Dass hier abgewogen werden muss, geben ja selbst die Befürworter der Beschneidung zu, die sich von der Beschneidung (man sollte besser “Verstümmelung” sagen, das klingt nicht so harmlos) von Mädchen distanzieren und einen Vergleich der beiden Praktiken für unzulässig erklären. Die Argumente, die Herr Friedrich hier anführt, könnten aber für jedes religiöse Ritual bis hin zum Menschenopfer der Azteken angeführt werden. Offensichtlich ist hier eine Abwägung notwendig und es gibt einen Punkt, bei dem körperliches Leid schwerer wiegt als religiöse Pflicht. Dass es diesen Punkt gibt, darüber sind sich ja alle Beteiligten einig, die Frage ist eben, wo er liegt. Der Artikel von Herrn Friedrich trägt hierzu leider nichts bei.
Aber gut, als Christ hat Herr Friedrich vielleicht einfach nicht die guten Argumente parat. Schauen wir also, was Herr Gil Bachrach (TV-Produzent und Berater von Medienanstalten), dem man immerhin eine halbe Seite in der auflagenstarken ZEIT zur Verfügung gestellt hat, zum Thema zu sagen hat.
Zunächst einmal startet er mit vielversprechend ruhigem Ton – nein, er sieht kein Aufflammen von Antisemitismus. Dann aber kommt es ziemlich dick. Das erste Drittel seines Artikels besteht im wesentlichen aus Wörtern aus der Propaganda-Schublade: “Säkularfundamentalisten”, “selbst ernannten Retter der Unversehrtheit unserer jüdischen Kinder”,”selbstgefällige, mediengeile Urologen”, “spitzfindigen Argumentationen”, “ausgestattet mit diesem urdeutschen Gerechtigkeitswahn”, “rechthaberische Gutmenschenethik”. Da ist die Bullshit-Bingo-Karte schneller voll, als man “Bingo” rufen kann. Aber gut, man will ja kein spielverderbender “tone troll” sein, also sehen wir über diesen Teil einfach mal hinweg.
Auch hier lesen wir übrigens wieder das Argument “Bis vor wenigen Wochen hat kein Hahn nach der abgeschnittenen jüdischen Vorhaut gekräht.” – ja, “das war schon immer so”. Hatten wir schon, war eben auch schon ein schlechtes Argument.
Aber nachdem der Schaum vorm Mund vielleicht etwas getrocknet ist, können jetzt ja die Argumente kommen, oder?
Um es ganz klarzumachen: Jüdische Eltern lassen ihre Jungen seit vielen Tausend Jahren beschneiden, und sie werden dies auch noch in vielen Tausend Jahren tun. Am achten Tag nach der Geburt, medizinisch bedenkenlos, hygienisch einwandfrei und ohne Risiko für Wohl, Wehe und Lust des Jungen.
Dass die Beschneidung seit Tausenden von Jahren hygienisch einwandfrei sein soll, erscheint schon etwas unglaubwürdig. (Da wird traditionell mit dem Mund gesaugt und mit den extra langen Fingernägeln Gewebe abgeschabt – soll man wirklich glauben, dass das vor 2000 oder selbst 200 Jahren (oder selbst heute) keimfrei zu erledigen sei?) Und so ganz ohne Risiko für das Wohl des Jungen, der ja immerhin Schmerzen empfindet (dazu später mehr) ist sie wohl auch nicht. Man gewinnt aber immerhin den Eindruck, als habe Herr Bachrach zumindest darüber nachgedacht, ob eine Beschneidung sinnvoll ist, oder?
Leider ist dieser Eindruck falsch:
Die dramatische jüdische Geschichte hat jüdische Eltern die Notwendigkeit gelehrt, ihre Kinder zu unabhängigen, gebildeten Freigeistern zu erziehen. Jüdische Kinder sollen auf dem Boden ihrer jüdischen Tradition, verbunden mit ihrer jüdischen Geschichte, über die wichtigen Fragen in ihrem Leben unabhängig und eigenständig entscheiden können. Die Frage nach ihrer Beschneidung gehört nicht dazu.
Jüdische Kinder sind Freigeister, die selbst entscheiden können, außer in den Fragen, wo sie es nicht können? Da Herr Bachrach selbst ja auch mal ein jüdisches Kind war, bezieht sich diese Aussage wohl auch auf ihn – er kann also über die Frage nach der Beschneidung nicht unabhängig und eigenständig nachdenken? Tatsächlich, so ist es:
Die Beschneidung unseres Sohnes stand nie infrage (obwohl wir, wie in allen jüdischen Familien üblich, nichts mehr lieben als das Debattieren)
Ist “ich habe darüber noch nie nachgedacht” jetzt neuerdings ein Argument?
Jüdische Eltern lieben ihre Kinder. Genauso wie nichtjüdische Eltern. Das ist ein Naturgesetz. Deswegen lassen aufgeklärte Gesellschaften die Eltern überall auf der Welt ihre Kinder eigenverantwortlich erziehen.
Niemand hat (hoffentlich) bestritten, dass jüdische Eltern ihre Kinder genauso sehr lieben wie christliche, atheistische oder shintoistische. Dass die Eltern im besten Glauben handeln, steht sicher außer Frage. Aber im besten Glauben hat man vor hundert Jahren auch Kinder “zu ihrem eigenen besten” geschlagen, und selbst diejenigen Mütter, die ihre Töchter beschneiden lassen (was ohne Frage unglaublich viel grausamer ist), lieben ihre Töchter genauso und glauben, zum besten ihrer Kinder zu handeln. Und genau deswegen ziehen aufgeklärte Gesellschaften der Freiheit der Eltern, ihre Kinder eigenverantwortlich zu erziehen, bestimmte Grenzen. Aufgabe einer Argumentation wäre es, aufzuzeigen, warum die Beschneidung von Jungen auf einer Seite dieser Grenze liegt, aber z.B. die Tätowierung von Kindern auf der anderen.
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