Die Chancen stehen ja sehr gut, dass das gerade am CERN gefundene Teilchen tatsächlich das berühmte Higgs-Boson ist. Aber die Kommentare hier auf den Scienceblogs zeigen, dass vielen nicht so ganz klar ist, was das Higgs-Boson eigentlich genau ist und wie es anderen Teilchen “Masse verleiht”. Sehr detailliert habe ich das beim letzten Higgs-Boom im Dezember erklärt, aber ich gebe zu, dass der zweiteilige Text dort ein bisschen Arbeit braucht, um ihn zu verstehen.
Hier erst mal die Super-Ultrakurz-Fassung, sozusagen die “Partyversion” (so würden Physiker es auf Parties erklären, wenn man Physiker zu Parties einladen würde…):
Eigentlich sind alle Materieteilchen masselos. Dass es für uns so aussieht, als ob sie doch Masse besitzen (und deswegen nicht mit Lichtgeschwindigkeit fliegen) liegt daran, dass sie gebremst werden. Das ist ganz ähnlich zu Licht: Fliegt Licht durch Glas, wird es auch gebremst, die Lichtgeschwindigkeit im Glas ist kleiner. (Das ist verantwortlich für die Lichtbrechung.)
Nachtrag: Dank kluger Kommentatoren habe ich gemerkt, dass das hier missverständlich ausgedrückt ist. “Bremsen” ist hier so gemeint, dass ich beim Beschleunigen eines Teilchens für eine bestimmte Energiemenge weniger Geschwindigkeit herausbekomme. Deswegen streiche ich die Analogie zum Licht lieber, die ist vielleicht irreführender als ich dachte. “Bremsen” ist also eher so zu verstehen, wie man auch sagt, dass Reibung das
Auto “bremst”, auch wenn man gerade aufs Gaspedal drückt (ohne Reibung
würde man stärker beschleunigen können).
Das “Medium”, das die Materie bremst, ist allerdings nicht Glas, sondern das sogenannte Higgsfeld. Weil es überall im Universum ist, merken wir davon nichts – genauso wie man von der umgebenden Luft nichts merkt, wenn es windstill ist. Um trotzdem nachzuweisen, dass es dieses Higgsfeld gibt, muss man das Feld an einer Stelle sozusagen “verdichten” – so wie man in der Luft Wellen machen kann, die man als Wind spürt oder als Geräusch hören kann. Diese “Verdichtung” des Higgsfeldes ist das Higgsteilchen.
Wenn es wirklich nachgewiesen wurde, dann ist das auch ein Beleg dafür, dass es das Higgsfeld gibt (das wir ja direkt nicht bemerken, weil es eben überall ist) und dass die merkwürdige Idee, dass Materieteilchen eigentlich masselos sind, richtig ist. Wenn es dagegen nicht existiert, dann sind unsere physikalischen Theorien falsch und wir müssen uns etwas neues einfallen lassen.
So, das war die Kurz-Kurz-Fassung. Und jetzt die Kurzfassung (Die Langfassung wie gesagt hier):
Dass alle Materie aus Elementarteilchen besteht, hat sich ja inzwischen rumgesprochen. Für uns im Alltag relevant sind zunächst mal die Protonen und Neutronen, aus denen die Atomkerne bestehen, und die Elektronen, die die Atomkerne umkreisen und mit ihnen zusammen ganze Atome bilden.
Protonen und Neutronen sind allerdings gar nicht wirklich elementar, sondern aus kleineren Teilchen zusammengesetzt, den Quarks.
Zwischen diesen Elementarteilchen wirken Kräfte. Elektronen und Protonen sind elektrisch geladen und ziehen sich gegenseitig an. Das funktioniert dadurch, dass sie miteinander Teilchen austauschen, sie werfen sich sozusagen ständig Bälle zu. (Dass dieses Bälle-Zuwerfen in einer Anziehung resultieren kann und nicht in einer Abstoßung, wie man anschaulich erwarten könnte, ist ziemlich knifflig zu erklären – für heute bitte ich euch einfach mal, mir das zu glauben.) Diese “Bälle” sind auch Elementarteilchen, nämlich Photonen. Photonen kennt man aus dem Alltag auch, denn es sind die Teilchen, aus denen Licht besteht.
