Wenn die Beschneidung ein Unrecht ist, dann ist sie es, und dann muss dagegen vorgegangen werden. Ob sie ein Unrecht ist, muss geklärt werden, aber wir können die Klärung nicht schon mit dem Argument “Aber es trifft doch Juden” als verboten erklären. (Ich bin mal gespannt, ob ich mir jetzt in den Kommentaren Antisemitismus vorwerfen lassen muss…)
Schauen wir also lieber, wie es argumentativ weiter geht. Wir erfahren, dass die Beschneidung in den USA “aus medizinischen Gründen” an 56% der Neugeborenen durchgeführt wird (wobei nicht darüber nachgedacht wird, wie viel hier Tradition und wie viel echte medzinische Evidenz beitragen) und von der WHO zur AIDS-Prävention empfohlen wird (dass das nur in Hoch-Risikogebieten gilt und natürlich letztlich Erwachsene betrifft, wird verschwiegen). Gut, die medizinische Seite wurde anderswo bis zum Abwinken diskutiert – sie spielt aber eigentlich für das Argument keine Rolle, denn hier geht es um ein religiöses Ritual. Wenn sich herausstellt, dass die medizinischen Gründe nicht haltbar sind, wäre Herr Friedrich dann gegen die Beschneidung? Wohl kaum. Religiöse Gründe sollten entscheidend sein. Die würde man schon gern besser verstehen, oder?
Oben wurde ja bereits das Wort “Pflicht” genannt. Dazu lesen wir
Es ist die erste Pflicht, die ein Vater gegenüber seinem Sohn hat, danach folgen die Pflichten, ihn die Thora zu lehren, ihm eine Frau zu geben und ihn ein Handwerk lernen zu lassen.
Wirklich? Auch heute noch suchen Väter für ihre Söhne die Frauen aus und “lassen sie ein Handwerk” lernen? Was ist mit einem Sohn, der nicht heiraten will (oder der homosexuell ist)? Was passiert, wenn der Sohn seinen Schulabschluss nicht schafft und keine Ausbildung macht? Ist er (oder der Vater) dann kein Jude mehr? Oder hat sich an der Interpretation dieser Pflichten des Vaters in den letzten 3000 Jahren vielleicht doch ein bisschen etwas verändert? Wenn ja, warum sollte dann das Beschneidungs-Ritual nicht veränderbar sein? Gerade da, wo der Erklärungsbedarf beginnt, endet die Erklärung – stattdessen kommt noch mal das “ausgerechnet Deutschland”-Argument, aber das hatten wir ja schon.
Konkreter Anlass der Debatte ist ja das Kölner Gerichtsurteil. Und dazu geht es auch weiter:
Die Urteilsbegründung des Kölner Landgerichts leuchtet mir nicht ein. Sie geht nur von der körperlichen Unversehrtheit aus, die nicht angetastet werden dürfe. Aber was ist mit der seelischen Unversehrtheit?
Nun, naiv würde ich annehmen, zur seelischen Unversehrtheit gehört das Recht, dass einem nicht grundlos Schmerzen zugefügt werden. Aber hier geht es natürlich um etwas anderes:
Ich meine damit die gesetzlich erzwungene Versagung eines Lebensrituals. Ich meine damit, dass einem jüdischen Sohn eine für seine religiöse Identität wichtige Tradition vorenthalten wird. Was bedeutet es für seine seelische Unversehrtheit, wenn er feststellen muss, dass sein Vater einer zentralen religiösen Pflicht nicht nachgekommen ist und ihn dadurch seiner religiösen Heimat beraubt?
Ob ein Jude tatsächlich seiner religiösen Heimat beraubt wird, wenn er nicht beschnitten ist, ist ja gerade zu diskutieren und zu erklären. (Was passiert eigentlich, wenn z.B. ein Frühchen auf die Welt kommt? Wird das dann unter Lebensgefahr am 8. Tag beschnitten?) Angesichts der vielen religiösen Regeln, die wir in der Thora lesen und die heute missachtet werden, müsste eben schon erklärt werden, was an dieser Regel so besonders ist. Aber viel schwerer wiegt hier etwas anderes: Die implizite Annahme, dass Kinder der Religion ihrer Eltern angehören und angehören wollen. Was ist, wenn der Sohn sich eines Tages entscheidet, einer anderen Religion angehören zu wollen? Dann muss er den Rest seines Lebens mit einem Zeichen einer für ihn falschen Religionszugehörigkeit leben.
Es ist (das sehen einige auf den Scienceblogs wohl anders) meiner Ansicht nach das Recht der Eltern, ihre Kinder im Sinne ihrer Religion zu erziehen. Sie haben aber nicht das Recht, ihnen ihre Religion aufzuzwingen (und es gibt ja gute Gründe dafür, warum die Hürden für “homeschooling” in Deutschland wesentlich höher sind als anderswo). Was ist, wenn jemand einer Religion angehört, bei der Kinder in einem Initiationsritual tätowiert werden, erlauben wir das dann plötzlich doch, obwohl Eltern ihre Kinder normalerweise nicht tätowieren lassen dürfen? Oder ist es nicht sinnvoll, davon auszugehen, dass zum Jugendschutz eben generell dazugehört, dass Eltern ihren Kindern keine irreversiblen Zeichen einer Religionszugehörigkeit aufzwingen dürfen? Wer das anders sieht, ist eben in der Begründungspflicht, und der bloße Verweis auf “religiöse Pflicht” reicht hier nicht aus.
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