Die Antwort der Wissenschaft auf die zweite Kantsche Frage löst aber noch aus einem weiteren Grund Angst aus: Wenn es keine objektive (=wissenschaftlich begründbare) Ethik gibt – macht sich dann nicht jeder seine Ethik selbst? Das ist ja etwas, das Atheisten gern vorgeworfen wird. Das macht uns letztlich unmöglich, jemandem, der sich im Recht fühlt, wenn er Menschen quält oder tötet (denkt an Breyvik), argumentativ beizukommen. (Wer glaubt, dass das geht, sollte mal wieder Jack Londons “Seewolf” aus dem Bücherschrank kramen.) Dabei verletzt dieser Gedanke auch unser Gerechtigkeitsempfinden – wenn es keinen universellen Richter und keinen Schicksalsplan oder so etwas gibt, dann ist es eben durchaus möglich und denkbar, dass ein Verbrecher mit seinen Untaten durchkommt und niemals bestraft wird, während ein tugendhafter Unschuldiger leiden muss, ohne jemals dafür belohnt zu werden. Soll ich dann wirklich “gut” handeln, auch wenn es mir nichts nützt oder gar schadet?
Beruhigender (und einfacher) ist es, sich auf fest vorgefertigte, eindeutige und absolute Antworten zu verlassen. Wer das tut, handelt in der Gewissheit, das Richtige zu tun, und hat damit ethische Fragen ein für alle mal beantwortet. Leider wissen wir alle, dass genau diese Denkweise (egal ob die vorgefertigten Antworten ideologisch oder religiös basiert sind) zu Gräueltaten und dem Verlust von Empathie führen kann.
Alternativ kann man der Anforderung, sich ethischen Fragen zu stellen, auch mit dem “Esoterik”-Trick ausweichen: Wenn sowieso im esoterischen Sinne alles eins ist, dann ist deine Geldbörse ja auch irgendwie meine Geldbörse und dein Partner ja auch irgendwie meiner. (Dass es tatsächlich Leute gibt, die so denken, erzählt Brad Warner in seinem – in weiten Strecken allerdings enttäuschenden – Buch “Zen wrapped in Karma dipped in Cholcolate”).
Auch hier zeigt sich, dass die Antwort der Wissenschaft uns in Unsicherheit stürzt, ähnlich wie bei der Antwort auf die erste Frage. Wenn es keine absolute Ethik gibt, dann müssen wir ethische Fragen immer wieder neu stellen, beantworten und unsere alten Antworten überprüfen, genau so wie wir unsere Erkenntnisse über die Welt immer wieder neu prüfen müssen. Das bürdet jedem einzelnen von uns eine Verantwortung auf, die einen ängstigen kann
Aber ebenso, wie man die Ungewissheit des Wissens und die Unzuverlässlichkeit unserer Erkenntnis positiv deuten kann, kann man das auch hier tun. Viele finden es befriedigend, dass man nicht einer “höheren” Macht ausgeliefert ist, die einem sagt, dass man montags keine Paprika essen soll (oder was auch immer es für absurde Nahrungsregeln gibt – vermutlich vor allem, weil man ja täglich was essen muss und deswegen auch ständig an die religiösen Regeln denkt und ein Gehorchen schon mal verinnerlicht, aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte). Wenn Maßstäbe nicht absolut sind, dann können wir sie in Einzelfällen anpassen und flexibel auf geänderte Bedingungen reagieren. Niemand muss dann leiden oder sterben, weil irgendjemand vor langer Zeit Regeln festgelegt hat, die heutzutage nicht mehr ohne weiteres anwendbar sind. Wir haben die Freiheit, so mitmenschlich und mitleidvoll zu handeln, wie wir es selbst wollen.
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