Es wird ja oft beklagt, dass Zeitungen Wissenschaftsmeldungen gern verwirrend oder falsch darstellen und bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Falls es Euch tröstet: Dieses Phänomen ist nicht neu. In der Science-Ausgabe vom 16. August 1940 beschreibt der berühmte Paläontologe George Gaylord Simpson, wie eine – eigentlich ziemlich bodenständige – wissenschaftliche Veröffentlichung durch ein journalistisches “Stille-Post”-Spiel bis zur absoluten Unkenntlichkeit verzerrt wurde.
Leider ist der Artikel trotz seines Alters anscheinend nicht frei verfügbar (das Journal science hat ja eh eine merkwürdige Politik – beispielsweise habe ich nicht mal an der Uni Zugriff darauf, weil das für die Uni wesentlich zu teuer wäre (während man sich nature problemlos leisten kann (und deswegen schreibe ich auch selten über “science”-Artikel (Hmmm, ich klammere mal wieder…)))), was besonders deswegen schade ist, weil der Artikel einen trockenen Humor hat, wie man ihn normalerweise in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht findet.
Aber zum Glück habe ich eine Kopie des Artikels in die Finger bekommen und kann euch hier die Highlights dieser netten (oder traurigen) Geschichte präsentieren.
Sie beginnt mit einer wissenschaftlichen Veröffentlichung mit dem Titel “The Fort Union of the Crazy Mountain Field, Montana, and Its Mammalian Faunas”. Darin beschreibt Simpson Fossilien aus dem Paläozän, der Zeit kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier. Es handelt sich vor allem um verschiedene Säugetierarten, darunter urtümliche “Insektenfresser” (eine Ordnung, die heute nicht mehr als evolutionär sinnvoll angesehen wird, in der man aber früher Tiere wie Igel und Spitzmäuse zusammenfasste), urtümliche Raubtiere und ein paar Primaten. Da die Arbeit insgesamt über 300 Seiten hat (jedenfalls in der pdf-Version, die ich hier habe), hat das US National Museum eine Pressemitteilung verfasst, in der die Entdeckungen kurz beschreiben werden. Dabei wurde sehr sorgfältig darauf geachtet, dass diese Mitteilung nicht missverständlich war – insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass die entdeckten Primaten keine direkten Vorfahren des Menschen sind.
Zunächst veröffentlichten einige Zeitschriften die Pressemitteilung nahezu unverändert. Lediglich ein Fehler schlich sich ein – das Alter der Formation wurde mit 70 Millionen Jahren angegeben. (Nach heutigem Maßstab ist das um etwa 10 Millionen Jahre zu viel, aber wenn ich es richtig sehe, waren damals die geologischen Zeitalter noch nicht so präzise bestimmt wie heute, und 70 Millionen Jahre dürfte nach damaligem Kenntnisstand irgendwo tief in der Kreidezeit sein. Nachtrag: Nein ich sah es anscheinend nicht richtig: Laut Kommentator UMa war 70 Millionen Jahre damals die absolute Obergrenze für das Paläozän, das Zeitalter, aus dem die Fossilien stammen. Die Formation selbst ist aber jünger als 70 Millionen Jahre.) Dieser kleine Fehler erwies sich leider, wie wir sehen werden, als unausrottbar.
Auch bei diesen Veröffentlichungen gab es ein bisschen Sensationalismus, insbesondere in dem Titel eines der Artikel: “Montana’s Crazy Mountains Listed as Cradle of Animal Life to Which Man Belongs” (etwa “Montanas Crazy Mountains als Wiege des Tierlebens zu dem der Mensch gehört identifiziert”) – Simpson schreibt dazu: “which escapes falsity largely by being nonsensical” (“was vor allem deswegen nicht falsch ist, weil es unsinnig ist”).
Auch die New York Times veröffentlichte die Geschichte in einem ebenfalls gut geschriebenen und wenige Fehler enthaltenden Artikel, der allerdings (obwohl im Artikel steht, dass die entdeckten Primaten keine Menschenvorfahren waren) den Titel bekam “Man ‘Traced’ back 70 Million Years” (“Der Mensch 70 Millionen Jahre zurückverfolgt”). Auch hier im Titel die 70 Millionen Jahre (im Text des NYT-Artikels steht die richtige (von Simpson leider nicht genannte, s.o.) Zahl). Schon seltsam, wenn der Titel und der Text eines Artikels sich widersprechen, oder? In der “Washington Star” wurden aus den 70 Millionen Jahren sogar 70-80 Millionen Jahre – warum, bleibt ein Geheimnis.
Die Pressemitteilung wurde auch von der Associated Press gelesen und dann weitgehend umgeschrieben. Der erste Satz wird von Simpson genüsslich (oder leidend?) zitiert:
Man, instead of having descended from the monkey, probably ascended from a four-inch long, tree-dwelling animal which was the ancient granddaddy of all mammals on earth to-day.
[Der Mensch stammt nicht etwa vom Affen ab, sondern vermutlich von einem 4-inch langen Baumbewohner, der der Opa aller heutigen Säugetiere war.]