Es gibt aber noch zwei andere Wechselwirkungen zwischen den Elementarteilchen (die Gravitation lasse ich außen vor, weil wir zur Zeit nicht wissen, wie die auf Elementarteilchenebene funktioniert). Eine ist die starke Kernkraft, die die Quarks zu zusammenhält, dass sich eben Protonen und Neutronen bilden können. Sie ist so stark, dass man ein Proton oder Neutron nicht in seine Bestandteile zerreißen kann – wenn man es versucht, dann entstehen aus der dazu benötigten Energie jede Menge neue Teilchen. Die Teilchen, die die starke Kernkraft vermitteln, heißen “Gluonen” – sie sind zwar sehr interessant, haben aber mit dem Higgsteilchen wenig zu tun.
Und dann gibt es noch die schwache Kernkraft. Sie kann Teilchen ineinander umwandeln, beispielsweise eine Quarksorte in eine andere – dabei wird dann aus einem Neutron ein Proton (das passiert beim radioaktiven Zerfall) oder aus einem Elektron wird ein Neutrino. (Die berühmten Neutrinos, die man auch “Geisterteilchen” nennt (anders als “Gottesteilchen” ein sehr treffender Name, weil sie feste Materie fast ohne Wechselwirkung durchdringen können), habe ich bisher nicht erwähnt, sie sind auch für das Higgsteilchen nicht soo wichtig.)
Die schwache Kernkraft wird auch durch Teilchen vermittelt. Diese tragen den unglaublich schicken Namen “intermediäre Vektorbosonen” – weil sich das kein Mensch merken kann, nennt man sie meist einfach “Vektorbosonen” oder man bezeichnet sie mit ihren Kürzeln W und Z. Das Z-Teilchen ist elektrisch neutral, vom W-Teilchen gibt es zwei, ein positiv und ein negativ geladenes. Während die Gluonen genau wie Photonen keine Masse haben und deshalb immer mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind, sind W- und Z-Teilchen sehr massiv.
So, damit kennt ihr – bis auf das Higgsteilchen – die wichtigen Akteure im Standardmodell, dem Modell der Elementarteilchen. Das Standardmodell hat allerdings einen kleinen Haken: Schaut man sich an, wie Teilchen (also beispielsweise Quarks oder Elektronen) mit den Vektorbosonen W und Z wechselwirken, dann stellt man etwas Überraschendes fest: Die Physik ist nicht spiegelsymmetrisch. Betrachtet man das Spiegelbild eines bestimmten Prozesses, dann kann dieser nicht stattfinden. Man nennt das die “Paritätsverletzung” (das Wort könnt ihr gleich wieder vergessen es steht hier nur, falls ihr mehr dazu ergoogeln wollt). Das hat man zunächst experimentell entdeckt und dann versucht, es in die Theorie einzubauen.
Und wenn man eine Elementarteilchentheorie für die schwache Wechselwirkung mit “Paritätsverletzung” aufschreiben will, dann merkt man sehr schnell, dass das nicht geht, solange die Elementarteilchen wie Elektronen und Quarks eine Masse haben – in dem Fall kommt man immer zwangsläufig auf Inkonsistenzen und mathematischen Unsinn.
Es gibt also zwei Möglichkeiten: Unsere Theorien sind falsch oder Elementarteilchen wie Elektronen sind “in Wahrheit” masselos. Da wir beobachten, dass Elektronen eine Masse haben, müssen wir diese Beobachtung irgendwie erklären, wenn wir unsere Theorie retten wollen.
Und hier kommt ein raffinierter Trick der Quantentheorie zum Tragen: Ein Teilchen mit Masse kann man auch beschreiben als ein Teilchen ohne Masse, das überall im Raum mit einem anderen Teilchen wechselwirken kann. Dieses Bild hier soll das ein bisschen veranschaulichen:
Links seht ihr ein Elektron mit Masse, das durch die Gegend fliegt. Diese Bewegung kann man auch beschreiben als die eines Elektrons ohne Masse, das an verschiedenen Stellen seines Weges mit den grün eingezeichneten Teilchen wechselwirkt. (Das da mehrere Möglichkeiten mit Pluszeichen dazwischen eingezeichnet sind, ist der Quantenmechanik zu verdanken – man muss immer alle Möglichkeiten betrachten, wie etwas passieren kann.)
