Weil unser Sudoku nun ein physikalisches System geworden ist, so richtig mit Energie und allem, kann man auch seine Eigenschaften angucken. Beispielsweise kann man (im Computer) messen, wie viel Energie das Sudoku schluckt, wenn man die Temperatur erhöht. Das nennt man die Wärmekapazität – genau wie bei normalen Materialien, bei denen man auch Energie reinstecken muss, um die Temperatur zu erhöhen (bei Wasser zum Beispiel eine Kalorie, um ein Gramm um ein Grad zu erwärmen). (Wobei die “Energie” beim Sudoku ja die Zahl der Fehler ist – man guckt sich also an, wie sich die Zahl der Fehler mit der Temperatur ändert und verrechnet das dann zur Wärmekapazität.) Die Wärmekapazität des Sudokus sieht (für unterschiedliche Fälle, also unterschiedliche Hinweiszahlen) so aus:

Aus Williams and Ackland, s.u.

Bei niedrigen Temperaturen ist sie klein, dann steigt sie auf einen Maximalwert an, um dann wieder abzufallen. Die unterschiedlichen Kurven stehen dabei für unterschiedliche Sudokus (also unterschiedliche festgehaltene Hinweisfelder). Tendenziell zeigt sich, dass das Maximum weiter links liegt (also bei niedrigeren Temperaturen), wenn das Sudoku wenige ausgefüllte Hinweisfelder hat (die Zahl in Klammern), und weiter rechts bei vielen ausgefüllten Hinweisfeldern. Das zeigt dieses Bild noch einmal genauer:

Aus Williams and Ackland, s.u.

Wobei hier die kritische Temperatur (also die des Maximums) gegen die Zahl der Hinweise aufgetragen ist. (Die beiden Datenpunktreihen unterscheiden sich darin, dass bei der einen die Lösung eindeutig ist, bei der anderen nicht. Sudokus mit eindeutiger Lösung müssen mindestens 17 Hinweise enthalten.)

Was lernt man nun aus einer solchen Kurve?  PhysikerInnen können über das obere Diagramm der Wärmekapazität in Entzücken geraten – es deutet nämlich auf einen Phasenübergang hin. Phasenübergänge kennt ihr alle aus dem Alltag (wenn auch vielleicht nicht unter diesem Namen): Wasser gibt es zum Beispiel in einer flüssigen und einer festen Phase, und wenn man es abkühlt, dann gefriert es irgendwann – das ist genau ein Phasenübergang. Wenn die Kurve der Wärmekapazität einen Knick oder Sprung hat, dann kann man ziemlich sicher sein, dass man es mit einem Phasenübergang zu tun hat. (Anmerkung für die ExpertInnen: Das Maximum ist hier nicht scharf, weil unser Sudoku ja nur eine endliche und ziemlich kleine Größe hat.)

In unserem Sudoku ist die Hochtemperaturphase eine, bei der vergleichsweise viele Fehler im Sudoku sind, so dass die Energie hoch ist. Die Niedrigtemperaturphase (eigentlich sind es zwei, dazu später mehr) ist dagegen eine, bei der die meisten Felder korrekt ausgefüllt sind, es aber an einigen Stellen nicht stimmt. Sudokus (insbesondere schwierige) haben oft scheinbar sehr viele Möglichkeiten, die Felder auszufüllen, und es gibt nur wenige Stellen im Sudoku, an denen es am Ende zu einem Fehler kommt. So eine “Fast-Lösung” kann aber trotzdem ganz anders aussehen als die richtige Lösung – genau das macht Sudokus ja so knifflig (wie wir noch sehen werden, kann man das sogar quantifizieren).

Eine “Fast-Lösung” hat – weil ja die meisten Felder passen – eine niedrige Energie. Um von diesem Zustand mit niedriger Energie zur korrekten Lösung zu kommen, muss man aber sehr viele Felder ändern – tut man dies Schritt für Schritt, wie der hier verwendete Simulationsalgorithmus, so führt der Weg von einem Zustand niedriger Energie zu einem anderen über lauter Zustände mit hoher Energie, die bei niedrigen Temperaturen sehr unwahrscheinlich sind. Das System ist dann in der “Fast-Lösung” gefangen. Weil die Energie hier besonders niedrig ist (wenn auch nicht Null) spricht man auch von einem “lokalen Minimum”.

So etwas gibt es auch in anderen Systemen mit einem Phasenübergang. Eisen beispielsweise wird bei niedrigen Temperaturen (unterhalb 768°C) magnetisch – in der Schule habt ihr vermutlich gelernt, dass es da “Elementarmagnete” gibt (was auch als Modell ganz brauchbar ist). Energetisch am günstigsten wäre es, wenn alle Elementarmagnete überall in dieselbe Richtung zeigen werden, aber beim Abkühlen passiert das normalerweise nicht, weil unterschiedliche Bereiche im Eisen unterschiedliche Ausrichtungen haben. Unser Sudoku benimmt sich also tatsächlich wie ein physikalisches System.

