Betreibt man das Sudoku bei niedriger Temperatur, dann fällt es schnell in so ein lokales Minimum und bleibt darin. Erhöht man die Temperatur, dann verbringt es immer noch viel Zeit innerhalb der Zustände mit kleiner Energie, kann aber zwischen diesen hin- und herwechseln. Bei solchen mittleren Temperaturen befindet sich das Sudoku deshalb auch oft um Zustand mit der kleinsten Energie, also im Zustand der korrekten Lösung.  Hier seht ihr, wie viel Zeit das System im Zustand der korrekten Lösung verbringt, wenn man unterschiedliche Temperaturen einstellt:

Aus Williams and Ackland, s.u.

Bei ganz niedrigen Temperaturen sind wir in einem fast richtigen Zustand gefangen (dass man tatsächlich die Lösung erwischt, ist sehr unwahrscheinlich), bei mittleren Temperaturen wechseln wir zwischen Zuständen mit niedriger Energie und sind deshalb auch oft im Lösungszustand, bei hohen Temperaturen findet man den Lösungszustand auch nahezu nie vor, weil die anderen falschen Zustände ja dann fast genauso wahrscheinlich sind.

Wenn ihr die Temperaturskala mit der im Bild oben vergleicht, dann seht ihr, dass der Phasenübergang, den wir oben bei der Wärmekapazität entdeckt haben, etwas oberhalb von der Temperatur stattfindet, bei der das Sudoku die maximale Zeit im Zustand der korrekten Lösung verbringt. Es gibt also drei Phasen: Die Hochtemperaturphase, in der sehr viele Fehler auftreten, die Phase bei mittlerer Temperatur, in der das Sudoku meist in einem lokalen Minimum ist, aber zwischen diesen Minima hin- und herwechseln kann, und dann die Niedrigtemperaturphase, bei der das System in einem lokalen Minimum eingefroren ist. Die drei Phasen werden – wegen unterschiedlicher Analogien zu anderen physikalischen Systemen – auch als “paramagnetische Phase”, “kondensierte (oder feste) Phase” und “Glasphase” bezeichnet.

Durch Variation der Temperatur kann man den Algorithmus übrigens auch tatsächlich zum Lösen von Sudokus verwenden. Das ist allerdings nicht besonders effizient – es gibt wesentlich bessere Möglichkeiten zum Lösen von Sudokus. An dem Bild seht ihr aber noch etwas anderes: Die unterschiedlichen Sudokus unterscheiden sich in der Zahl der vorgegebenen Hinweise (die Nummer in Klammern) und auch in ihrem Schwierigkeitsgrad – das ist jeweils die erste Zahl vor dem Strich. (Der Schwierigkeitsgrad wird dabei, wenn ich es richtig verstehe, darüber festgelegt, welche Schlussfolgerungstechnik man zum Lösen anwenden muss.) Ihr seht also, dass schwierige Sudokus auch als thermodynamische Systeme betrachtet weniger gern im Grundzustand sind als einfache – die Schwierigkeit für den Menschen korreliert zumindest einigermaßen mit dem thermodynamischen Verhalten.

Ist das alles denn auch zu irgendetwas gut? Ja, das ist es: Komplexe thermodynamische Systeme zu verstehen, ist nicht einfach. PhysikerInnen sind deshalb immer auf der Suche nach Modellsystemen, an denen sie ihre Ideen testen können. Das Sudoku-System ist einerseits erstaunlich einfach, zeigt aber mit seinen vielen lokalen Minima bei niedrigen Temperaturen und dem doppelten Phasenübergang ein ziemlich reichhaltiges Repertoire an thermodynamischen Phänomenen. Es ist also damit zu rechnen, dass das System in Zukunft noch weiter erforscht wird – und zusätzlich hat es den Vorteil, das Physik-DoktorandInnen in Zukunft immer behaupten können, dass sie Wissenschaft betreiben, wenn sie mit einem Sudoku-Heft erwischt werden.

                                                                

A Williams and G. J. Ackland
Paramagnetic and glass transitions in sudoku
PHYSICAL REVIEW E 86, 031109 (2012)

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Kommentare (10)

  1. #1 wereatheist
    24. Oktober 2012

    Beispielsweise unser Sudoku: Wir können uns vorstellen, dass jedes der 81 Felder einen der 9 möglichen Werte annehmen kann (die meisten Kombinationen geben aber natürlich kein korrekt gelöstes Sudoku, sondern Unsinn). Damit haben wir dann 81 hoch 9 mögliche Zustände, also immerhin etwa 150 Billiarden (1,5e17).

    Sorry, in diesem Fall gibt es 9^81 mögliche Zustände.

