Wissenschaft kann Angst auslösen, weil sie uns Antworten auf die Grundfragen des Lebens liefert, die uns nicht unbedingt gefallen. Heute beschäftigen wir uns mit der zweiten Kantschen Frage.
Sie lautet:
Was soll ich tun?
Die Wissenschaft hat dazu so etwa folgendes zu sagen:
Evolutionär sind wir auf ein Zusammenleben in der Gruppe programmiert, aber auch darauf, andere übertrumpfen und beispielsweise einen hohen Platz in der Rangordnung unserer Gruppe einnehmen zu wollen. Die Wissenschaft kann die Frage untersuchen, wie genau diese Programmierung funktioniert und warum ein bestimmtes Verhalten evolutionär vorteilhaft ist.
Eine Antwort auf ethische Fragen (was soll ich in einer bestimmten Situation tun, um “richtig” zu handeln) liefert die Wissenschaft aber nicht, ethische Fragen liegen letztlich außerhalb der Wissenschaft. Allenfalls kann Wissenschaft die Frage beantworten, wie ein bestimmtes ethisches Ziel erreicht werden kann.
Diese Antwort auf die zweite Kantsche Frage sorgt zunächst für die Angst, an die man wohl zuerst denkt, wenn von “Angst vor der Wissenschaft” die Rede ist. Die Wissenschaft ist ein mächtiges Werkzeug, das selbst keine ethischen Normen oder Kontrollen enthält. Dieser Gedanke kann sicherlich Angst machen. Es führt zum Zerrbild des Wissenschaftlers, dem es egal ist, ob er mit seiner Forschung die Welt zerstört. Das ist natürlich deswegen nur ein Zerrbild, das weit von der Realität entfernt ist, weil Wissenschaftler auch Menschen sind und auch auf der Welt leben und leben wollen. (Angeblich soll es sogar Wissenschaftler geben, die Freunde oder eine Familie haben und für diese ganz unwissenschaftliche Gefühle hegen…)
Das Bild des skrupellosen Wissenschaftlers wird oft der verzerrten Darstellung in Medien zugeordnet, aber seinen Ursprung hat es auch in der grundsätzlichen Tatsache, dass die Wissenschaft selbst zwar nicht un-ethisch, wohl aber a-ethisch ist – Wissenschaft und Ethik sind sozusagen orthogonal.
Etwas ähnliches gilt natürlich für alle Werkzeuge, die wir Menschen erfunden haben – es liegt ja gerade in der Natur des Werkzeugs, ein Mittel zu einem Zweck zu sein, also selbst keinen Zweck zu haben (und deswegen auch außerhalb der Ethik zu stehen). Ein Messer kann ich zum Schneiden von Gemüse oder zum Töten von Menschen verwenden; ein Gewehr kann ich zum Morden verwenden oder um einen skrupellosen Angreifer abzuwehren; ein Literat kann seine Fähigkeit im Umgang mit der Sprache einsetzen, um Hassreden zu formulieren oder zu Versöhnung aufzurufen.
Und genauso wie ein Messer oder ein Gewehr Angst machen kann, weil es eben missbraucht werden kann, genauso gilt das auch für die Wissenschaft. (Und historisch in ähnlicher Weise für die Rhetorik – da gab es den Streit zwischen den “Sophisten”, denen genau so etwas vorgeworfen wurde, und anderen Philosophen wie Platon; mehr dazu im Buch “Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten”.) Natürlich macht ein Werkzeug um so mehr Angst, je mächtiger es ist (das Messer in meiner Küchenschublade beunruhigt euch vermutlich nicht, der Weltzerstörinator, den ich im Keller baue, dagegen – äh, vergesst es einfach…), und da die Wissenschaft sich als sehr mächtiges Werkzeug herausgestellt hat, macht sie auch entsprechend viel Angst.
Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir natürlich mehr Angst vor Dingen haben, die wir nicht verstehen – für Außenstehende ist schwer nachvollziehbar, wie groß die Gefahr durch z.B. Radioaktivität tatsächlich ist, sie müssen sich also auf die Äußerungen der Wissenschaftlern verlassen. Und denen wird nicht unbedingt vertraut, denn Wissenschaftler sind Menschen , die auch fehlbar und egoistisch sind und ihre Erkenntnisse nicht immer zum Wohl aller einsetzen oder die die Anwendung ihrer Erkenntnisse nicht mehr selbst kontrollieren können – ich kann eine Motorsäge erfinden, aber nicht darüber bestimmen, ob diese Säge eingesetzt werden soll, um Bäume im Regenwald zu fällen.
Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat uns sicherlich sehr weit gebracht – wir leben länger, sicherer und komfortabler als unsere Vorfahren, aber natürlich hat sie auch ihre Schattenseiten (und Kritiker der Wissenschaft sehen natürlich vor allem diese Schattenseiten, oft ohne zu realisieren, wie sehr sie von den positiven Auswirkungen der Wissenschaft profitieren).
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