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Kommentare (10)

  1. #1 wereatheist
    24. Oktober 2012

    Beispielsweise unser Sudoku: Wir können uns vorstellen, dass jedes der 81 Felder einen der 9 möglichen Werte annehmen kann (die meisten Kombinationen geben aber natürlich kein korrekt gelöstes Sudoku, sondern Unsinn). Damit haben wir dann 81 hoch 9 mögliche Zustände, also immerhin etwa 150 Billiarden (1,5e17).

    Sorry, in diesem Fall gibt es 9^81 mögliche Zustände.

  2. #2 roel
    *****
    24. Oktober 2012

    @MartinB Wahnsinn, ich bin begeistert. Wofür doch Sudokus alles gut sind. Habe es aber erst einmal gelesen. Im Regelfall brauche ich deutlich öfter. Für das zweite Mal ist heute noch Zeit, aber dann ist für heute “wirklich Schluss”.

    Vielen Dank für das pdf.

  3. #3 MartinB
    25. Oktober 2012

    @wereatheist
    Autsch, wie konnte das passieren?
    Danke, hab’s korrigiert..

  4. #4 wereatheist
    partyzone friedrichshain
    25. Oktober 2012

    Shit happens, oder so 🙂
    Irgendwie hat mich das an Modelle für Ferromagnetismus erinnert (Ising-Modell). Lang ist´s her

  5. #5 MartinB
    25. Oktober 2012

    @wereatheist
    Ja, im paper wird auch explizit von Potts-Modellen (Ising-Modell mit mehreren Spin-Werten) gesprochen.
    Gibt im Netz auch einige nette Ising-Applets, z.B. bei javalab
    https://www.pha.jhu.edu/~javalab/ising/ising.html

  6. #6 Quacki
    26. Oktober 2012

    Es ist auch ohne weiteres möglich, ein Sudoku auf ein System mit Ising-Modell mit nur zwei möglichen Spins abzubilden. Hab ich in meiner Studienarbeit im Studium gemacht. Leider hab ich nicht die Thermodynamik untersucht, sondern lediglich ganz grob ob man mit so einem Modell Sudokus lösen kann. Hach, das juckt in den Fingern die Programme mal wieder rauszukramen und mal versuchen, die Ergebnisse von dem Paper nachzukochen … 🙂

    Was ich zum Beispiel schön finde, ist die letzte Abb. hier. Ich hab damals das Modell unter Abkühlung simuliert, bis T = 0 und sich nichts mehr tat. Ich wusste nicht, dass es eine Temperatur gibt, bei der man sich mit einer hohen Wahrscheinlich im Ground State befindet. Sollte ich mal nachprüfen, ob das bei mir auch gilt.

  7. #7 MartinB
    26. Oktober 2012

    @Quacki
    Wie bildet man denn die 9 Zahlen auf 2 ab? Nimmt man dann ein größeres Gitter? Und wie funktioniert das mit der Lokalität – das Ising-Modell ist ja lokal, das Sudoku nichtlokal?

  8. #8 Rennkuh
    26. Oktober 2012

    Spannender Beitrag.
    Wusste nicht, dass ich mich während des Grundstudiums so aktiv mit thermodynamischen Phänomenen beschäftigt habe.

  9. #9 Quacki
    26. Oktober 2012

    Was heißt genau lokal? Dass die Spins in einem Gitter stecken, wo die Gitterpunkte einem Ort im Raum entsprechen und die Kopplung durch die Entfernung zwischen zwei Gitterpunkten festgelegt ist?

    Ich hätte das wohl gleich genauer sagen sollen: Ich hab ein Hopfield-Netz gebastelt, welches Sudokus lösen kann. Mit Neuronen die die Werte -1,+1 annehmen, entspricht das H-Netz einem Ising-Modell, nur dass die Kopplungen unabhängig von einem räumlichen Zusammenhang sind. Ich hab allerdings Neurone mit Werten 0,+1 verwendet, so dass es nicht mehr ganz äquivalent ist (+1 bedeutet, die zugehörige Zahl ist aktiv, 0 heißt die Zahl ist nicht aktiv.)
    Man nimmt ein größeres Gitter, bzw. einen 9x9x9-Würfel, wobei die letzte Dimension die zugehörige Zahl im Sudokufeld bezeichnet. Das führt dann dazu, dass auch zwei (und mehr) Zahlen pro Feld aktiv sein können, aber in der richtigen Lösung ist’s natürlich nur eine. Wie man so ein Netz (insbesondere die Kopplungen) basteln kann, steht im Großen und Ganzen in diesem Artikel, in Kapitel 11. (allerdings sind die keine diskreten Spins am Werk, sondern Neurone mit kontinuierlichem Wertebereich zwischen 0 und 1. Ist sozusagen eine Art Mittelung über das Ensemble.). Alles in Allem war das damals eine kleine Tüftelaufgabe, die mir ziemlich viel Spaß gemacht hat.

  10. #10 MartinB
    26. Oktober 2012

    @Quacki
    Mit “lokal” meine ich, dass es in einem Ising-Modell die berühmte “taxi-driver”-distanz gibt – Punkte an entgegengesetzten Ecken sind nur indirekt über viele Schritte aneinander gekoppelt. Im Sudoku sind ja – wie oben gesagt – alle Punkte maximal über einen Zwischenscrhitt gekoppelt.

    Auf das 9^3-Gitter wäre ich nicht gekommen.