Hmm, nun ja. Zum einen ist natürlich der gefundene Baumbewohner nicht der Urvater aller Säugetiere (auch nicht aller heutigen), denn es gab ja in der Fort-Union-Formation schon diverse andere Säugetiere, die zu heutigen Gruppen gehörten. Zum anderen würde natürlich ein kleiner, baumbewohnender Ur-Vorfahr der Säugetiere nicht ausschließen, dass der Mensch trotzdem vom Affen abstammt – genauso wenig wie die Tatsache, dass einer meiner Ur-Ur-Ur-Ahnen vermutlich ein Homo erectus war, ausschließt, dass ich von meinem Großvater abstamme.
Die Associated Press suggeriert in dem Artikel dann weiter, dass die von Simpson entdeckten Fossilien zeigen, dass der Mensch in Amerika entstand.
Die Mitteilung der AP sorgte dann für eine Reihe neuer Artikel mit Titeln, die eigentlich nichts mehr mit der Forschung von Simpson zu tun haben:
Monkey Father of Man? Nope, a Mouse [Der Affe als Vater des Menschen? Nein, eine Maus]
4-inch Fossil Seen as Daddy of All Mammal [4-inch Fossil als Papa aller Säugetiere]
Study of Mammals Brings about New Evolution Theory [Untersuchung von Säugetieren führt zu neuer Evolutionstheorie]
Die Nachrichtenagentur United Press verbreitete ebenfalls eine Fassung der ursprünglichen Pressemitteilung. Auch darin wurde wieder von “Mäusen” gesprochen – das Mäusethema rührt dabei nur daher, dass in der ursprünglichen Mitteilung gesagt wurde, dass einige dieser Tiere etwa so groß wie Ratten oder Mäuse waren; mit Nagetieren haben die Fossilien nichts zu tun. Auch die 70 Millionen Jahre tauchten wieder auf. Ansonsten konstatiert Simpson lakonisch
The story is well written, reasonably accurate, and interesting, so that it would be ungrateful to insist too much on the fact that it has very little to do with the particular research to which it refers.
[Die Geschichte ist gut geschrieben, einigermaßen korrekt und interessant, so dass es undankbar wäre, zu sehr darauf hinzuweisen, dass sie sehr wenig mit der Forschung zu tun hat, auf die sie sich bezieht.]
Einige Zeitschriften schrieben auch ganz eigene Artikel, die vermutlich lose auf der Meldung der AP beruhten. Diese Artikel enthalten im wesentlichen nur noch Unsinn – in zweien davon entdeckt Simpson das “Missing Link” (das vielzitierte Bindeglied zwischen Mensch und Affe), in einem erklärt Simpson, dass eine “kleine Ratte” der Vorfahr des Menschen ist, während er (also Simpson) “im Stammbaum des Menschen herumklettert”.
Ein paar Monate später wurde die Geschichte noch einmal hochgekocht, nämlich in einem Artikel über eine Hundeshow, in dem Simpsons Forschung herangezogen wurde, um zu erklären, dass vor 70 Millionen Jahren (diese Zahl ist anscheinend nicht auszurotten) Hunde groß wie Kodiakbären in Montana herumliefen. (Woher diese Idee stammt ist nicht nachzuvollziehen, soweit ich es sehe, gab es damals keine so großen Raubtiere, und Hunde schon gar nicht, auch wenn einige der damaligen Tiere eine entfernte Ähnlichkeit mit Hunden hatte.) Die nächste Hundeshow wollte dann natürlich nicht zurückstehen und erfand gleich 60 Arten solcher Hunde, die Simpson angeblich entdeckt hatte.
Natürlich erhielt Simpson auch viele Briefe zu den Zeitungsartikeln. Diese beziehen sich natürlich in der einen oder anderen Weise auf den fort verbreiteten Unsinn, aber Simpson verzweifelt nicht:
This is hopeful, because-it suggests that even the truth might have interested them had the press seen fit to make it available.
[Das weckt Hoffnung, denn es lässt vermuten, dass sogar die Wahrheit diese Personen interessiert hätte, wenn die Presse sie verbreitet hätte.]
Insgesamt waren nur etwa 10 der 100 von Simpson gelesenen Zeitungsartikel halbwegs korrekt und enthielten keine groben Fehler.
[T]his is a serious matter despite its humorous side. It is fairly typical of what still happens to scientific news, and it has a moral, in fact several of them, that will be obvious to the reader.
[Trotz der amüsanten Seite ist dies eine ernste Angelegenheit. Es ist ziemlich typisch für das, was mit wissenschaftlichen Nachrichten geschieht und es hat eine Moral, tatsächlich sogar mehrere, die für den Leser offensichtlich sein dürften.]
Dem ist eigentlich wenig hinzuzufügen.
G.G. Simpson, THE CASE HISTORY OF A SCIENTIFIC NEWS STORY, Science, VOL. 92, No. 2381, pp. 148-150
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