Über die Beschneidung ist ja bereits viel diskutiert worden. Hier möchte ich nicht die ganze Debatte noch einmal aufwärmen, sondern zwei Texte betrachten, die ich letzte Woche gelesen habe.
Vorneweg: Ich denke, sowohl Befürworter als auch Gegner sollten sich einig sein, dass die Frage, ob Eltern ihre Söhne beschneiden lassen dürfen, eine Abwägung verschiedener Rechtsgüter erfordert – das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes muss gegen das Recht auf Erziehung und Religionsfreiheit der Eltern abgewogen werden. Um das tun zu können, wäre es sicher gut, wenn die religiösen Befürworter Außenstehenden klar machen könnten, warum die Beschneidung für sie so wichtig ist.
(Keine Sorge, ich werde hier nicht versuchen, diese Abwägung juristisch durchzuführen, dazu ist man als Physiker wohl eher nicht kompetent… Einige Meinungen findet ihr in diesem ZEIT-Artikel.)
Für jemanden, der nicht religiös ist, sind religiöse Rituale wie andere Traditionen auch (auch die meisten Atheisten haben ja Rituale, beispielsweise bei Festen oder auch im Alltag): Sie geben dem Leben in bestimmten Situationen Struktur, schaffen ein Gefühl von Geborgenheit und Zugehörigkeit und sind sicherlich oft wertvoll – aber hoffentlich nicht so wertvoll, dass man bereit wäre, jemanden für seine Rituale leiden zu lassen. Es wäre also hilfreich, zu verstehen, warum religiöse Rituale mehr sind als das, warum jemand glaubt, dass ein allmächtiger Gott darauf beharrt, dass bestimmte Dinge getan werden, die letztlich ja keinen Nutzen haben (oder zu haben scheinen), und nicht zuletzt, warum einige der Rituale und Regeln, die in heiligen Schriften stehen, heute nicht mehr befolgt werden, andere aber schon.
Glücklicherweise (?) gab es letzte Woche in der ZEIT und in der Beilage “Chrismon -das evangelische Magazin” jeweils einen Artikel zur Beschneidung. Vielleicht darf man ja hoffen, hier zu erfahren, warum ein Ritual so eine große Bedeutung hat?
Schauen wir zunächst mal auf den Artikel im Chrismon. Hier schreibt Dr. Johannes Friedrich, Landesbischof A.D.. Seinen Artikel beginnt er so:
Wer wusste bei uns bis vor kurzem etwas über das Thema Beschneidung?…Und wer meinte, dass dies eine Körperverletzung sein könnte? Ich bin sicher: Es waren nicht viele.
Hmm, ein merkwürdiger Einstieg – warum regt ihr euch auf, habt ihr bisher ja auch nicht getan?
Das hat mit der Problematik natürlich gar nichts zu tun – wenn die Beschneidung heute ein Unrecht ist, dann war sie es auch letzte Woche oder letztes Jahr; schlimm genug, dass man sich nicht darüber aufgeregt hat. Ähnlich könnte jeder argumentieren, der ein bestehendes Unrecht verteidigen will: “Das war schon immer so.”
Zu den Konsequenzen eines Verbots lesen wir dann:
Damit wäre Deutschland, ausgerechnet Deutschland, nach meinen Recherchen das einzige Land in der Welt, in dem Juden ihrer religiösen Pflicht nicht nachkommen dürften.
Als erstes möchte ich gleich das vielzitierte Argument “Ausgerechnet Deutschland” angehen (zur Pflicht kommen wir später). Ja, Deutschland hat in der Vergangenheit den Juden Schreckliches angetan, das steht hoffentlich außer Frage und braucht nicht diskutiert zu werden. Und so etwas darf sich niemals wiederholen, auch darüber sind wir uns hoffentlich alle einig – es wird ja auch immer wieder beschworen.
Damit sich aber so etwas nie wiederholt, hat Deutschland sich ein Grundgesetz gegeben, das die Menschenrechte besonders stark schützt. Und dieses Grundgesetz enthält keine besondere Erwähnung der Juden – weil nämlich “so etwas” genau so gut beim nächsten Mal einer anderen Minderheit geschehen könnte. (Damals waren es die Juden.) Die Lehre, die das Grundgesetz aus dem Holocaust zieht, ist eben nicht “Juden brauchen besonderen Schutz”, sondern “alle Minderheiten brauchen besonderen Schutz”. Wenn eines Tages ein beschnittener Mann uns fragen sollte “Wie konntet Ihr das zulassen?” – sollen wir dann antworten “Wir konnten das Unrecht nicht abwenden, weil es von Juden begangen wurde”?
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