Manchmal sehen wir Menschen, das, was wir zu sehen erwarten. Das trifft auch auf Wissenschaftlerinnen zu. Und manchmal dauert es über 100 Jahre, bis jemand die Augen öffnet und das sieht, was wirklich da ist. Ein schönes Beispiel dafür liefert eine neue Untersuchung des Urvogels Archaeopteryx.
Archaeopteryx lebte im oberen Jura, vor etwa 145 Millionen Jahren. Sein Lebensraum waren die Inseln, die es damals im Bereich des heutigen Bayern gab. So etwa hat mensch ihn sich bisher vorgestellt:
Von Ballista, CC BY-SA 3.0, Link
In vieler Hinsicht ist Archaeopteryx sehr urtümlich, mit einem langen, knöchernen Schwanz (hier im Bild nicht zu sehen) und Zähnen statt einem Schnabel. Auch seine Hände sehen mit ihren langen Klauen nicht sehr vogelartig aus. Die Federn des Archaeopteryx aber sehen denen eines heutigen Vogels sehr ähnlich, wie auch ein Blick auf das hervorragend erhaltene “Berliner Exemplar” zeigt:
Von H. Raab (User: Vesta) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link
Auf diesem Bild der Gegenplatte sieht mensch die langen Flugfedern (oder auch Schwungfedern) – um die geht es heute:
Aus Longrich et al, s.u.
Diese Federn sind lang und liegen frei, so wie mensch es von heutigen Vögeln kennt. Deswegen sieht auch der rekonstruierte Archaeopteryx oben von seinen Flügeln her ganz “modern” aus.
Ein genauerer Blick zeigt aber etwas seltsames:
Aus Longrich et al, s.u.
Die weißen Pfeile markieren Abdrücke von Federschäften zwischen den eigentlichen Schwungfedern. Diese Abdrücke hat mensch schon früher gesehen und sie so gedeutet, dass hier weitere Schwungfedern lagen, die von den gut sichtbaren großen Federn verdeckt wurden und sich etwas verschoben haben. Das Problem mit dieser Deutung ist jedoch, dass sich zum einen alle Federn genau um den gleichen Betrag verschieben müssten, um dieses Bild hervorzurufen, und zwar auch an beiden Flügeln, denn der andere Flügel zeigt ein ähnliches Bild. Es müsste also irgendwie jede zweite Schwungfeder nach hinten verschoben worden sein. Das klingt schon etwas weit hergeholt – in trockener Wissenschaftsprosa liest sich das dann so:
No taphonomic mechanism is known that could produce such a pattern.
[Kein bekannter Erhaltungsprozess kann so eine Anordnung erzeugen.]
Außerdem müssten diese Schwungfedern alle kürzer sein als die deutlich sichtbaren, sonst würden ihre Enden zwischen den Enden der anderen Federn unten herausgucken.
Ist es nicht wesentlich plausibler anzunehmen, dass wir genau das sehen, was auch tatsächlich da war? Nämlich mehrere Lagen von Federn mit unterschiedlicher Länge? Heutige Vögel haben so etwas nicht, und das dürfte auch der Grund sein, warum mensch diese Möglichkeit bisher nicht wirklich in Betracht gezogen hat – mensch sieht eben das, was mensch zu sehen erwartet, in diesem Fall einen “modernen” Vogelflügel.Bei heutigen Vögeln werden die Schwungfedern nur direkt an ihrer Basis von anderen Federn überdeckt, aber die neue Interpretation des Archaeopteryx zeigt etwas anderes:
Aus Longrich et al, s.u.
Das, was mensch bisher für halb verdeckte Schwungfedern gehalten hat, waren stattdessen Deckfedern (cov), die einen großen Teil der Schwungfedern überdeckten. Nicholas Longrich, der diese Untersuchung geleitet hat, war zunächst skeptisch, ob seine Interpretation wirklich richtig war. War es vielleicht doch nur ein seltsamer Zufall?
Doch dann zeigte sich, dass auch ein anderer gefiederter Dinosaurier seltsame Flügel hatte: Anchiornis lebte etwa vor 155 Millionen Jahren und war demnach noch etwas älter als Archaeopteryx. Hier eine Rekonstruktion (die die neuen Erkenntnisse nicht berücksichtigt):
By Nobu Tamura (https://spinops.blogspot.com) – Own work, CC BY 3.0, Link
Auch die Flügel von Anchiornis haben sich die Forscherinnen etwas genauer angeguckt. Und siehe da, auch hier sehen die Flügel deutlich anders aus als bei heutigen Vögeln:
Aus Longrich et al, s.u.
Hier waren die Flugfedern sogar noch stärker überlappend angeordnet als beim Archaeopteryx. Beide Fossilien zusammen zeigen also ziemlich deutlich, dass die Flügel der Urvögel wohl tatsächlich nicht aussahen wie die moderner Vögel. So etwa darf mensch sich nach dem neuen Bild die Evolution des Vogelflügels vorstellen (wobei nicht ganz klar ist, wo genau Archeopteryx nun im Vogelstammbaum angesiedelt ist):
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