  2. #2 roel
    *****
    24. Oktober 2012

    @MartinB Wahnsinn, ich bin begeistert. Wofür doch Sudokus alles gut sind. Habe es aber erst einmal gelesen. Im Regelfall brauche ich deutlich öfter. Für das zweite Mal ist heute noch Zeit, aber dann ist für heute “wirklich Schluss”.

    Vielen Dank für das pdf.

  3. #3 MartinB
    25. Oktober 2012

    @wereatheist
    Autsch, wie konnte das passieren?
    Danke, hab’s korrigiert..

  4. #4 wereatheist
    partyzone friedrichshain
    25. Oktober 2012

    Shit happens, oder so 🙂
    Irgendwie hat mich das an Modelle für Ferromagnetismus erinnert (Ising-Modell). Lang ist´s her

  5. #5 MartinB
    25. Oktober 2012

    @wereatheist
    Ja, im paper wird auch explizit von Potts-Modellen (Ising-Modell mit mehreren Spin-Werten) gesprochen.
    Gibt im Netz auch einige nette Ising-Applets, z.B. bei javalab
    https://www.pha.jhu.edu/~javalab/ising/ising.html

  6. #6 Quacki
    26. Oktober 2012

    Es ist auch ohne weiteres möglich, ein Sudoku auf ein System mit Ising-Modell mit nur zwei möglichen Spins abzubilden. Hab ich in meiner Studienarbeit im Studium gemacht. Leider hab ich nicht die Thermodynamik untersucht, sondern lediglich ganz grob ob man mit so einem Modell Sudokus lösen kann. Hach, das juckt in den Fingern die Programme mal wieder rauszukramen und mal versuchen, die Ergebnisse von dem Paper nachzukochen … 🙂

    Was ich zum Beispiel schön finde, ist die letzte Abb. hier. Ich hab damals das Modell unter Abkühlung simuliert, bis T = 0 und sich nichts mehr tat. Ich wusste nicht, dass es eine Temperatur gibt, bei der man sich mit einer hohen Wahrscheinlich im Ground State befindet. Sollte ich mal nachprüfen, ob das bei mir auch gilt.

  7. #7 MartinB
    26. Oktober 2012

    @Quacki
    Wie bildet man denn die 9 Zahlen auf 2 ab? Nimmt man dann ein größeres Gitter? Und wie funktioniert das mit der Lokalität – das Ising-Modell ist ja lokal, das Sudoku nichtlokal?

  8. #8 Rennkuh
    26. Oktober 2012

    Spannender Beitrag.
    Wusste nicht, dass ich mich während des Grundstudiums so aktiv mit thermodynamischen Phänomenen beschäftigt habe.

  9. #9 Quacki
    26. Oktober 2012

    Was heißt genau lokal? Dass die Spins in einem Gitter stecken, wo die Gitterpunkte einem Ort im Raum entsprechen und die Kopplung durch die Entfernung zwischen zwei Gitterpunkten festgelegt ist?

    Ich hätte das wohl gleich genauer sagen sollen: Ich hab ein Hopfield-Netz gebastelt, welches Sudokus lösen kann. Mit Neuronen die die Werte -1,+1 annehmen, entspricht das H-Netz einem Ising-Modell, nur dass die Kopplungen unabhängig von einem räumlichen Zusammenhang sind. Ich hab allerdings Neurone mit Werten 0,+1 verwendet, so dass es nicht mehr ganz äquivalent ist (+1 bedeutet, die zugehörige Zahl ist aktiv, 0 heißt die Zahl ist nicht aktiv.)
    Man nimmt ein größeres Gitter, bzw. einen 9x9x9-Würfel, wobei die letzte Dimension die zugehörige Zahl im Sudokufeld bezeichnet. Das führt dann dazu, dass auch zwei (und mehr) Zahlen pro Feld aktiv sein können, aber in der richtigen Lösung ist’s natürlich nur eine. Wie man so ein Netz (insbesondere die Kopplungen) basteln kann, steht im Großen und Ganzen in diesem Artikel, in Kapitel 11. (allerdings sind die keine diskreten Spins am Werk, sondern Neurone mit kontinuierlichem Wertebereich zwischen 0 und 1. Ist sozusagen eine Art Mittelung über das Ensemble.). Alles in Allem war das damals eine kleine Tüftelaufgabe, die mir ziemlich viel Spaß gemacht hat.

  10. #10 MartinB
    26. Oktober 2012

    @Quacki
    Mit “lokal” meine ich, dass es in einem Ising-Modell die berühmte “taxi-driver”-distanz gibt – Punkte an entgegengesetzten Ecken sind nur indirekt über viele Schritte aneinander gekoppelt. Im Sudoku sind ja – wie oben gesagt – alle Punkte maximal über einen Zwischenscrhitt gekoppelt.

    Auf das 9^3-Gitter wäre ich nicht gekommen.