die wir gleich sehen, einordnen zu können), dass diese Knorpel die Bewegungsbreite der Gelenke eher einschränken als erweitern, so dass man also auf der sicheren Seite ist und den Bewegungsspielraum eher über- als unterschätzt. Die Skelette der lebenden Tiere kann man natürlich auch direkt manipulieren und so sicherstellen, dass die Computermodelle vernünftige Ergebnisse liefern.
Als lebende Tiere wurden solche ausgewählt, die auf unterschiedliche Weise in der Lage sind, sich im Wasser und an Land fortzubewegen: Salamander, Krokodil, Schnabeltier, Robbe und Otter. Damit sollte man eine ziemliche Bandbreite an Bewegungsmustern erfassen und sehen können, wie Ichthyostega ins Bild passt.
Für diese sechs Tiere (fünf lebende plus Ichthyostega) wurde jetzt der Bewegungsspielraum von Hüft- und Schultergelenk analysiert:
Was ist hier aufgetragen? Oben seht ihr den Bewegungsspielraum für die Hüfte, unten für das Schultergelenk. Aufgetragen sind jeweils die Winkel, um die die Gelenke bewegt werden konnten – ein Winkel von 180 Grad sagt also, dass sich das Gelenk entlang eines Halbkreises bewegen kann, bei 90 Grad ist es ein Viertelkreis usw.
Für jedes Gelenk gibt es drei Winkel, denn jedes Gelenk kann sich um drei Achsen drehen – um das zu sehen, streckt ihr am besten mal einen Arm zur Seite und probiert die Achsen selbst aus. Ihr könnt den Arm (nur in der Schulter bewegen) senkrecht nach oben strecken (sogar noch ein bisschen weiter) und in einem Halbkreis nach unten bewegen – dieser Freiheitsgrad der Bewegung heißt Abduktion/Adduktion (wörtlich übersetzt wegführen/hinführen). Dann könnt ihr den Arm nach vorn vor die Brust bewegen und entlang derselben Richtung schräg nach hinten – das nennt man Flexion/Extension (beugen/strecken). Und dann könnt ihr den Arm auch – während er zur Seite gestreckt ist – um seine lange Achse rotieren, so dass die Handfläche nach oben und unten gedreht wird, das ist Pronation/Supination. (Wenn ihr den Ellbogen anwinkelt, dreht ihr die Hand durch eine Rotation der Knochen im Unterarm, aber bei gestrecktem Arm dreht man die Hand durch Rotation in der Schulter. Ich finde es immer total faszinierend, dass wir uns der komplexen Steuerungsmechanismen, die man braucht, um immer zu wissen, wie man sich bewegt, meist überhaupt nicht bewusst sind.)
Die Grafik zeigt jetzt also, wie die einzelnen Gelenke bewegt werden konnten. Auffällig ist, dass Ichthyostega weder in der Hüfte noch in der Schulter sein Bein nennenswert um die Längsachse rotieren konnte. Auch hierzu gibt es übrigens schöne Videos:
Der Grund für diese eingeschränkte Beweglichkeit ist die Form des Gelenks – bei uns sind Hüft- und Schultergelenk ja echte Kugelgelenke mit kugelförmigen Gelenkköpfen. Bei Ichthyostega sind die Gelenkköpfe dagegen eher länglich und können deshalb nicht einfach gedreht werden.
Und was bedeutet dieser eingeschränkte Bewegungsbereich? Im Hinterbein zeigt sich – durch die leicht schräge Lage des Gelenks – dass Ichthyostega den hinteren Fuß nicht flach auf den Boden aufsetzen konnte, so dass die Zehen halbwegs nach vorn zeigten. Damit ließ sich dann der Körper auch nicht vom Boden wegdrücken. Zum Laufen dürften die Hinterbeine sich also eher nicht geeignet haben. Vermutlich wurden sie eher beim Schwimmen verwendet und waren zum eigentlichen Laufen weitgehend nutzlos wie bei den heutigen Hundsrobben.
Auch die Schulter hat – verglichen mit den heutigen Tieren – einen eingeschränkten Bewegungsbereich, gerade in der Rotation. Auch hier ist wieder die längliche Form des Gelenks verantwortlich. Das dürfte die Möglichkeiten zum Laufen ebenfalls eingeschränkt haben. Entsprechend ist nicht anzunehmen, dass Ichthyostega wie ein heutiges Krokodil oder ein Salamander laufen konnte, indem die Vorderbeine abwechselnd nach Vorn gesetzt wurden. Vermutlich war die Fortbewegung eher wie beim heutigen Schlammspringer, der sich mit seinen Vorderbeinen einen wenig wie auf Krücken vorwärtsschiebt:
Insgesamt zeigt sich also, dass Ichthyostega eine andere Lauftechnik verwendete, als wir es von den ersten Landtieren erwarten würden. Heißt das nun, dass die ersten Landtiere sich anders bewegten?
Nein, das heißt es vermutlich nicht. Denn man kennt aus der Zeit des mittleren Devon Fußspuren, die deutlich zeigen, dass sich hier ein Tier in der typischen Vierfüßerart fortbewegt hat:
(“Tetrapod trackways from the early Middle Devonian period of Poland”, Niedźwiedzki et al., Nature, 2006)
Diese Spuren können nach der neuen Analyse nicht von einem Ichthyostega-artigen Tier stammen. Es steht also zu vermuten, dass es damals noch weitere Tiere gab, die wir aus heutiger Sicht als Übergangsform zwischen Fischen und Vierfüßern einstufen würden. Ähnlich wie bei der Evolution der Vögel aus den Dinosauriern zeigt sich, dass der Übergang nicht geradlinig verlaufen ist, sondern es viele Zwischenformen gab, die alle ihre eigenen Anpassungen hatten. Die Evolution ist eben kein linearer Prozess, sondern ein kompliziertes Gemenge aus Schritten in unterschiedlichen Richtungen – und nur aus großem Abstand und wenn man nicht zu genau hinsieht glaubt man, einen klaren Trend zum “Fortschritt” zu erkennen.
Pierce, S., Clack, J., & Hutchinson, J. (2012). Three-dimensional limb joint mobility in the early tetrapod Ichthyostega Nature DOI: 10.1038/nature11124
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