Beim Licht ist es ganz ähnlich, wenn es sich durch Glas ausbreitet: Zwischen den Atomen ist ja leerer Raum, da fliegt das Licht mit der normalen Vakuumlichtgeschwindigkeit, aber die Wechselwirkung mit den Elektronen der Atome bremst es insgesamt ab, so dass es langsamer läuft. (Das ist jetzt auch ein bisschen vereinfacht, aber als Analogie ganz brauchbar.)
Also muss es überall im Universum andere Teilchen geben. Man bastelt sich jetzt also eine Theorie, die dafür sorgt, dass das ganze Universum mit lauter “Teilchen” angefüllt ist – korrekterweise spricht man besser von einem “Feld”, weil das Wort “Teilchen” immer etwas impliziert, das man an einem Ort lokalisieren kann, aber das geht hier ja nicht. Das ist ein bisschen wie der Äther des 19 Jahrhunderts, der auch alles durchziehen sollte (damit sich Licht in ihm ausbreiten konnte). Weil dieses Feld eben wirklich überall ist, merken wir davon nichts.
Normalerweise ist es bei Elementarteilchentheorien so, dass im Vakuum (also im Zustand mit niedrigster Energie) keine Teilchen vorhanden sind (mal abgesehen von den berühmten “Vakuumfluktuationen” – Achtung, der Link zeigt mitten in eine lange Artikelserie…). Mit spezieller mathematischer Trickserei bekommt man es aber hin, dass man ein Higgsfeld aus der Theorie bekommt, das überall im Universum gleich und nicht Null ist.Mit diesem Higgsfeld können dann alle Elementarteilchen, die eine Masse haben, wechselwirken und so ihre Masse bekommen. Die Masse ist dann ein Maß dafür, wie stark die Wechselwirkung ist.
Das klingt zunächst mal wie Trickserei: wir definieren uns ein Feld, das überall ist und das man deshalb nicht detektieren kann. Diese Trickserei macht dann aber auch eine klare und konkrete Vorhersage: Es müsste möglich sein, Störungen im Higgsfeld zu verursachen, indem man dem Higgsfeld genügend Energie zuführt. Diese Störung würde sich dann als echtes Teilchen bemerkbar machen, das man lokalisieren kann – und genau das ist das Higgsteilchen.
Wenn man also das Higgsteilchen findet, dann zeigt das, dass es auch das Higgsfeld gibt. Die Theorie sagt auch genau voraus, was mit dem so erzeugten Higgsteilchen passieren sollte – es müsste sehr schnell zerfallen, und zwar in ganz charakteristischer Weise.
Deswegen ballert man am CERN Teilchen gegeneinander, um hinreichend viel Energie zu erzeugen, dass dabei Higgsteilchen entstehen können, und sucht nach deren Zerfallsprodukten. Weil bei solchen Kollisionen unglaublich viele andere Dinge passieren können, ist es sehr schwierig, aus all den vielen Teilchen, die sich bilden, genau die herauszufiltern, die von Higgsteilchen stammen könnten. Deswegen muss man sehr viele Kollisionen angucken und sehr viel Statistik betreiben, bis man sich sicher sein kann, dass man das Higgsteilchen gefunden hat. Florian hat das mal sehr schön erklärt.
Noch ist das nicht sicher – man hat zwar ein Teilchen gefunden, dessen Eigenschaften zum Higgsteilchen passen, aber man hat noch nicht alle Details der Kollisionen ausgewertet. Es könnte sein, dass sich herausstellt, dass das neue Teilchen gar nicht das Higgsteilchen ist, sondern etwas anderes und unerwartetes.
Wenn es aber das Higgsteilchen ist (und das werden wir in ein paar Monaten wohl wissen), dann wäre das ein Triumph der Physik: Die verrückte Idee, dass alle Materieteilchen eigentlich masselos sind, wäre damit bestätigt. Und deswegen sind alle Physiker so hinter dem Higgsteilchen her.
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